# taz.de -- Philosoph Markus Gabriel: „Vor Twitter habe ich Angst“ | |
> Wie wird die Welt besser? Der Philosoph Markus Gabriel über moralisches | |
> Wachstum, China, soziale Medien und Irrtümer in Identitätsdebatten. | |
Bild: Er will, dass bald alle nur noch „Leute“ sind: Markus Gabriel | |
taz am wochenende: Herr Gabriel, Sie sprechen in Ihrem neuen Buch vom | |
„moralischen Wachstum“, das die Welt brauche. Was meinen Sie damit genau? | |
Markus Gabriel: Wir hätten keine Chance, moralischen Fortschritt zu | |
erzielen, wenn wir das gegen China, Indien oder gar ganz Afrika tun. Das | |
kann nicht funktionieren. Wichtig ist vor allem, dass man die Moral global | |
denkt. | |
Wenn Sie von „wir“ sprechen, meinen Sie „uns“ Europäer? | |
Ja. | |
Wir betrachten uns doch aber in aller Bescheidenheit in politischer, | |
technologischer, kultureller und gerade moralischer Hinsicht als überlegen. | |
Ach was. Wir sind überhaupt nicht mehr überlegen, nur in der | |
Selbstwahrnehmung. Wir denken, Europa sei als Wohlstandsort überlegen, und | |
deshalb müssen wir das Mittelmeer absichern, weil sonst alle | |
herüberschwimmen. | |
Ist das nicht so? | |
Ich glaube nicht, dass die Leute in Schanghai, Mumbai, Tokio oder Zhengzhou | |
uns als überlegen sehen. | |
Das interessiert uns aber nicht. | |
Und genau das ist unser Problem. Ich war unlängst bei einem KI-Kongress in | |
Schanghai, und da war eine Milliardärin aus Hongkong, der wohl ein großer | |
Teil der dortigen Filmindustrie gehört. Es gab einen Empfang in der Weinbar | |
in der Dachetage des größten Gebäudes von Schanghai. Die Milliardärin | |
zeigte mir den Blick, und ich schaue mit ihr runter, und ich denke nur, | |
mein Gott, New York ist ja ein Kaff dagegen, und genau das wollte sie mir | |
zeigen. Und dann sagte sie: „Bald machen eure Kinder meine Handys.“ | |
Das ist nicht unrealistisch. | |
Nein, überhaupt nicht. Wenn ich jetzt nur als besorgter Bürger agieren | |
würde, der Angst um seinen Wohlstand hat, dann müsste ich einfach nach | |
China gehen. Jetzt nehmen die noch deutsche Philosophen oder französische | |
Sonstetwas, man kriegt tolle Gehälter – aber lange wird das nicht mehr so | |
sein. In fünf oder zehn Jahren werden sie sagen: Europäer, was soll das? | |
Deshalb brauchen wir – Europäer, Chinesen, alle – gemeinsame moralische | |
Werte, auch aus strategischen Gründen. Denn es bringt ja nichts, wenn wir | |
die Ausbeutung nur umkehren. Wenn Ausbeutung schlecht ist, muss das künftig | |
global gelten. | |
Und deshalb suchen Sie die gute Zukunft unserer Gesellschaft nicht in | |
„europäischen Werten“? | |
Richtig. Wir beklagen hier, dass Europa nicht zu einer moralisch relevanten | |
Einheit wird, es wird von europäischen Werten gefaselt, aber auf die Frage, | |
was das ist, gibt es keine Antwort. | |
Nein? | |
Nein. Weil es europäische Werte nicht gibt. Weil es eine Illusion ist, wir | |
hätten wenigstens „unsere“ Werte. Mehr noch: Es darf sie gar nicht geben. | |
Was ist mit Freiheit, Gleichheit, Menschenrechten, den Werten der | |
europäischen Aufklärung? | |
Die Pointe dieser Werte ist ja gerade, dass sie universal gelten und nicht | |
europäisch sind. Wenn es europäische Werte gäbe, dann wären sie ja falsch, | |
