| # taz.de -- Erinnerungen an die Arbeiterkindheit: Männer, an denen ich vorbeil… | |
| > Die Männer, die morgens vor dem Bäcker stehen, erinnern mich an Kollegen | |
| > meines Vaters. Warum traue ich mich nicht mehr, mich einfach | |
| > dazuzustellen? | |
| Bild: Irgendwann werde ich auch so wie die, habe ich gedacht | |
| Wenn ich morgens meine Wohnung verlasse, weil ich in die Redaktion möchte, | |
| dann laufe ich an einem kleinen Bäcker in meiner Straße vorbei, vor dem | |
| Männer im mittleren Alter stehen und sich unterhalten. Manche tragen einen | |
| Blaumann oder andere Arbeitskleidung mit weißen Farbflecken. Die meisten | |
| haben einen Schnurrbart. Alle halten papierne Kaffeebecher in der Hand. | |
| Beim Vorbeigehen schnappe ich mal Wortfetzen, mal ganze Sätze auf. Sie | |
| sprechen in anatolischtürkischdeutschem Jargon über Bekannte („Memo hat ein | |
| neues Auto gekauft …“), ihren Kiez („Diese Baustelle da hinten …“), F… | |
| („Die haben gut gespielt …“), Arbeit („Ahmet bedient die Maschine falsch | |
| …“), Politik („Hast du gehört, was Macron gesagt hat? …“). | |
| Immer wenn ich an ihnen vorbeilaufe, verspüre ich den Impuls, mich einfach | |
| dazuzustellen. Die Männer erinnern mich an meinen Vater und an seine | |
| Arbeitskollegen, die ich [1][als Kind] im türkischen Teehaus getroffen habe | |
| oder im Moscheeverein, wenn mal wieder ein Istanbul-Derby ausgetragen | |
| wurde. Ich saß zwischen ihnen, einer von ihnen schenkte mir Tee ein, ein | |
| anderer servierte mir einen Toast mit Sucuk, der türkischen Knoblauchwurst. | |
| Sie amüsierten sich über meine Ernsthaftigkeit beim Fußballschauen, aber | |
| sie trösteten mich auch, wenn Beşiktaş in den schwarz-weißen Trikots das | |
| große Derby mal wieder verloren hatte. | |
| Später, als Teenager, traf ich sie in Wettbüros und Spielhallen – auch | |
| Treffpunkte migrantischer Arbeiter. In den dunklen Räumen hingen große | |
| Flachbildfernseher an den Wänden, auf denen mehrere Fußballspiele | |
| gleichzeitig liefen und Wettquoten laufend aktualisiert wurden. Die | |
| Kollegen meines Vaters fragten mich hier, wer wohl dieses und jenes Spiel | |
| gewinnen würde, sie verwickelten mich in endlose Fußballdiskussionen. Einer | |
| von ihnen gab mir immer [2][eine Cola] aus. Als Kind und auch als | |
| Jugendlicher habe ich viel Zeit mit meinem Vater und seinen Kollegen | |
| verbracht. Irgendwann werde ich auch so wie die, habe ich gedacht, obwohl | |
| ich schon wusste, dass ich anders werden muss. | |
| ## Die Illusion, dass ich dazugehöre | |
| Heute stehen Männer wie sie frühmorgens vor dem Bäcker in meiner Straße und | |
| ich laufe an ihnen vorbei. Und ich traue mich nicht, mich einfach | |
| dazuzustellen. Vielleicht weil ich die Illusion nicht gefährden möchte, | |
| dass ich dazugehöre. Vielleicht brauche ich diese Illusion, weil ich | |
| fürchte, nie richtig in der anderen Welt anzukommen, in der ich mich heute | |
| bewege. | |
| Vielleicht denke ich zu viel darüber nach, während sich die Männer bestimmt | |
| nichts denken würden, würde ich mich zu ihnen stellen. Als mein Vater mich | |
| einmal besucht hat, ging er am ersten Morgen Brötchen besorgen. Auf meiner | |
| Straße lernte er alle möglichen Menschen kennen. Er stellte sich einfach | |
| dazu. Abends erzählte er mir dann, dass dieser eine Bäcker da besser sei | |
| als der andere um die Ecke. Der gute Bäcker, das ist der, vor dem die | |
| Männer stehen, die mich an ihn erinnern. | |
| 29 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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