# taz.de -- Buch über Kunst: Die allgegenwärtige Kunst | |
> Von Politik wie Religion gefürchtet: Der Philosoph Markus Gabriel | |
> analysiert die Kunst als fremde Macht, die sich der Kontrolle entzieht. | |
Bild: Der Philosoph Markus Gabriel – ein Vertreter des Neuen Realismus | |
Ausbeutung des Elends – Überfällige Warnung. Als Ai Weiwei vor ein paar | |
Jahren die Steinsäulen des Berliner Konzerthauses mit Hunderten | |
orangefarbenen Rettungswesten umhüllte, war das Geschrei groß. Es muss | |
schon jemand sehr von der Macht der Kunst überzeugt sein, wenn er das | |
Schicksal der Mittelmeerflüchtlinge mit einer Installation wenden will. | |
Wenn [1][Markus Gabriel] der „Macht der Kunst“ nun ein eigenes Bändchen | |
widmet, geht es ihm nicht um die von dem chinesischen Künstler strapazierte | |
Rolle der Kunst als politisches Werkzeug. | |
Der Bonner Ordinarius für Erkenntnistheorie, Jahrgang 1980, seit ein paar | |
Jahren das Wunderkind der zeitgenössischen Philosophie, sieht sie eher als | |
Geburtshelfer der Zivilisation. Die Artefakte unserer Vorfahren sieht er | |
als Katalysatoren von Fortschritt und menschlicher Selbsterkenntnis. | |
Weshalb der Homo sapiens so etwas wie „Künstliche Intelligenz“ sei. „Die | |
Geschichte selbst ist im Grunde eine Geschichte der Kunst“, folgert er. | |
Verfechter der Idee von Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen mag | |
diese Definition befremden. Auf den ersten Blick klingt es auch | |
überraschend für den Mitbegründer des „Neuen Realismus“. Doch man darf s… | |
Markus Gabriel nicht als Steinzeit-Materialisten vorstellen. Fiktionen | |
gehören für den Philosophen unauflöslich zur Realität. | |
## Stuhl von vorne | |
Eines seiner schönen Beispiele aus seinem gleichnamigen Buch von 2020: Wer | |
einen real existierenden Stuhl von vorne anschaue, imaginiere zwangsläufig | |
dessen nicht einsehbare Rückseite. | |
Sehr weit entfernt vom klassischen Materialismus ist Gabriel damit nicht. | |
Schließlich hat schon Karl Marx den Grundstein des Kapitalismus in Gestalt | |
der Ware als „sinnlich, übersinnliches Ding“ voll „metaphysischer | |
Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ bezeichnet. | |
Dieser eigentümliche Zwittercharakter des Wirklichen wirkt für Gabriel auch | |
im Kunstwerk. Auguste Rodins berühmte Statue „Le Penseur“, so argumentiert | |
er in dem neuen Bändchen, ist für ihn keine Bronze, sondern eine | |
Komposition mit einer „immateriellen Idee“. | |
Auf diesem geistigen Gehalt basiert für Gabriel die Macht der Kunst. | |
Deswegen fürchten sie Politik wie Religion. Nur warum treibt der Neorealist | |
die Metaphysik auf die Spitze und stilisiert Kunstwerke dann noch als | |
„radikal autonome Individuen“ und „absolute Entitäten“ gleichsam mythi… | |
## Neue Aufklärung und radikale Autonomie | |
Ein spekulativer Zug, der nicht nur Gabriels im selben Band vorgebrachter | |
Kritik des „romantischen Ästhetizismus“ widerspricht, sondern auch seinem | |
Plädoyer für eine „Neue Aufklärung“ in seiner ebenfalls 2020 erschienenen | |
Streitschrift „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“. Kunst als | |
Verkörperung „radikaler Autonomie“, die „amoralisch, ajuristisch und | |
apolitisch“ ist – das kommt herrlich apodiktisch, fast nihilistisch daher. | |
Gabriels Idee freilich, Kunst sei „eine fremde Macht, die in keiner Weise | |
einer Kontrolle des menschlichen Subjektes unterliegt“ und deren „Existenz | |
an keinem Punkt fundamental mit irgendeiner universellen Struktur verbunden | |
ist“, steht reichlich quer zu seiner These, dass Kunstwerke „keine | |
natürlichen Erzeugnisse“, sondern von Menschen gemacht sind, die wiederum | |
soziomoralischen „Vereinheitlichungsformen“ unterliegen. | |
Wie könnten ihre Artefakte davon nicht infiziert sein, wenn sich schon, so | |
Gabriel, die heiße Sonne verändert, wenn der Mensch nur den Blick darauf | |
lenkt? | |
Trotz aller Widersprüche ist Gabriels Essay eines im besten Sinne dieses | |
Genres: scharfsinnig und anregend. Seine Schlussfolgerung freilich: „Kein | |
Künstler kann vorhersagen, was passieren wird, nachdem man ein Werk | |
interpretiert hat“, ist nicht viel mehr als ein Aufguss diverser Theorien | |
zur ästhetischen Erfahrung, die auf Vernissagen meist in der Floskel „Der | |
Betrachter ist im Bild“ zusammenschnurren. Sie gilt selbst für ein so | |
brutal eindeutiges Werk wie [2][Ai Weiweis] pathetisches Fluchtmenetekel in | |
der Mitte Berlins. | |
16 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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