weil nicht universalistisch. Das Bild einer gelungenen Zukunft kann nur | |
scheitern, wenn wir das für uns „Europäer“ machen wollen. Werte sind | |
entweder global, kosmopolitisch und universal oder lediglich Ausdruck der | |
imaginären Zusammenrottung von Gruppen, die sich gegen andere richten, also | |
etwa EU gegen USA und China. | |
Der Westen geht aber mehrheitlich nicht davon aus, dass er die anderen | |
bisher ausbeutet. Und dass seine Leute demnächst von Chinesen ausgebeutet | |
werden, ist gefühlt noch sehr fern? | |
Das sind Illusionen. Wir sind natürlich massiv in Ausbeutungssysteme | |
verstrickt, und wir werden schon längst in vielen Hinsichten von Akteuren | |
der Kommunistischen Partei Chinas an der Nase herumgeführt – aus dem Grund, | |
weil wir unbedingt die riesigen chinesischen Märkte bespielen wollen. | |
Vergessen wir nicht, dass China über Jahrtausende immer ein führendes und | |
die Welt prägendes Land war. Die Schwäche Chinas war nur ein kurzes | |
Zeitfenster der Weltgeschichte, das ist jetzt vorbei. | |
Wenn Sie von „moralischen Tatsachen“ sprechen, was meinen Sie dann? | |
Wir müssen verstehen, dass moralische Tatsachen etwas sind, das wir genauso | |
erkennen können wie andere Tatsachen. Etwa: Berlin liegt nördlich von | |
München. Das konsumistische Leben und der Raubbau an der Natur sind das | |
Falsche. Das moralisch Gute ist nichts Ätherisches, sonst wäre ich auch | |
nicht Realist, sondern Idealist. Ein Matriarchat ist nicht besser als ein | |
Patriarchat. | |
Tatsache? | |
Hier ist ja das -archat schon das Problem. | |
Es gibt keinen Mangel in der neuen Mittelschicht an Moralausstoß. Der | |
steigt proportional zum CO2. | |
Richtig. Er findet auch noch in alten Medien statt, aber der zentrale Ort | |
der Entladung dieses Moralisierens sind die sozialen Medien. Moralisieren | |
meine ich im Unterschied zur echten Moral. Dieser Moralausstoß ist genauso | |
wirksam wie eine Videokonferenz. | |
Das müssen Sie erklären. Videokonferenzen gelten doch im Moment auch als | |
Fortschritt. | |
Was ich bei Skype sehe, ist kein Mensch, das ist nicht meine Kollegin, | |
sondern ein Modell, ein Bild meiner Kollegin. Und sie sieht ein Modell von | |
mir. Mit diesem Modell kann ich mich halbwegs gut unterhalten, das ist | |
hinreichend ähnlich und sagt in etwa, was meine Kollegin sagt, je nach | |
Internetleitung und Verwackelung des Bildes. Aber es ist nicht meine | |
Kollegin. Wenn ich mich auf Twitter für Identitätspolitik einsetze und | |
dafür, dass jemand anderes nicht schon wieder rassistische Sachen sagt oder | |
was ich dafür halte, oder wenn ich mich im Team Drosten gegen Team Streeck | |
engagiere; wenn ich das auf Twitter tue, dann tue ich gar nichts. Das sieht | |
nur so aus, das sind eingebildete Handlungen. | |
Das wird die Twitter-Engagierten hart treffen. | |
Der Kollege Drosten hat ja, um den Vorwurf auch noch zu äußern, auf einen | |
Angriff der Bild-Zeitung durch einen Gegenangriff auf Twitter reagiert. | |
Nicht seine beste Idee. Dann höre ich lieber seinen Podcast oder lese seine | |
wissenschaftliche Expertise. | |
Was ist der Vorwurf? | |
Die Bild-Zeitung ist fatal, aber weit weniger fatal als Twitter. Wenn die | |
