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# taz.de -- Ohne Krach und Tinnitus: Drohnenshow gegen böse Geister
> Befürworter:innen des Umweltschutzes böllern an Silvester, was das Zeug
> hält. Dabei ist eine Drohnenshow wie in Schanghai Frieden für alle Sinne.
Bild: Auch in Singapur gab es fliegende Drohnen statt Böllerei
Das neue Jahr ist gerade mal eine gute Woche alt und ich habe schon
Beschwerden: Ich denke, es ist ein geistiger Tinnitus. Ich weiß nicht, ob
er schon vorher da war oder ob er mir einfach in die Seele [1][geböllert
wurde, in der Silvesternacht] auf dem Nussberg, der eigentlich kein Berg
ist, sondern eine niedersächsische Anhöhe. Egal, jedenfalls fiept es mir
unaufhörlich durch mein Innerstes, ein bisschen wie dieser Ton, wenn der
Herzschlag eines Menschen versiegt ist und der Monitor statt der Sinuskurve
nur noch eine durchgehende Linie zeigt.
So viel Müll, den man hätte gut im letzten Jahr lassen können: Debatten mit
und über Nazis ([2][jetzt teils antirassistisch]), Kriegsgebaren ([3][jetzt
teils nuklear]), Umweltsäue ([4][jetzt teils im Rentenalter]). Pieeeeeeeep.
Schuld kann nur dieses grausame Feuerwerk gewesen sein, ein Fest für die
Augen und das Gefühl, aber Folter für alle anderen Sinne. Ist es das wert?
Ich habe lange versucht, nichts gegen Böller zu haben, weil eine echte
Chinesin natürlich nichts gegen Böller hat. Außerdem mag ich die Idee, dass
das große Knallen böse Geister vertreibt, ich glaube sogar daran. Geister
sind schließlich nichts weiter als griesgrämige Menschen in verändertem
Aggregatzustand und die lassen sich gut verscheuchen mit etwas Krawumm.
In der Silvesternacht auf dem niedersächsischen Pseudoberg habe ich mich
gefragt, wie viele der Anwesenden sonst Umweltschutzbefürworter:innen sind.
Da ich nur mich selbst gefragt habe – es war zu laut und zu gefährlich, um
sich anderen verbal oder körperlich zu nähern –, habe ich keine belastbaren
Ergebnisse. Aber ich glaube daran, dass die meisten Feuerwerkfans
normalerweise relativ ordentlich ihren Müll trennen.
Ich glaube, dass sie sich letztens beim Zahnarzt freudig darüber
ausgetauscht haben, dass Lidl endlich Biosalatgurken ohne Plastikverpackung
verkauft. Aber die Silvesternacht ist der ultimative Cheatday. Was an
Silvester passiert, verschwindet mit einem großen Schlurps in der
merkwürdigen Zeit „zwischen den Jahren“, die sich immer wieder aufs Neue
auftut, nur um eine Weile später nie dagewesen zu sein. Schluuuurps. Piep.
Bloß mein seelischer Tinnitus bleibt.
Der Cheatday ohne Konsequenzen ist eine Illusion, die mein
Selbstverständnis und ich uns nicht mehr leisten können. Wer an die Geister
glauben will, muss auch mit dem Tinnitus leben. Außer man macht es wie die
Stadtregierung von Schanghai. Die hat das Oldschool-Feuerwerk verboten und
durch eine Drohnenshow ersetzt. Ein Fest für die Augen, leichte
Ernüchterung fürs Gefühl, aber Frieden für alle anderen Sinne. Dass das
Spektakel bereits Tage vor dem Jahreswechsel (der nach dem Mondkalender
ohnehin erst Ende Januar stattfindet) aufgezeichnet wurde, passte
westlichen Medien gut in die Fake-News-aus-China-Sparte. Good for you.
Dabei war die wesentlichere Nachricht, dass böse Geister in Zukunft von
Drohnen vertrieben werden. Ganz ohne Krach, nur leider vermutlich nie ohne
Konsequenzen.
8 Jan 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Lin Hierse
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