# taz.de -- Positive Geschichten schreiben: Wahrheit und Kontext | |
> Wir möchten mehr Schönes, Gutes lesen – das ist verständlich und richtig. | |
> Aber es ist nicht immer ganz so einfach zu bewerkstelligen. | |
Bild: „Es ist nicht alles schlecht. Es ist nicht alles schwer.“ | |
Es war einmal eine gute Geschichte. Gut im Sinne von positiv. So eine | |
Geschichte, die die Lesenden mit einem guten Gefühl zurücklässt oder | |
zumindest mit dem Gefühl, dass nicht alles schlecht ist, erzählerische | |
Wellness. Angeblich sehnen sich immer mehr Menschen nach guten Geschichten. | |
Alles ist nur noch Gejammere, sagen diese Leute, alles ist nur noch böse, | |
dabei stimmt das doch gar nicht. | |
Schreib doch mal was Gutes! Es ist nicht alles schlecht. Es ist nicht alles | |
schwer. Es tut nicht alles weh. Delfine in Venedigs Kanälen. Eine alte | |
Frau, die Covid-19 überlebt hat und ihre Kinder wieder in den Arm nehmen | |
kann. Jemand „mit anderer Hautfarbe oder Kultur“, die nie Rassismus | |
erfahren hat und einfach happy ist! Nachrichten, die zu schnell untergehen | |
zwischen den Krisen und Schmerzen dieser Welt. Good News, bitte. | |
Ich meine das gar nicht zynisch oder verächtlich. Die Sehnsucht nach guten | |
Geschichten macht Sinn. Es geht dabei um die Sehnsucht nach einer guten | |
Welt, nach einer guten Gesellschaft und am Ende um den Wunsch, selbst ein | |
guter Mensch zu sein. Aber die Wahrheit ist, dass eben nicht alles und | |
schon gar nicht jede:r gut ist. | |
Für eine Person, der gerne zugerufen wird sie schlage ja sehr gern Kapital | |
aus einer vermeintlichen „Opferrolle“, habe ich ganz schön viele dieser | |
guten, also positiven Geschichten. Ich fand gut, besonders zu sein. Ich | |
fand gut, mit der Selbstverständlichkeit von zwei Normalitäten aufzuwachsen | |
und darin meine ganz eigene zu finden. Ich fand gut, Übersetzerin, | |
Verbündete, fast Spionin für beide Seiten zu sein. Auch gut: doppeltes | |
Erfahrungswissen. Weniger gut: unbezahlte Vermittlungsarbeit und der Druck | |
ständigen Expertinnentums. Aber das vielleicht Beste am Dazwischen war | |
schon immer die Pluralität. | |
Immer zwei richtige Antworten auf dieselbe Frage | |
Die Selbstverständlichkeit, dass Wörter aus Buchstaben und aus | |
Schriftzeichen entstehen können und dabei immer Wörter sind. Die | |
Erkenntnis, dass es immer mindestens zwei richtige Antworten auf dieselbe | |
Frage geben kann. Die Tatsache, dass man über alles reden oder über alles | |
schweigen kann und das trotzdem wenig damit zu tun hat, wer glücklicher | |
oder zufriedener ist. Im Grunde das Wissen um den alles entscheidenden | |
Faktor: Kontext. | |
Warum habe ich aufgehört, die guten Geschichten zu erzählen? Vielleicht, | |
weil wir dazu neigen, die Dinge so zu verstehen, dass sie unser eigenes | |
Welt- und Selbstbild bestätigen. Vielleicht, weil ich zu lange für ein | |
Publikum erzählt habe, das meine Geschichten betrachtete wie Exponate einer | |
Ausstellung. Vielleicht, weil man sich mit guten Geschichten zu leicht von | |
den schlechten freikaufen kann – besonders dann, wenn es nur wenige Stimmen | |
gibt und die für alle sprechen sollen. | |
Und doch wäre es falsch zu glauben, es gäbe keine guten Geschichten. Es | |
gibt sie ja und wir haben sie dringend nötig. Aber eben dort, wo sie sein | |
dürfen, was sie sind: widersprüchlich, uneindeutig und nur einzelne von | |
vielen. | |
24 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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