| # taz.de -- Von Kindheit und Großmüttern: Hände, die mich halten | |
| > Gelebtes Leben zeichnet sich auch in den Händen ab. Zwei Großmütter haben | |
| > viel gesehen und erfahren. | |
| Bild: Falten erzählen vom Erlebten | |
| Die Hände meiner Großmütter haben viel erlebt. Das muss nicht | |
| außergewöhnlich sein, weil Hände mit ihren Besitzer:innen altern. | |
| 90-jährige Hände haben also höchstwahrscheinlich mehr erlebt als 30-jährige | |
| Hände. Die Hände meiner Großmütter, vier insgesamt, waren im Krieg. Sie | |
| waren kalt und arm, in Europa und in Asien. | |
| Ich kenne Anekdoten und Eckdaten aus dem Leben meiner Großmütter, aber | |
| eigentlich weiß ich nichts genau. Manchmal male ich mir ihre | |
| Lebensgeschichte aus. Ich setze das unvollständig Überlieferte zusammen, | |
| und dann male ich. Drumherum, zwischendrin, manchmal über den Rand. | |
| Abu ist in den 1920ern in der Nähe von Schanghai geboren. Oma in den | |
| 1930ern in Schweidnitz. Abu hat sechs Kinder bekommen, drei Jungen, drei | |
| Mädchen. Sie alle tragen Namen, die sie miteinander verbinden. Manchmal | |
| trugen sie sich gegenseitig zur Fabrik, in der Abu arbeitete. Die älteren | |
| trugen die jüngeren, viele Kilometer, damit Abu sie in der Mittagspause | |
| stillen konnte. | |
| Abu und ihre Kinder trugen rote Steine, die stapelten sie übereinander und | |
| bauten ein Haus mit Blick auf ein Feld. Dort, wo das Feld den Stadtrand | |
| markierte, ist heute das Stadtzentrum von Schanghai. Oma hat acht Kinder | |
| bekommen, fünf Jungen und drei Mädchen. Ihre Namen sind einfach Namen. Sie | |
| trugen sich zu keiner Fabrik. Dafür trugen sie mit Oma zusammen Berge von | |
| Wäsche, Geschirr und Verantwortung für einen großen Haushalt. | |
| ## Ihre Hände sehe ich noch vor mir | |
| Abu hatte Angst vor den Japanern, Oma vor den Kommunisten. Ich weiß nicht, | |
| was Abus Hände taten, als japanische Soldaten ihr die Ohrringe | |
| herausrissen. Viel später fuhren sie sanft die gespaltenen Ohrläppchen | |
| entlang. Ich weiß nicht, was Omas Hände taten, als die Nazis begannen, | |
| Juden zu deportieren. Viel später schenkten sie mir ein Buch mit dem Namen | |
| „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. | |
| Abu verlor einen Sohn an den Krebs, Oma eine Tochter. Abu musste dabei | |
| sein, als ihr Sohn begraben wurde. Ihre Hände mussten über seinen Sarg | |
| streichen und feststellen, dass sich nicht jede Träne von ihnen auffangen | |
| lässt. Oma durfte vor ihrer Tochter gehen. Ihre Hände suchten in den | |
| letzten Tagen Gott, als ob man Gott plötzlich anfassen könnte. Sie verloren | |
| ihn kurz und dann fanden sie ihn wieder, gerade noch rechtzeitig. | |
| Abu und Oma sind beide nicht mehr da, aber ihre Hände sehe ich noch vor | |
| mir. Die dünne Haut, lichtdurchlässig wie Seidenpapier, faltig, | |
| altersgefleckt und durchzogen von grünblauen Adern. Die Leute sagen, Blut | |
| sei dicker als Wasser. Ich weiß, dass ihr Blut auch meines ist. Trotzdem | |
| habe ich so oft die Hände meiner Großmütter gehalten, ohne sie nach ihren | |
| Geschichten zu fragen. | |
| Manchmal stelle ich mir vor, dass ich zwischen meinen Großmüttern sitze, | |
| auf einem großen Stuhl, und jeweils eine ihrer Hände halte. Hände, die sich | |
| halten und niemals ihre ganze Geschichte kennen. | |
| 12 Dec 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
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