Bild-Zeitung verschwindet, habe ich nichts dagegen, aber ich möchte noch | |
lieber, dass Twitter verschwindet. Vor Twitter habe ich ernsthaft Angst. | |
Vergessen wir nicht, dass es ohne Twitter womöglich nicht zur | |
Trump-Präsidentschaft und ihren wahnsinnigen Auswüchsen gekommen wäre, so | |
etwas hat die Bild bisher noch nicht geschafft. | |
Die Simulation der Handlung hat die Handlung ersetzt, der Moralausstoß ist | |
wie ein kleiner Rülpser, nach dem man selbst sich besser fühlt, sich in der | |
Wirklichkeit aber nichts geändert hat. | |
Das ist das Problem. | |
Aber was ist die Lösung? | |
Die Lösung ist: Erstmal Reduktion der Simulation von Wirklichkeit. Wobei | |
die Simulation natürlich auch eine Wirklichkeit ist, aber nur eine zweiter | |
Stufe. Jede Minute, die ich nicht in der Basiswirklichkeit etwas tue, | |
sondern glaube, mich auf Twitter zu erregen, bin ich Algorithmen ausgesetzt | |
und produziere etwas für amerikanische Unternehmen. Mal abgesehen davon, | |
dass die Server ordentlich zur Erderwärmung beitragen. Wer sich online | |
erregt, glaubt gerne, er täte das Gute, indem er sich über das Nichtgute | |
beschwert, wobei man dann schon etwas Nichtgutes tut, indem man zur | |
Erderwärmung beiträgt und außerdem vollständig transparent und beobachtbar | |
für die eigentlichen Gegner des Guten ist. Dagegen setze ich auf eine neue | |
Aufklärung, die in wirklichen Institutionen wirksam wird. | |
Also nicht bessere Menschen, sondern bessere Politik? | |
Was ich sage, muss institutionell wirksam werden, das ist die Reichweite | |
meines Vorschlags, ich kann das ja nicht alleine. Philosophische Entwürfe | |
und Theorien einer besseren Zukunft müssen heute in multidisziplinären | |
Teams zu Ende gedacht und auf die Straße, das heißt, in die demokratischen | |
Institutionen, Thinktanks und so weiter gebracht werden. Wir müssen über | |
die verschiedenen Teilsysteme der Gesellschaft hinweg kooperieren, auch | |
hier universal und transversal denken. Progressives Denken und Handeln | |
gehört in die Mitte der Gesellschaft, es darf nicht in der Opposition | |
bleiben. | |
Reden bringt auch nichts? | |
Die Frage ist, wie und mit wem. Stichwort systemischer Rassismus und | |
Polizeigewalt: Wir müssen genauso mit den Polizisten reden wie mit den | |
anderen. Die Polizei ist weder unser Freund noch unser Feind, sondern sie | |
rekrutiert sich aus unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, das heißt ja: | |
Wir sind in einer Demokratie. Das sind genauso Wählerinnen und Wähler, das | |
sind einfach Leute, die allerdings unter bestimmten Bedingungen im Dienst | |
schlagen dürfen. Also Leute, mit denen ich taktisch anders umgehe, wenn sie | |
im Dienst sind, als mit dem Bierverkäufer im Späti. Jetzt haben wir | |
moralische Entladung, wir stellen fest: Polizei betreibt auch in | |
Deutschland manchmal Racial Profiling. Oh, wirklich? Das hätte ich ja nie | |
gedacht. Aber der Innenminister versichert uns: Das kann nicht so schlimm | |
sein, das war ja illegal. Bizarre Debattenlage. | |
Ergo? | |
Wie wäre es, wenn wir das ganz anders betrachten und uns fragen: Wer sind | |
denn diese Polizisten? Warum haben wir nicht ein Forum, statt dieser | |
