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# taz.de -- Minimalismus im Alltag: Was brauchen wir wirklich?
> Entrümpeln? Das Leben vom Ballast befreien? Selbstbeschränkung liegt voll
> im Trend. Das Geschäft mit Ratgebern und Coaches boomt.
Bild: Minimalismus heißt, sich vom Ballast zu befreien.
Berlin taz | „Je voller man sich die Bude stellt, immer leerer der Raum
drin, wenn man sich unterhält,“ so rappte Casper in seinem Song „20qm“ im
Herbst 2013. Im November 2015 legten Silbermond mit ihrem Album „Leichtes
Gepäck“ nach: „Eines Tages fällt dir auf, dass du 99% nicht brauchst. Du
nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg.“ Zu hinterfragen, was man
wirklich braucht im Leben, ist nicht nur eine Idee, die in der Musikbranche
thematisiert wird.
Was macht mich glücklich? Was brauche ich? Was belastet nur unnötig? Was
bereichert mein Leben? Eine Vielzahl von Ratgebern, Filmen, YouTube-Videos,
Minimalismus-Coaches und Blogs bieten Hilfe an. Interessierte und KundInnen
hoffen, dass weniger Eigentum gleichzeitig auch mehr Glück bedeutet. Prof.
Dr. Sascha Friesike von der Universität Würzburg beschäftigt sich mit
Minimalismus, den er als die „gesellschaftliche Resonanz auf das
Überangebot“ bezeichnet.
Als Folge des riesigen Produktangebots wollen immer mehr Menschen ihren
Alltag und ihr Leben im Ganzen vereinfachen. „Die Leute sind auf der Suche
nach Glück und Zufriedenheit. Sie arbeiten viel, kaufen eine Menge Dinge
und werden trotzdem nicht glücklich. Dann gibt es eine scheinbar neue Idee:
Einfach weniger besitzen“, sagt Friesike. So wird die Lebensart, die
beispielswiese Mönche bereits seit Jahrhunderten führen, plötzlich zum
neuen Lifestyle. Und wenn eine große Nachfrage besteht, kommen natürlich
auch Produkte auf den Markt.
Minimalismus hat viele Facetten. Der Liftstyle dreht sich nicht nur darum,
weniger Gegenstände zu besitzen, sondern sich von belastenden Beziehungen
zu lösen, den verhassten Job aufzugeben und unnötige Aufgaben zu streichen.
Sich vom Ballast lösen, ist die umfassendste Bezeichnung. Wie der
Minimalismus genau angewandt wird, kann jeder Mensch für sich selber
festlegen und entscheiden, was er oder sie zum Leben braucht und glücklich
macht.
## Alles wird in Kisten gepackt
Während in früheren Generationen der materielle Besitz wie Auto und Haus
sehr wichtig waren, definieren sich viele junge Menschen heute darüber, was
sie nicht besitzen. „Selbstbeschränkung ist die gesellschaftliche Antwort
auf den Überfluss“, sagt Friesike. KonsumverweigererInnen sind sie nach
seiner Auffassung jedoch nicht, da sie ihr Geld für Reisen, Restaurants und
digitale Inhalte ausgeben.
Der Finne Petri Luukkainen wurde verlassen und versuchte seinen
Trennungsschmerz mit Konsum zu mildern. Das half ihm nicht - die
Besitztümer belasteten ihn. In einem Selbstversuch dokumentierte er in
einem Film, wie er seinen gesamten Besitz von der Zahnbürste über die
Plattensammlung bis zum Kühlschrank in eine Garage in Helsinki einschloss.
Ein Jahr lang durfte der 26-Jährige jeden Tag nur einen einzigen Gegenstand
herausnehmen. Er wog ab, was er am Dringensten benötigte. Neukäufe waren
tabu. Mit jedem Teil, das wieder in seiner Wohnung landete, prüfte er, was
er von seinem Besitz wirklich brauchte. Am Ende war es zwar eine neue
Liebe, die Luukkainens Leben zum Guten änderte, dennoch brachte sein
[1][Film My Stuff] den Minimalismusgedanken 2013 weltweit in die Kinos.
Auch Joachim Klöckner ist Minimalist. Das Wort kennt der 66-jährige erst
seit zwei bis drei Jahren, obwohl er seit 30 Jahren mit immer weniger
Dingen lebe und seit 15 Jahren nur noch soviel besitze, wie in eine Tasche
passe. Seine Definition von Minimalismus: „Ich besitze nur wenige Dinge,
damit ich ganz viel Zeit, Energie und Raum für das Leben habe.“ Je mehr
Dinge man besäße, desto mehr Zeit würden sie in Anspruch nehmen. Klöckner
sieht es als problematisch an, dass Dinge gepflegt und entstaubt werden
müssen, dass sie Platz einnehmen, irgendwann entsorgt werden und Müll
verursachen. Für Klöckner ist Minimalismus eng verknüpft mit Nachhaltigkeit
und Effizienz. „Ich versuche suffizient zu leben, was bedeutet, wenige
Dinge multifunkiontal zu nutzen.“
Sucht man Klöckner im Internet, so findet man ihn in vielen Beiträgen als
Minimalismus-Coach. Dieses Label verpasste ihm vor einigen Jahren das
österreichische Fernsehen. Er ist mit der Bezeichnung nicht glücklich, da
sie sehr missionarisch klinge, der Fokus auf den Mangel gelegt werde und
Minimalismus für ihn nur eine von vielen Möglichkeiten sei, sein Leben zu
verschönern. „Viele betonen das Negative im Leben wie Zeitmangel, Burnout
und Stress. Ich versuche den Fokus neu zu setzen – auf Zeitfülle und
Freiheit.“ Dazu gehöre es auch, sich in allen Lebensbereichen wohlzufühlen.
