# taz.de -- Mundschutz als angeblicher Maulkorb: Was ich niemals aushalten will | |
> Was sich nicht ändern lässt, muss man ertragen, das lässt sich lernen – | |
> zum Beispiel von Frau Gong. Manchmal aber ist aushalten keine Option. | |
Bild: Chinesische Schriftzeichen | |
Ich bin gut im Aushalten, nicht körperlich, da bin ich eine Memme. Aber ich | |
weiß mich emotional anzupassen an Umstände, auch an solche, deren Ende kaum | |
absehbar ist, im Moment kommt das ganz gelegen. Ich wurde so nicht geboren, | |
Aushalten lernt man vom Leben. Wenn jemand stirbt, zum Beispiel. Wenn man | |
etwas nicht beeinflussen kann, bleibt nichts anderes als Aushalten – in | |
diesem Fall Schmerz und Sehnsucht und die eigene Machtlosigkeit. Muss ja. | |
Ich habe Aushalten vom Leben gelernt, aber auch von Frau Gong. Frau Gong | |
unterrichtete Chinesisch an der Uni in Hangzhou, einer Millionenstadt | |
unweit von Shanghai. Sie war eine autoritäre Lehrerin mit Dutt und | |
rahmenloser Brille (in meiner Erinnerung hat sie auch einen Stock, aber ich | |
bin unsicher, ob ich das nicht dazuerfunden habe, weil es so gut passt). | |
Frau Gong war streng und herzlich, wie die Lehrerinnen, von denen meine | |
deutsche Oma oft schwärmte: damals, als Gehorsam noch ein Wert war, bevor | |
Pädagogik-Hippies in Hörsälen Topflappen häkelten. Von Frau Gong lernte ich | |
auszuhalten, mit 22 wie ein Kind behandelt zu werden: Nur bei Grün die | |
Straße überqueren und früh schlafen gehen! Ich wollte meine Stirn auf den | |
Tisch schlagen, aber tat es nicht. | |
Dafür lernte ich etwa 1.700 chinesische Schriftzeichen: Bedeutung, | |
Aussprache, welchen Strich man in welcher Reihenfolge in welche Richtung zu | |
ziehen hat, die idealen Proportionen. Ich befüllte Hunderte kleine | |
Quadrate, Strich für Strich, Zeichen für Zeichen, Stunde für Stunde, Abend | |
für Abend, bis meine Augen müde wurden oder ich einen Krampf in der Hand | |
hatte. | |
## Rote Hände aus Nordkorea | |
Ich habe Aushalten vom Leben und von Frau Gong gelernt, und von | |
nordkoreanischen Nachbarn. In Hangzhou wohnte ich in einem Wohnheim für | |
Ausländer. In den Wintermonaten saß ich mit Daunenjacke am Schreibtisch, in | |
der Gemeinschaftsdusche gab es nur kaltes Wasser. Meine Wäsche wusch ich in | |
einer Plastikschüssel im Innenhof. Im Oktober war das noch schön, da | |
duftete der immergrüne Osmanthus. Im Winter machte ich den Fehler, meine | |
Jeans zu waschen, bei unter 10 Grad. | |
Ein paar Schritte entfernt hockten die Nordkoreaner aus dem Zimmer über | |
mir. Man traf sie nie allein. Alle glaubten, dass sie kein Wort mit uns | |
reden durften, weil sie kein Wort mit uns redeten. Vielleicht fanden sie | |
uns aber auch einfach scheiße. Ich hockte da, mit roten Händen, und ein | |
paar Schritte weiter hatten die Nordkoreaner auch rote Hände und mir fiel | |
auf, dass ich all das nur temporär aushalten musste. | |
Nordkorea ist eine Diktatur, denke ich. China auch, sagen viele. Und | |
neuerdings sei Deutschland auch eine Diktatur, ein Mundschutz ein Maulkorb, | |
schreien welche, von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machend. Sie tragen | |
Banner mit der Aufschrift „Wir sind das Volk“, [1][während ein paar | |
Schritte weiter ein Bild von Anne Frank in die Luft gestreckt wird]. Zum | |
Glück haben wir oft die Wahl, was wir aushalten wollen. Und es ist das, | |
[2][was ich niemals aushalten will.] | |
12 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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