Studie, die man jetzt immer will? Eine Studie ist meistens so wirksam wie | |
Twitter, nämlich gar nicht. Wir sollten Foren haben, in denen progressive | |
Polizisten mit hohem Verantwortungsgefühl – und davon gibt es viele – mit | |
negativ diskriminierten Menschen sprechen, ihre Erfahrungen kennenlernen | |
und dann gemeinsame Optionen entwickeln, die man dann etwa den | |
Innenministern vorstellt, also demokratisch, bottom up. | |
Brauchen wir gar keine Studien und quantitative Forschung mehr, sondern nur | |
Gesprächskreise? | |
Nein, wir wissen, dass irgendwer geschlagen wird, und auch, dass Racial | |
Profiling vorkommt. Das reicht doch, um was zu ändern. Ich will ein Forum, | |
auf dem etwa ein Philosoph mit einem Soziologen vor und mit 700 jungen, | |
fitten Polizisten diskutiert: Wie seht ihr das? Das muss | |
disziplinarrechtlich sauber sein, gemischt, die können frei sprechen, es | |
bleibt hinter verschlossenen Türen. | |
Was soll bei einem Gesprächskreis herauskommen? | |
Ich weiß doch nicht, in welchen Situationen Polizisten meinen, sie dürften | |
physische Gewalt ausüben, das müssen die erläutern. Vielleicht ist es | |
manchmal rechtsradikales Denken, vielleicht ist es schlechte Bezahlung, | |
vielleicht etwas anderes, ich weiß es nicht. Eine Studie über Rassismus | |
sagt mir nur, was ich eh weiß, dass es Rassismus gibt. Dazu brauche ich | |
keine Studie. | |
Sie wollen zur Bewältigung der Krisen eine „Politik der radikalen Mitte“, | |
haben aber gleich gesagt, das sei eine ironische Formulierung. Was ist da | |
Ihr Punkt? | |
Der Moderator Gert Scobel hat mich darauf hingewiesen, dass es mal aus der | |
Union heraus eine Komikerpartei namens Radikale Mitte gab und Gregor | |
Dotzauer hat mir in der Zeit vorgeworfen, ich würde eine Politik der | |
radikalen Mitte betreiben und aus diesem Vorwurf, der Komik und der | |
Spannung heraus versuche ich, etwas Ernsthaftes zu machen: Wenn wir wirksam | |
werden wollen, darf das Progressive nicht mit dem Gedanken verbunden sein, | |
es sei randständig, sonst kann es nicht wirken. Radikal progressive | |
Zukunftsentwürfe gehören in die Mitte, ins Parlament, in die Institutionen, | |
die große Öffentlichkeit. Ein demokratischer Rechtsstaat ist nun mal so | |
gebaut, dass der Hauptstrom durch Zurufe vom Rand, durch Aktivismus, | |
Proteste und so weiter hin und wieder gelenkt wird und dann sagt: Na gut, | |
dann nehmen wir das auf. Aber der Hauptstrom agiert in der Regel nicht | |
progressiv. Warum eigentlich? Und warum akzeptieren wir das? | |
Es ist aus meiner Sicht ein großer Defekt der 68ff.-Kultur, sich in einer | |
bizarren Schizophrenie als progressiv sprechendes Außen abzugrenzen, statt | |
sich als realer Motor zu verstehen. | |
Bei den Rechten ist das noch ausgeprägter und schizophrener, wenn Frau | |
Weidel in einer der großen Talkshows sagt: Wir werden nicht gehört. Doch, | |
du wirst eben gehört, weil du sagst, dass du nicht gehört wirst. Du wirst | |
sogar viel zu viel gehört. Mehr gehört kannst du nicht werden. Es ist | |
pathologisch. Und im linken, sich als progressiv verstehenden Spektrum hast | |
du auch den Gedanken, man rufe vom Rand. Es gibt aber keinen Rand, | |
