# taz.de -- Minimalismus: Kann das nicht alles weg? | |
> Zungentattoo, Krawatte, Kindermütze: Unsere Kolumnistin wirft nicht gerne | |
> weg, auf Minimalismus hat sie keine Lust. Jetzt übt sie das Wegwerfen. | |
Bild: Tipp zum Ausmisten: alle Kleiderbügel einmal umzudrehen. Erst nachdem ei… | |
Ich liege im Bett und gucke auf gelbe Plastiksäcke. Darin eingesperrt meine | |
Wollpullover, Socken, Schals und die Hoffnung, dass sich die Motten nicht | |
weiter durch meinen Kleiderschrank fressen. | |
Kreativität braucht ein bisschen Chaos, rechtfertige ich meine | |
vollgestopfte Kommode vor mir selbst. Das eingelaufene Top kann noch ein | |
Stirnband werden und Clean Chic ist eh etwas für Uninspirierte. Die ollen | |
Leggings und verwaschenen Shirts? Brauche ich für die nächste | |
Streichaktion. Auch wenn das erst in zwei Jahren sein wird, ich bin | |
gewappnet. | |
Bei dem Blick auf die Müllsäcke frage ich mich aber, [1][ob mein Argwohn | |
gegenüber Minimalist:innen übertrieben ist.] Hätte ich weniger | |
Klamotten und mehr Überblick, hätte sich die Motten womöglich nicht so wohl | |
gefühlt. | |
Ich scrolle durch Instagram und suche nach Tipps zum Ausmisten für | |
Anfängerinnen. Eine Frau rät, alle Kleiderbügel einmal umzudrehen. Erst | |
nachdem ein Kleidungsstück getragen wurde, dreht man den Bügel zurück. So | |
erkennt man, welche Teile man nach einem Jahr immer noch nicht anhatte und | |
kann sie weggeben. Ich will mutiger sein, als das Ausmisten auf nächstes | |
Jahr zu vertagen, und lande bei der nächsten Influencerin. Sie rät, sich | |
jeden Tag von einer Sache zu trennen. Keine stundenlange Ausmistaktion, | |
kein großer Abschiedsschmerz. Also los. | |
Im Flur laufe ich an einer Packung Zungentattoos vorbei, kleine runde | |
Esspapierblättchen mit Fledermäusen und Haien drauf, die auf der Zunge ein | |
Bild hinterlassen. Ich habe sie mal auf einer Party rausgeholt, wie bei | |
einem Kindergeburtstag wollten sie alle probieren. Dann zeigten wir uns | |
unsere Zungen. Der Abschied von den bunten Blättchen fällt mir schwer. | |
Minimalismus verbinde ich mit akribisch aufgereihten Bleistiften, mit | |
sterilweißen Zimmern, [2][in denen zwar nur eine Matratze liegt, aber ja so | |
viel Raum zum Denken ist], und mit esoterischen Sprüchen wie: „Das Glück | |
liegt ins uns, nicht in den Dingen.“ Klar, aber hat der Gründer des | |
Buddhismus und Zitatgeber schon mal einen kleinen Hai auf seine Zunge | |
geklebt? Für mich sind es die kleinen Dinge im Leben. | |
Am nächsten Tag wage ich einen Blick in die oberste Schublade meines | |
Schranks, die einer Schatzkiste ähnelt: eine gemusterte Krawatte (wollte | |
ich als Gürtel umfunktionieren), drei Tenniscaps (sehr unpraktisch, weil | |
sie oben offen sind und der Kopf trotzdem verbrennt), eine Postbotenmütze | |
für Babys (ein Flohmarktfund für das erste Baby im Freundeskreis, das nicht | |
wirklich in Sichtweite ist). Es ist erst Tag zwei und diese fünf Dinge | |
müssen gehen, wenn ich das Ausmisten ein bisschen ernst nehmen will. | |
Im Wandschrank finde ich die bollerige Schüssel aus dem Töpferkurs. Das | |
Ding ist so unförmig, es taugt nicht mal als selbstgemachtes | |
Notfallgeschenk. Weg damit. Dann halte ich eine schwarze Bluse mit roten | |
Stickmustern in den Händen. Boho-Style von 2014, schätze ich. Weil ja alles | |
irgendwann wiederkommt, habe ich die Bluse behalten. Jetzt erinnert sie | |
mich [3][an die Tradwives, die auf Social Media für ein konservatives | |
Frauenbild werben und ihren Ehemännern Kuchen mit selbstgeschlagener Butter | |
backen]. Dank dieser Assoziation kann ich die Bluse problemlos weggeben. | |
An Tag fünf trifft mich eine Erkenntnis, als ich die Besteckschublade | |
öffne. Ich finde einen Flaschenöffner wieder, der singt: „Berlin, du bist | |
so wunderbar, Berlin“. Vielleicht habe ich gar nicht so viel Zeug, weil ich | |
kreativ bin. Vielleicht stehe ich nur auf Kitsch. | |
2 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Fichtner | |
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