| # taz.de -- Problem und Fortschritt: Die Mitte lebt | |
| > Corona, Identitätspolitik, Rechtspopulismus: Wir sind in einer Krise und | |
| > wissen noch nicht, wie weiter. Eskaliert der Streit in der Gesellschaft? | |
| Bild: Eine stabile Gesellschaft wird nur durch politischer und kultureller Bear… | |
| Wir sind in der Krise und die Leute denken inzwischen auch, dass wir in der | |
| Krise sind. | |
| Aber gleichzeitig leben viele nicht in der Krise, jedenfalls fühlt es sich | |
| nicht so an, wenn wir an einem großartigen Sommerabend lauschig mit | |
| Freunden vor einem österreichischen Schnitzellokal sitzen. Aber dann kommt | |
| der Herr Ober und trägt eine Maske, weshalb einem wieder einfällt, dass wir | |
| auch in einer pandemischen Krisenzeit leben. | |
| Ich sage das auch, weil die Klimakrise die ungleich größere Bedrohung ist, | |
| aber die spielt im emotional erfahrenen Alltag keine Rolle. | |
| Demokratiekrise, Zukunft Europas, digitale Freiheitsbedrohung auch nicht. | |
| Will sagen: Das Bewusstsein für Krise und der Wunsch nach sogenannter | |
| Normalität sind beide präsent, abwechselnd oder auch nebeneinander. | |
| ## Keine bruchlose Erzählung | |
| Es ist eine ganz schwierige Situation, in der wir unsere alte Geschichte | |
| der Bundesrepublik, ihrer liberalen Demokratie und Marktwirtschaft, nicht | |
| mehr bruchlos weitererzählen können, aber uns auch noch nicht darauf | |
| verständigt haben, wie es weiter geht. Das schafft eine grundsätzliche | |
| Nervosität. Dann noch die Pandemie, Rechtspopulismus und ein Streit um das, | |
| was unzureichend „Identitätspolitik“ genannt wird. Dazu sind die bisher | |
| vorhandenen Argumente ausgetauscht sind, die Paradoxien aufgezeigt (etwa | |
| das Insistieren auf Identitäten als Mittel ihrer Überwindung) und nun | |
| steigert sich nur noch die Tonlage. Konfliktlösungsversuche werden so gut | |
| wie gar nicht betrieben. | |
| Man könnte den Eindruck gewinnen, es werde grundsätzlich gesellschaftlich | |
| und politisch immer unversöhnlicher und zwei Seiten rüsteten sich zum | |
| Showdown. USA mit Zeitverzögerung lautet eine beliebte These. Ich halte den | |
| Eindruck für falsch. Er wird von Leuten strategisch oder gar authentisch | |
| inszeniert, deren Geschäftsmodell auf Spaltung beruht. Darunter Politiker, | |
| asoziale Netzwerke und auch Nachrichtenmedien. | |
| Der [1][Streit], den wir erleben, verweist gleichzeitig auf ein Problem und | |
| einen Fortschritt. Der Fortschritt zeigt sich schlicht darin, dass wir in | |
| einer liberalen, kritischen, pluralisierten und eben nicht homogenen | |
| Gesellschaft leben, in der es unterschiedliche Interessen und Perspektiven | |
| gibt, die alle artikuliert, gehört und verhandelt werden können. Das | |
| Problem ist, den Durchblick zu behalten, Prioritäten zu setzen und einen | |
| Erzählfaden zu vereinbaren, mit dem die Lösung der Probleme eine gemeinsame | |
| Richtung bekommen. | |
| Der Affekt, der bei zu vielen Streits regiert: „Das geht gar nicht!“ Oder | |
| gar: „Du gehst gar nicht.“ | |
| Und das geht wirklich gar nicht. Die Frage lautet: Wie geht etwas – in der | |
| Realität? Wer fragt, was mit wem wie geht, lebt sofort in einer anderen | |
| Welt, in der die Gemeinsamkeiten Priorität haben, die ja übrigens enorm | |
| groß sind. In der Bauweise von Menschen gibt es keinen Unterschied. | |
| Klar ist man traditionell fein raus, wenn man sagt, dass das alles gar | |
| nicht geht und böse enden wird. Die selbstverliebten Grünen haben so | |
| Jahrzehnte vergeudet. Damit trägt man aber die Verantwortung, dass es nicht | |
| besser wird. Wenn die Gesellschaft reißt, dann nicht zwischen links und | |
| rechts, sondern zwischen innen und außen, deshalb geht es nicht darum, | |
| moralbuchhalterisch „links der Mitte“ zu sein, sondern darum, möglichst | |
| viele in dieser Mitte zu haben und möglichst wenige draußen zu lassen. Das | |
| geht nur mit politischer und kultureller Bearbeitung des Gemeinsamen und | |
| nicht des Spaltenden. | |
| Man hat mich schon der Naivität geziehen, aber ich sehe, dass sich seit | |
| einigen Jahren eine neue Mitte der Gesellschaft formiert, „beyond | |
| ideology“, deren Stärke es ist, dass sie eben nicht herumschreit, dass sie | |
| nicht homogen ist und sich nicht an Illusionen von Feindidentitäten | |
| aufgeilt. | |
| Wenn die den Geht-gar-nicht-Mief mit Can-Do-Spirit kontert, dann kann das | |
| richtig gut werden. | |
| 7 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /taz-Kolumne-ueber-Polizei/!5691333/ | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Die eine Frage | |
| Identitätspolitik | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Covid-19 | |
| Rechtspopulismus | |
| Identitätspolitik | |
| Annalena Baerbock | |
| Kolumne Die eine Frage | |
| Kolumne Die eine Frage | |
| Annalena Baerbock | |
| Rechtspopulismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Polarisierung der Gesellschaften: Dümmer als Trump | |
| Nach der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten: Braucht die | |
| liberale Demokratie eine neue Antwort auf Rechtspopulismus? | |
| Philosoph Markus Gabriel: „Vor Twitter habe ich Angst“ | |
| Wie wird die Welt besser? Der Philosoph Markus Gabriel über moralisches | |
| Wachstum, China, soziale Medien und Irrtümer in Identitätsdebatten. | |
| Die Grünen als Zentrum: Zwei Herzen im Gleichtakt | |
| Anders als in den Medien behauptet, haben die Grünen strategisch derzeit | |
| kein Problem. Sie brauchen bloß eines – aus Sicht der Konkurrenz. | |
| Der Fall Jakob Blasel: Bitte auch in die CDU! | |
| Sollen Fridays-for-Future-Leute in den Bundestag? Unbedingt! Denn in | |
| unserer Lage ist eine reine Widerstandshaltung verantwortungslos. | |
| Nach dem historischen Durchbruch: Es lebe die EU! | |
| Was wird aus der CDU/CSU ohne Merkel? Das ist die zukunft- und | |
| wahlentscheidende Frage nach dem EU-Gipfel in dieser Woche. | |
| Die Nachfolge Angela Merkels: Kann Söder Kanzler? | |
| Wer Kanzler werden will, muss der Bundesrepublik Orientierung für die | |
| nächste Phase geben. Das Duell ist ab sofort eröffnet. | |
| Liberale Politik und Populismus: Warum wurde Donald Trump gewählt? | |
| So richtig scheinen wir das immer noch nicht verstanden zu haben. Aber es | |
| wäre wichtig, damit wir die Ursachen verstehen und überwinden. |