faktisch. Es gibt eine Randwahrnehmung, und es gibt eine genuine | |
sozioökonomische Erklärung, die etwas zu tun hat mit der Randwahrnehmung, | |
aber es sollte aus der Soziologie klar sein, dass das nur eine Metapher | |
ist. Die progressiven Impulse, die von dem Ort kommen, der sich als Rand | |
erlebt, dürfen eben nicht am Rand bleiben, denn genau das ist das Problem. | |
Gilt das auch für Minderheiten? | |
Gerade für sie. Wenn man glaubt, Afrodeutsche seien am Rand, dann ist schon | |
alles falsch gelaufen. Sie sind einfach nur Deutsche, die leider zu häufig | |
inakzeptabel schlecht behandelt werden. Jetzt hören wir denen mal zu, denn | |
die sind ja am Rand. Wir laden immer nur die „weißen“, 50-jährigen | |
Professoren, Politiker und so weiter zu den politischen Talkshows ein, und | |
jetzt geht es um Rassismus und dann heißt es: Habt ihr einen Schwarzen? | |
Jaja, wir haben eine gute Soziologin, und die darf dann dabeisitzen, zum | |
Glück auch noch eine Frau. Viel interessanter wäre es, wenn die da säßen, | |
die man des Rassismus verdächtigt, und über Rassismus reden. Warum nicht | |
eine Sendung über Corona mit lauter Menschen, die man normalerweise zu | |
Rassismus einlädt und umgekehrt, um die teils unsinnigen Stereotype zu | |
sprengen. | |
Das wollen wir lieber nicht? | |
Wir sollten dringend unsere Vorstellungen von angeblicher Normalität | |
ändern. Wir leben längst in einer komplexen Einwanderungsgesellschaft, und | |
das ist eine Chance, also müssen wir lernen, Identitäten und Stereotype zu | |
sprengen. Wir sind erst am Ziel, wenn man beim Thema „Rassismus“ nicht an | |
Menschen mit dunkel pigmentierter Haut oder so etwas denkt. Das wäre der | |
erste Schritt – Differenzpolitik nenne ich das. Dass wir Identitätsdenken | |
überwinden. Die wirklich wichtigen Fragen kriegen dann vielleicht | |
tatsächlich sozioökonomisch gerechte Selektionsfilter. Wann wir in | |
Coronazeiten die Geschäfte aufmachen, zum Beispiel, war nicht nur wichtig | |
für Lobbyverbände der Industrie, sondern vor allem für Spätis und | |
Dönerverkäufer. Also müssen die in Talkshows. Genauso die Fleischarbeiter, | |
es wurde immer nur über sie geredet, aber wo waren die denn in den | |
Sendungen? Sie wurden nur als Opfer gefilmt oder als Randalierer hinter | |
Bauzäunen, aber man spricht nicht mit ihnen, das geht nicht. | |
Sie sagen auch, dass eine Deutsche eine Deutsche genannt werden sollte und | |
gut. Keine Afrodeutsche oder Deutsche türkischer Herkunft. Was ist damit | |
gewonnen? | |
Das Ziel ist, einfach den Begriff Leute für alle durchzusetzen. Mensch ist | |
vielleicht schon wieder zu pathetisch. Leuten passiert es manchmal, dass | |
andere Leute, die wir Polizisten nennen, sie schlagen, obwohl sie nichts | |
gemacht haben. Das ist die Zielvorstellung: Wenn eben niemand aus Versehen | |
oder aus Fehlverhalten geschlagen wird, weil er irgendwie aussieht. | |
Leute werden von Leuten geschlagen? | |
Ja, dann wird man sagen: Das kann ja wohl nicht sein. Trump sagt ja | |
manchmal das Richtige aus falschen Gründen. Wenn wir sagen: Black lives | |
matter, sagt er: All lives matter. Er meint es leider anders, aber er sagt | |
das Richtige. Wenn er sagt, es werden auch „Weiße“ geschlagen und auch | |