Er bietet Workshops und [2][Opentalks] beispielsweise [3][zum Reisen] an,
in denen unter anderem der schaulustige Ökotourismus hinterfragt wird.
## Minimalismus-Coaching
Wer viel kauft oder viele Dinge aus der Vergangenheit aufbewahrt, hat oft
Schwierigkeiten Ordnung zu halten oder sich zu disziplinieren. Gründe für
Stapel von ungelesenen Papieren sowie überquellenden Kleider- und
Küchenschränken können sein, dass „manche Menschen nie gelernt haben,
Ordnung zu halten, keine Zeit bleibt oder eine besonders belastende
Situation wie etwa eine Trennung vorherging. Und auf einmal wird einem
alles zu viel“, erklärt [4][Rita Schilke aus Berlin], die seit 2010
Aufräum-Coach ist.
„Ich stelle mich meinen KlientInnen als positive Begleitung zur Verfügung,
die Tipps zum Aufräumen und Ordnung halten gibt und darüberhinaus hilft,
Entscheidungen zu treffen, was jemand aufheben, verschenken oder entsorgen
möchte.“ Rund 500 KundInnen hat sie dabei unterstützt, sich in ihren
Wohnungen wieder wohler zu fühlen.
Auch in der Schweiz gibt es eine zunehmende Nachfrage nach ExpertInnen.
Minimalismus-Coach [5][Selim Tolga] aus Zürich erklärt, dass „es gerade in
der heutigen Zeit, wo es von allem zu viel gibt – zu viele Produkte, zu
viele Informationen, zu viele Möglichkeiten – vielen Menschen schwer fällt,
einen Filter anzuwenden, der nur noch das Wesentliche durchlässt.“ Dieser
Filter könne trainiert werden.
„Als Kind habe ich meine Spielsachen lieber aufgeräumt, anstatt mit ihnen
zu spielen“, sagt Tolga. Seine Definition von Minimalismus lautet: „Man
lebt nur noch mit Dingen und Gedanken, die man liebt und braucht.“ Seit
sechs Jahren bietet er Coachings vor Ort und online an. Letztere werden
gerne gebucht, weil „es für viele eine Hemschwelle zu überwinden gibt,
einen Aufräumcoach nach Hause einzuladen.“ Tolgas KundInnen sind meistens
über 45-Jährige, die sich nochmal neu erfinden wollen, und Geschäftsleute,
die nach Möglichkeiten suchen, mehr Zeit und Freiheit im Berufsalltag zu
etablieren.
## Kommerzialisierung des Minimalismus
Friesike erklärt, dass es viele Unterströmungen des Minimalismus gibt:
„Diejenigen, die nur wenig, aber dafür das Beste besitzen wollen,
diejenigen, die sich dem Komsum total entsagen und ein Einsiedlerleben
führen, diejenigen, die Minimalismus aus einer ästhetischen Perspektive
betreiben und diejenigen, die etwas von ihrem eigenen Ballast loswerden
wollen.“
Neue Regeln, neue Ziele, neuer Lebensinhalt. Friesike folgert, dass „das
was früher religiöse Konzepte leisteten, jetzt teilweise vom Minimalismus
aufgefangen wird. Ein neuer Wertekanon wird geschaffen.“ Dadurch komme es
auch zu einer Kommerzialisierung des Minimalismus, da „in Zeiten, in denen
klare und einfache Angebote nachgefragt werden, diese natürlich auch
angeboten werden.“
Die ProtagonistInnen in vielen Ratgebern arbeiten zu viel, sind dick oder
allgemein unzufrieden. „Dann setzt der Wandel ein, das Verhalten wird
reflektiert, die Geschichte dokumentiert und am Ende verkauft“, erklärt
Friesike. Leuten beizubringen, nur das Nötigste zu kaufen, dann aber den
eigenen Ratgeber verkaufen zu wollen, sei ein innerer Widerspruch, der aber
immerhin vielen MinimalistInnen bewusst sei.
24 Jan 2016
## LINKS
[1] http://www.mystuffmovie.de/
[2] http://www.facebook.com/opentalkberlin?_rdr=p
[3] http://groupglobal3000.de/
[4] http://www.aufraeumcoach-berlin.de/
[5] http://minimalismus.ch
## AUTOREN
Merle Büter
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