# taz.de -- Besser leben durch Verzicht: Wer wenig hat, hat meistens mehr | |
> Einmal im Monat trifft sich eine Gruppe Minimalist*innen zum | |
> Stammtisch. Wie man sich von Dingen trennt, ist dabei keineswegs das | |
> einzige Thema. | |
Bild: Frage an MinimalistInnen: Was braucht man noch? | |
BERLIN taz | Weniger ist mehr – so der Leitsatz des | |
[1][Minimalismus-Stammtischs], der einmal im Monat im Kiezcafé | |
„Zusammenhalt“ im Prenzlauer Berg stattfindet. Zum „harten“ Kern von ru… | |
15 Leuten gehört ein größerer Dunstkreis – heute sind neun | |
Minimalist*innen gekommen. | |
Was Minimalismus genau bedeutet, das ist für die drei Leute aus dem | |
„Kernteam“, die der taz Rede und Antwort stehen, so verschieden wie der | |
persönliche Hintergrund. Da ist Martin Badenhoop (38), der sich nicht nur | |
durch den Rauschebart als Philosoph zu erkennen gibt – er kleidet sich | |
komplett schwarz, seine Gedanken notiert er mit hochwertigem Kugelschreiber | |
in ein ebenso schwarzes Heftchen. Corinna Rose (39) wird als | |
professioneller Aufräum-Coach den heutigen Impulsvortrag zum Thema | |
„Ausmisten & Loslassen nach Marie Kondo“ halten. Katharina O., die weder | |
mit Nachnamen noch mit Bild veröffentlicht werden will, ist mit fast 60 | |
Jahren die Älteste in der Runde und als freischaffende Künstlerin tätig. | |
Einig sind sich alle drei, dass Minimalismus mehr meint als die bloße | |
Reduzierung von Dingen. „Es ist eine Lebenshaltung“, sagt Corinna Rose. Es | |
gehe darum, genau zu definieren, wie man leben möchte, und sein Leben | |
danach auszurichten. Rose: „Das ist für jeden anders, und das ist auch | |
richtig so.“ Für Badenhoop bedeutet Minimalismus eine „politische Praxis�… | |
Als Gymnasiallehrer betreibe er „Bewusstseinsarbeit“, indem er | |
philosophische Ideen der Selbstgenügsamkeit etwa von Diogenes von Sinope | |
verbreite. | |
Der antike Philosoph ist nur eines der Beispiele, die herangezogen werden: | |
Auch bei Thoreaus „Walden“, den Stars aus dem Netflixfilm „The minimalist… | |
oder dem Lebenskünstler Joachim Klöckner gehe es darum, sich auf das | |
Wesentliche zu konzentrieren, sagt Corinna Rose bei ihrem Schnelldurchlauf | |
durch die Ideengeschichte des Minimalismus. | |
Wie viele Minimalist*innen beschreibt Rose ihren persönlichen Weg zum | |
Minimalismus als Erweckungsreise. Sie nahm ihren Ausgang, als sie vor rund | |
zehn Jahren ihren Vater verlor und sie ihrer Mutter dabei half, aus einer | |
Fünfzimmerwohnung in eine Einzimmerwohnung zu ziehen und dabei auszumisten. | |
„Da kam alles in Gang: Was bleibt denn noch vom Leben? Welche Dinge | |
bleiben? Sind Dinge überhaupt wichtig?“ Für Rose offenbar nicht, heute lebt | |
sie mit ihrem Mann um viele Dinge reduziert in einer kleinen Wohnung. Neu | |
angeschafft wird nur selten etwas, „und wenn, dann nur, wenn ich | |
100-prozentig sicher bin“. | |
## Vieles im Leben infrage stellen | |
Ihre Arbeit als Bibliothekarin hat Rose an den Nagel gehängt, um sich ihrem | |
„Herzensthema“ auch beruflich zu widmen. Die Bestsellerautorin Marie Kondo, | |
bei der die Aufräum-Coach gelernt hat, sei zwar keine Minimalistin. Sich | |
nach Kondos Technik zu fragen, ob einem die Dinge Freude bereiteten oder | |
nicht, führe aber bei den meisten Klienten dazu, dass sie sich von | |
Überflüssigem trennten. Über das Ordnen der Dinge werde zudem noch mehr | |
angestoßen: „Wenn man sich einmal über seine Dinge bewusst geworden ist, | |
stellt man oft auch vieles andere im Leben infrage“, so Rose. | |
„Es geht um Bewusstheit“, das findet auch Katharina O. Sie hat sich schon | |
für Minimalismus interessiert, als der gar nicht so hieß, in den 90er | |
Jahren, als Karen Kingstons Bestseller „Feng Shui gegen das Gerümpel des | |