erschossen, dann stimmt das ja auch und das geht auch nicht. | |
Dann wird jemand sofort autoritär verfügen, dass es a priori keinen | |
Rassismus gegen Weiße geben könne. | |
Gibt’s aber. Der rassische Antisemitismus der Nazis war sicher Rassismus, | |
aber er richtete sich gegen Juden überhaupt nicht deswegen, weil sie etwa | |
„schwarz“ wären oder so etwas. Das ist das einfachste und schrecklichste | |
Gegenbeispiel gegen den Nonsens, Rassismus gehe gegen „schwarze“ Menschen | |
vor. Ich kann auch aus meinem eigenen Leben aus der Opferperspektive | |
erzählen. Sieben Jahre bin ich von einigen Hindus rassistisch behandelt | |
worden, weil ich versucht habe, eine Hindu-Tochter aus einer sehr hohen | |
Kaste zu heiraten. Sie wurde geschlagen, sexuell misshandelt, kurz | |
entführt, ich wurde traumatisiert, also ich kann mein Lied davon singen, es | |
gibt sehr wohl Rassismus gegen „Weiße“, etwa in Indien, wo man als „wei�… | |
Europäer gar nicht beliebt ist. Das indische Kastensystem ist extrem | |
rassistisch, Hautfarbe spielt dort eine wesentliche Rolle. Es ist eine | |
aberwitzige Vorstellung, Rassismus sei etwas, was Weiße an Schwarzen | |
verüben. | |
Alles passierte, weil Sie den Leuten dieser Kaste als minderwertig gelten? | |
Genau. Als „weißer“ Europäer ist man im indischen Kastensystem rassisch | |
minderwertig, das ganze Kastensystem ist furchtbar rassistisch. Ich bin da | |
nicht mal drin, sondern etwas, das es gar nicht geben sollte in der | |
Perspektive der zweiten Kriegerkaste dieser richtig wohlhabenden Inder, mit | |
denen ich einst zu tun hatte. Man wird übrigens auch hunderte Millionen von | |
Han-Chinesen identifizieren können … | |
… mit 1,3 Milliarden Menschen laut Wikipedia „die größe Volksgruppe der | |
Welt“ … | |
… von denen sehr viele sich rassisch den „Weißen“ überlegen fühlen. Wa… | |
ist also unser deutscher Fall so besonders? Und vielleicht ist diese | |
Weiß-Schwarz-Spaltung in Deutschland gar nicht das zentrale Problem wie in | |
den USA. Viele meiner, „asiatisch aussehenden“ – was auch immer das in | |
Wirklichkeit sein mag – Freunde haben zu Beginn der Coronapandemie über | |
Rassismus geklagt, zwei chinesische Doktoranden sind zurück nach China | |
gegangen, nachdem sie mehrfach auf der Straße bespuckt wurden, weil sie das | |
Virus importiert hätten. Es gibt also fast jede erdenkliche Form von | |
Rassismus. Das Problem am Rassismus ist der Rassismus und nicht die Färbung | |
der Pole. Ja, es gibt eine Kolonialgeschichte, in der sogenannte Weiße | |
sogenannten Schwarzen unvorstellbares Leid zugefügt haben, aber moralisch | |
sehe ich da keinen Unterschied, ob Rassismus sich gegen einen alten, weißen | |
Mann oder eine junge, schwarze Frau richtet, beides ist gleich verwerflich | |
und aus denselben Gründen. | |
Das Konzept der Rasse ist wissenschaftlich überholt, gesellschaftlich hält | |
es sich hartnäckig. Es aufzugeben ist ein wichtiger moralischer | |
Fortschritt? | |
Genau. Es gibt genau genommen keine Rassen, leider aber gibt es sehr wohl | |
Rassismus. Ich habe ein Gedankenexperiment angestellt, das ich Ohrania | |
nenne. Stellen Sie sich vor, sie kommen in ein fremdes Land namens | |
