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# taz.de -- Kolumne Sternenflimmern: Hab ich doch gesagt!
> Man kann sich auf dem ausruhen, was man irgendwann mal gut gemacht hat.
> Besser wird es aber, wenn man es infrage stellt. Auch Europa.
Bild: Wenn man denkt, man hätte die Welt verstanden, sagen Ältere oft, dass m…
Mit fast 30 Jahren bin ich meistens überzeugt, einen Großteil der Welt
verstanden zu haben. Aber dann klebe ich doch im Rosé-Suff meinen Kaugummi
an eine Straßenlaterne, laufe über blaue Kreidebrösel vor der alten
Sparkasse in Neukölln und bin mir sicher, geistig im Vorschulalter zu sein.
Ich mag diese Momente. Diese Demut, die hervorkriecht, wenn ich zu arrogant
werde, wenn ich glaube, meine Meinung wäre das Maß aller Dinge. Ich mag
auch andere Menschen, die diese Demut zeigen. Ich hätte gern mehr davon in
Europa.
Europa ist ein „geschichtsträchtiger“ Kontinent. Diese Beschreibung ist
seltsam, weil jeder Kontinent eine Geschichte hat. Nur wurde Geschichte
verschieden laut erzählt, verschieden stark unterdrückt und verschieden
nachdrücklich weitergegeben. Europa ist historisch auf vielen Augen blind,
auch was es selbst betrifft.
Heute zum Beispiel jährt sich zum 75. Mal der Tag, an dem Nazis in das
[1][damalige Hamburger Chinesenviertel auf St. Pauli einmarschierten]. 129
Männer wurden damals im Auftrag der Gestapo festgenommen, mindestens 60 von
ihnen wurden gefoltert und misshandelt, 17 überlebten das nicht. Bis vor
einen Jahr wusste ich nicht mal, dass es auf St. Pauli eine kleine
Chinatown gab. Kaum erzählte Geschichte eben.
Mit 6 und 16 und 26 hat man oft schon viel von der Welt verstanden – nur
sagen einem die Älteren häufig trotzdem, dass man gar nichts weiß. Mit 76
müsste man dann meinen, dass dich endlich niemand mehr infrage stellt, aber
dann kommen diese jungen Leute und nennen dich Rassistin, dabei willst du
doch nur die armen Opfer-Muslimas vom [2][patriarchalen Joch des Kopftuchs
befreien] und so weiter.
Ich bin sicher, dass diese immer währende Kritik ganz unabhängig vom Alter
seine Richtigkeit hat (wenn Sie anderer Meinung sind, nutzen Sie die
Kommentarspalte). Klar kann man sich auf den Dingen ausruhen, die man
irgendwann mal gut gemacht hat. Aber alles und jede:r kann nur dann besser
werden, wenn es infrage gestellt wird. Ich und Sie genauso wie dieses
Europa.
Dazu gehört, vermeintliche Gewissheiten zu überprüfen und sich
weiterzubilden: Schwarze Frauen und Women of Color einstellen, deren Bücher
lesen und deren Arbeiten zitieren zum Beispiel. Europa hat auch deshalb
Schwierigkeiten, seinen Platz in der neuen Weltordnung zu finden, weil es
Geschichte seit Jahrhunderten aus der gleichen Perspektive erzählt und
dabei Stimmen der gesellschaftlichen und sozialen Ränder ins Leere schreien
lässt.
Das muss nicht so bleiben, auch davon bin ich mit fast 30 überzeugt. Wenn
wir das ändern, hat Europa gute Chancen nicht nur von Sophies in blauen
Kapuzenpullis geliebt zu werden. Und sollte ich dann noch am Leben sein,
werde ich besserwissend rufen: Hab ich doch gesagt!
13 May 2019
## LINKS
[1] /Hamburgs-vergessenes-Chinesenviertel/!5550428
[2] /Debatte-Kopftuch-fuer-Minderjaehrige/!5588647
## AUTOREN
Lin Hierse
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