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# taz.de -- Leben zwischen Deutschland und China: Das Private ist politisch
> In Deutschland verteidige ich China, in China Deutschland. Oft muss ich
> zugeben, dass ich eigentlich nur mich selbst beschützen will.
Bild: So isses!
Irgendwann werde ich geboren und weiß nichts von der Welt. Ich weiß nicht,
wer mich da aus dem Spiegel anguckt und schon gar nicht, was Politik
bedeutet. Mir darf Politik egal sein und das macht das Leben leicht.
Irgendwann bin ich etwas älter und habe ein bisschen mehr verstanden. Ich
weiß, dass Politik in Anzügen und hinter Rednerpulten aufgeführt wird, und
ich weiß, dass Erwachsene gern über Politik reden, beim Sonntagsessen
zwischen Kasseler und Gott. Mir dürfen die Anzugleute egal sein, aber ich
soll jetzt immer öfter [1][Deutschen China erklären und Chinesen
Deutschland] und das macht das Leben ab und zu etwas schwerer.
Irgendwann gehe ich zur Uni, hefte komplizierte Texte ab und lese: Das
Private ist politisch. Ich gehe auf WG-Parties. „Das Private ist
politisch“, sagt ein rauchender SoWi-Student mit Paillettenweste. Er ist im
Kapitalismus aufgewachsen, also wünscht er sich Sozialismus. Wir nicken,
ohne wirklich verstanden zu haben. Ich will dazugehören. Das Abheften
komplizierter Texte macht mich überheblich, alles ist politisch: Der
Kühlschrank der Eltern, der Akt des Fernsehens. Ma geht niemals wählen und
ich empöre mich, ohne wirklich verstanden zu haben. Ma ist im Sozialismus
aufgewachsen und wünscht sich, jetzt in Ruhe gelassen zu werden. Ein
Studi-Kind will Demokratie erklären und das macht das Leben schwer.
Irgendwann überfliege ich neue Visaregeln, Kategorie Q1: Familienbesuch.
Zweimalige Einreise (gültig drei Monate) für 125,45 Euro. Man muss jetzt
bei der Antragsstellung bezahlen und wenn das Visum nicht gewährt wird,
gibt es kein Geld zurück. Das Private ist politisch und vom Umtausch
ausgeschlossen. Ich lebe seit fast 30 Jahren in einer Fernfamilienbeziehung
und sehne mich nach unpolitischer Privatheit. Irgendwann fragt jemand: „Was
hat dich politisiert?“, und ich sage: [2][„Vielleicht Chemnitz.“]
## Ich will kein Opfer sein
Ich sage nicht, dass meine Existenz qua Geburt ein Politikum ist. East
meets West, ein echtes Joint Venture, ich hab mir das nicht ausgesucht. Ich
will mich nicht zu wichtig nehmen, und schon gar nicht will ich ein Opfer
sein – mein Leben ist ja ein sehr gutes, also sage ich: Chemnitz. Trotzdem
bin ich nicht nur, wer ich sein will, sondern auch, wen ihr aus mir macht.
Das merke ich bei jeder schlechten Schlagzeile über ein Land, das gar nicht
meins ist. In Deutschland verteidige ich China, in China Deutschland. Oft
muss ich zugeben, dass ich eigentlich nur mich selbst beschützen will.
Deutschland macht Menschen lieber anders, als gleich. Zu viel „Du musst so
werden, wie wir längst sind“, zu wenig „Wir können gemeinsam etwas Neues
werden“. Wenn wir uns endlich selbst im Anderen finden, Allianzen bilden
und uns Räume nehmen, dann kreischt es [3][„Identitätspolitik“]. Politik,
schon wieder. Wir sind im Kapitalismus, im Patriarchat und im Rassismus
aufgewachsen und das macht das Leben schwer. Hört auf zu nicken, ohne
wirklich verstanden zu haben.
22 Jan 2020
## LINKS
[1] /Chinesische-Diaspora/!5619792
[2] /Ein-Jahr-Chemnitzer-Ausschreitungen/!5625339
[3] /Geschichte-der-Identitaetspolitik/!5638928
## AUTOREN
Lin Hierse
## TAGS
Kolumne Chinatown
Politik
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China
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