„Ohrania“ und stellen fest, dass bestimmte Menschen sehr schlechte | |
Tätigkeiten ausüben müssen für andere. Das entscheidet sich an der Länge | |
ihrer Ohrläppchen. Die mit den kurzen Ohrläppchen haben ganz viele | |
Vorteile, stellen immer die Regierung und so weiter und am Anfang sieht man | |
das gar nicht und holt die Ethnologen und erforscht die Ohrania, bis man | |
das mit den Ohrläppchen feststellt. | |
Und? | |
Bei den „Rassen“ haben wir immer das Gefühl, die sehen halt anders aus, und | |
wir müssen lernen, die gleich zu behandeln, obwohl sie anders aussehen. Und | |
damit machen wir denselben Fehler wie die Leute in Ohrania. Warum glauben | |
wir anhand unserer übrigens verzerrten Wahrnehmung von Hautfarbe, Menschen | |
klassifizieren zu müssen? Ein sehr braungebrannter Mensch aus | |
Schleswig-Holstein kann sehr viel dunkler sein als ein Albino aus Uganda. | |
In der Rassenlogik ist der eine dennoch weiß und der andere schwarz. | |
Genau, der Albino ist trotzdem schwarz, und das ist nicht mal mehr eine | |
Wahrnehmung, sondern einfach eine Erfindung, etwas Unsichtbares, das man | |
aber in Rechnung stellen muss. Die Zielvorstellung ist Farbenblindheit, | |
nicht Identitätssetzung. Ziel ist, dass man anders sieht. Wie meine | |
Tochter. | |
Was sieht die so? | |
Ich war im November 2019 mit meiner kleinen Tochter in einem Museum in New | |
York, da war ein Video eines – wie man denken würde – schwarzen | |
Gitarristen. „Schwärzer“ hätte man nicht sein können. Und sie sagte: Guck | |
mal, da ist ja der Onkel Tobs. Das ist mein Bruder, der in etwa so aussieht | |
wie ich, nur größer und jünger. Als jemand, der mit dem Rassismusdiskurs | |
aufgewachsen ist, kommt einem das merkwürdig vor und man denkt: Wie kommt | |
die Fünfjährige darauf, dass ausgerechnet der aussieht wie ihr Onkel? | |
Wie kommt sie drauf? | |
Sie hat das anders gesehen, sie fand, der Gitarrist sehe aus wie ihr Onkel, | |
weil der auch Gitarre spielt, einen ähnlichen Bart und eine Brille hat, | |
sich ähnlich kleidet und sogar ein bisschen ähnlich lächelte. Sieht man von | |
der Hautfarbe ab, so sieht der Gitarrist meinem Bruder wirklich zum | |
Verwechseln ähnlich. Also, wenn man mal Jesus sinngemäß zitieren darf: | |
Werdet wie die Kinder. Rassismus darf keine Möglichkeit für uns sein. | |
Was meinen Sie damit? | |
Man kennt das doch, man lächelt als progressiver Mensch den schwarz | |
aussehenden Menschen in der S-Bahn an – aber warum? Um ihm das Gefühl zu | |
geben, er sei auch willkommen. Ich habe mich 2015 sehr geärgert über die | |
Willkommenskultur. Warum? Da kommen einfach Leute, die Gott sei Dank Rechte | |
haben, sogenannte Asylrechte, und jetzt applaudiert man denen und heißt sie | |
willkommen. Warum? Das sind einfach Leute, die Rechte haben, und dazu | |
gehört auch das Recht, ein Arschloch zu sein, man muss sie weder mögen noch | |
willkommen heißen, sondern ihnen ihre Rechte und unsere Unterstützung geben | |
– einfach nur, weil sie auch Leute sind wie du und ich, nur aus Syrien oder | |
Pakistan. | |
Könnte auch ein kultureller Akt nachholenden Widerstands von Leuten mit | |
deutschem Pass sein, die eigene Menschlichkeit besonders betonen zu wollen. | |