Alltags“ erschien. Damals habe sie jedoch nicht die Zeit gehabt, sich | |
intensiver mit der Materie auseinanderzusetzen. „Ich war alleinerziehende | |
Mutter, hab ums Geld kämpfen und eine Menge persönlicher Krisen bewältigen | |
müssen.“ | |
Mit verwandten Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz, aber auch | |
Frugalismus oder das Konzept des „Financial Independence Retire Early“ sei | |
sie erst durch diesen Stammtisch in Kontakt gekommen. Damit kann sie sich | |
nun, wo sich ihre „Lebensumstände etwas beruhigt haben“, endlich | |
beschäftigen. Katharina O.: „Am Anfang hat mir das auch zu schaffen | |
gemacht, dass ich hier die Älteste bin und gar nichts weiß von diesen | |
Themen“, erzählt sie. „Aber jedes Mal bin ich bereichert nach Hause | |
gegangen.“ | |
Ist Minimalismus also vor allem was für Leute, die ihn sich leisten können? | |
Dafür könnte sprechen, dass sich die sechs deutschen | |
Minimalismus-Stammtische alle in Großstädten befinden, also dort, wo es | |
eine Boheme gibt, die viel Wert auf die individuelle Ausgestaltung des | |
eigenen Lebens legt und bereit ist, einen entsprechenden Preis dafür zu | |
zahlen. Denn es braucht Zeit, sich über minimalistische Alltagstechniken zu | |
informieren. Sachen wollen regelmäßig aussortiert oder repariert, nötige | |
fehlende Dinge ausgeliehen, getauscht, selbst hergestellt oder anderweitig | |
beschafft werden. Neben Zeit und einem Netzwerk spielt hier natürlich auch | |
Geld eine Rolle, ein Ding soll von Qualität sein, damit es lange hält. | |
„Aber Minimalismus hilft doch gerade, Zeit und Geld zu sparen“, entgegnet | |
Rose. Um einen Lifestyle-Minimalismus, der sich in wenigen, aber | |
hochpreisigen Designobjekten ausdrückt, gehe es bei dem Stammtisch ganz und | |
gar nicht. Rose: „Wenn ich weniger Sachen habe, kann ich in einer kleineren | |
Wohnung leben und spare Miete. Und dann kann ich mir auch teurere Sachen | |
leisten.“ | |
Für eine Besucherin des Stammtischs, Maike S., ist Minimalismus eine | |
Konsequenz, die sich aus ihrem unbetuchten Leben ergibt: „Wegen einer | |
chronischen Krankheit bin ich früh berentet worden und muss mit wenig Geld | |
auskommen. Ich lebe in einer Einzimmerwohnung – wenn ich zu viele Sachen | |
hätte, sähe das unordentlich aus.“ | |
## Alles außer der Schallplattensammlung | |
So oder so: Mit Dogmen wollen die Berliner Minimalist*innen nichts am | |
Hut haben. „Zahlen sind eine Sünde“, sagt Badenhoop. Niemand schreibe vor, | |
wie viele Dinge man besitzen dürfe und welche. „Ich selbst besitze eine | |
Sammlung an Minimalismus-Büchern“, fügt er lachend hinzu. Zudem meint | |
Badenhoop, dass auch eine zeitlich begrenzte Periode einen großen Effekt | |
auf das Bewusstsein haben könne: Er selbst lebe jedes Jahr fünf Wochen lang | |
mit nur sehr wenig Dingen in einem kleinen Auto. | |
Jede*r solle nach seinen Möglichkeiten handeln, findet auch Katharina O. | |
„Im Bioladen einkaufen kann ich mir nicht leisten, aber ich kann versuchen, | |
beim Lidl die Plastikverpackungen wegzulassen.“ | |
Ob Minimalismus zu einem glücklichen Leben verhilft, wie die Protagonisten | |
glauben, sei dahingestellt. In jedem Fall scheint Minimalismus dazu zu | |
taugen, sich und sein Leben neu zu erfinden. Badenhoop: „Ich habe 2002 alle | |
Sachen weggegeben außer meiner Schallplattensammlung. Das ist schon | |
interessant, wie man sich dadurch verändert. Auf einmal war da eine neue | |
Geschichte und vielleicht auch eine neue Identität.“ | |
11 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.minimalismus-stammtisch.de/category/berlin/ | |
## AUTOREN | |
Karlotta Ehrenberg | |
## TAGS | |
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