Klar. Aber als ich die applaudierenden Menschen in München sah, dachte ich: | |
Wenn ich in dem Zug säße, hätte ich jetzt Angst. Ich wäre verängstigt, weil | |
man auf etwas hinweist, was gar nicht anders sein darf. Es war mir klar, | |
dass es umschlagen wird. Mir applaudiert man nicht, wenn ich in München | |
ankomme, und das ist auch gut so. | |
Man sagt damit: Ihr seid fremd, aber trotzdem willkommen? | |
Dagegen setze ich Farbenblindheit. Ich versuche eine Zielvorstellung zu | |
formulieren: Wie sähe es denn aus, wenn ich nicht mehr die geringste | |
Versuchung verspürte, Menschen, die ich als fremd wahrnehme, die es aber | |
gar nicht sind, anders zu behandeln? Und anders kann auch sehr nett sein. | |
Ein Beispiel für Farbenblindheit? | |
Wenn man sich, zum Beispiel, richtig ärgern würde, wie schwäbisch Cem | |
Özdemir ist, und ausriefe: Ich kann diesen Schwaben nicht ertragen. Wenn | |
man das genauso denken würde wie bei anderen Schwaben, statt da noch diesen | |
Filter dazwischenzustellen, er sei „türkischstämmig“. Nein. Er ist einfach | |
ein Schwabe. | |
Sind Schwaben demnach keine Leute? | |
Sie haben recht, wir müssen auch die Schwaben-Wahrnehmung überwinden, aber | |
trotzdem ist mein Beispiel ein Zeichen, dass ein moralischer Fortschritt | |
stattgefunden hat. Außerdem ist mein allerbester Freund Schwabe. Und | |
Hegelianer. Da kommt alles zusammen. | |
Hegel haben Sie in einem Interview einmal beleidigt als „irgend so einen | |
schwerfälligen Schwaben“. | |
Sie haben mich erwischt. Es sollte flapsig-lustig sein, aber da habe ich | |
meine eigenen Standards unterboten. Das ziehe ich zurück, das war | |
Schwabismus. Und Schwabismus ist auch verwerflich. | |
27 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
## TAGS | |
Identitätspolitik | |
Schwerpunkt Rassismus | |
China | |
Identität | |
Philosophie | |
Bildende Kunst | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Grüne | |
Kolumne Die eine Frage | |
Kolumne Chinatown | |
Philosophie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch über Kunst: Die allgegenwärtige Kunst | |
Von Politik wie Religion gefürchtet: Der Philosoph Markus Gabriel | |
analysiert die Kunst als fremde Macht, die sich der Kontrolle entzieht. | |
Spiegel-Interview mit Sandra Ciesek: Das Dilemma mit kritischen Fragen | |
Der „Spiegel“ hat die Virologin Sandra Ciesek im Interview „Quotenfrau“ | |
genannt und später relativiert. Dabei sollte er die Kritik als Gewinn | |
sehen. | |
Schwarz-grüne Zukunft: Verkrustungen durchbrechen | |
Glaubt eine Mehrheit daran, dass Zukunftspolitik noch möglich ist? Die | |
OB-Wahl in Wuppertal gibt eine Antwort. | |
Problem und Fortschritt: Die Mitte lebt | |
Corona, Identitätspolitik, Rechtspopulismus: Wir sind in einer Krise und | |
wissen noch nicht, wie weiter. Eskaliert der Streit in der Gesellschaft? | |
Leben zwischen Deutschland und China: Das Private ist politisch | |
In Deutschland verteidige ich China, in China Deutschland. Oft muss ich | |
zugeben, dass ich eigentlich nur mich selbst beschützen will. | |
Philosoph über Hoffnung: „Ich will alles, und es soll toll sein“ | |
Wenn das Hoffen aufhört, ist das der Tod, sagt Markus Gabriel. Ein Gespräch | |
über Theokratie und den Ausschluss Andersgläubiger. |