| # taz.de -- Migration und Fachkräftemangel: Was immer ihn glücklich macht | |
| > Ein junger Vietnamese bekommt in Thüringen die Chance, Elektroniker zu | |
| > werden. Nach drei Monaten schmeißt er hin. Die Story eines | |
| > Missverständnisses. | |
| Bild: „So viele Autos und so wenige Menschen. In Vietnam ist es andersherum�… | |
| Nach dem Kaffeetrinken bauen sie das Buffet fürs Abendessen auf. In der | |
| hohen Maschinenhalle packen die Frauen die Reste der selbst gebackenen | |
| Kuchen ein. Oben Stahlträger, unten Tupperdosen. Der Caterer stellt | |
| Schlachteplatte, Sauerkraut und Kartoffeln bereit. Um die Getränkestände | |
| bilden sich Trauben von Menschen. | |
| Es ist der 29. November 2019, die Firma Dreiling feiert den 40. Geburtstag | |
| des Chefs, es ist zugleich die Weihnachtsfeier. Dreiling, ein | |
| Maschinenbauer in Thüringen, hat Geschäftspartner:innen und Freunde | |
| eingeladen. Die Herren aus dem Vorstand der Kreissparkasse sind da, fast | |
| alle 140 Mitarbeiter:innen mit Partner:innen und Kindern. Und die Azubis. | |
| An einem der langen Tische sitzt Tu Nguyen, 19 Jahre alt. Er macht gerade | |
| eine Ausbildung als Elektroniker in der Firma und wohnt hier in Geisleden, | |
| einer 1.000-Einwohner-Gemeinde 70 Kilometer nordwestlich von Erfurt. | |
| 18 Flugstunden trennen Nguyen von seiner Heimatstadt, der Millionenstadt | |
| Hanoi. Zusammen mit 35 anderen Jugendlichen ist er im September 2019 nach | |
| Deutschland gekommen. Die Vietnames:innen sind die Hoffnung der Thüringer | |
| Mittelständler. | |
| Jeder dritte Betrieb in Deutschland meldete 2019 unbesetzte | |
| Ausbildungsplätze. Im Osten ist der Mangel besonders groß. Der | |
| Geburtenknick in den Neunzigern und die Abwanderung schlugen im dritten | |
| Jahrzehnt nach der Wende voll durch. Das Programm „Auszubildende aus | |
| Drittstaaten“ soll helfen, den chronischen Mangel an Nachwuchs zu lindern. | |
| An diesem Abend sitzt Tu Nguyen ganz allein am Ende der Tafel. Die anderen | |
| Lehrlinge stehen im vorderen Teil der Halle zusammen. Nguyen schaut auf | |
| sein Handy. Er überlegt, wann er gehen kann, ohne dass es unhöflich wirkt. | |
| Am nächsten Morgen wird er seine Kündigung in den Briefkasten neben der | |
| Werkshalle werfen. | |
| Was ist schiefgegangen? Ist Nguyen gescheitert – oder das Programm? | |
| Die taz hat Tu Nguyen über ein Jahr begleitet. Das erste Treffen fand im | |
| April 2019 in Hanoi statt, es folgten drei Besuche in Geisleden. Einmal war | |
| er in Berlin. Es besteht weiter Kontakt zu ihm. Am Anfang stand die Idee | |
| einer Reportage, die zeigen sollte, wie die deutsche Wirtschaft im Ausland | |
| Lehrlinge sucht. Daraus geworden ist die Geschichte eines jungen Manns auf | |
| der Suche nach sich selbst – und einem Platz für sich in Deutschland. | |
| ## Flyer aus Südthüringen | |
| Nguyen ist 19 Jahre alt, als wir uns das erste Mal begegnen, er hat schmale | |
| Hände und einen weichen Blick, er trägt eine randlose Brille. Er spricht | |
| leise, denkt zwischen den Sätzen nach und tippt dabei leicht mit dem | |
| Zeigefinger gegen die Oberlippe. Er lese gern, erzählt er bei der ersten | |
| Begegnung in Hanoi, und schreibe auch Gedichte. Er interessiert sich für | |
| Fotografie. Auf seiner Facebook-Seite postet er Aufnahmen. Wie die eines | |
| Vogels am Küchenfenster seiner Wohnung. „Seht mal, wen ich heute Morgen | |
| entdeckt habe“, schreibt er dazu. | |
| Nguyens Weg nach Deutschland beginnt im Sommer 2018. Damals, im Juni, nimmt | |
| er am Aufnahmetest der Nationaluniversität Hanoi teil. Fast eine Million | |
| Schulabgänger:innen machen die landesweiten Prüfungen, nur jede:r Zweite | |
| bekommt einen Platz. An den renommiertesten Universitäten in Hanoi und | |
| Ho-Chi-Minh-Stadt ist die Konkurrenz am größten, die Auswahl am härtesten. | |
| „Ich hab’s versaut“, denkt Nguyen nach der Matheprüfung. Sein Vater wart… | |
| vor der Uni auf ihn und drückt ihm einen Flyer in die Hand, von einer | |
| Firma, die im Auftrag der Südthüringer Industrie- und Handelskammer Azubis | |
| für ihre Mitgliedsunternehmen rekrutiert. „Lust, ins Ausland zu gehen?“, | |
| fragt er. – „Ich habe wohl keine andere Wahl“, antwortet Nguyen. Er bewir… | |
| sich für das Programm. Und wird genommen. | |
| Der Vater, ein kräftiger Mann mit kurzem Haar, kennt Deutschland. Er hat in | |
| den Neunzigern in Rheinland-Pfalz als Kellner und Erntehelfer gearbeitet. | |
| Tu Nguyen ist aufgewachsen mit den Erzählungen seines Vaters, wie toll es | |
| in Deutschland sei. In Hanoi arbeitet der Vater heute als Kraftfahrer, die | |
| Mutter ist Hausfrau. | |
| Die Familie ist nicht reich, aber sie hat ein Haus, und die Eltern stecken | |
| viel Geld in die Ausbildung der beiden Kinder. Die ältere Schwester hat | |
| Englisch studiert und arbeitet als Lehrerin, Tu Nguyen hat sein Abi mit | |
| Einserschnitt gemacht. „Streng dich an, damit du besser wirst“ – diesen | |
| Satz hat er oft von seinen Eltern gehört. | |
| Später erfährt Nguyen, dass er den Aufnahmetest für die Uni doch bestanden | |
| hat. Er entscheidet sich trotzdem für Thüringen und das Angebot, eine | |
| Ausbildung zum Polsterer zu machen. Er war noch nie im Ausland. | |
| ## Jede:r Dritte ist jünger als 25 Jahre | |
| In Vietnam leben fast 95 Millionen Menschen, jede:r Dritte ist jünger als | |
| 25 Jahre. Der enorme Kinderreichtum belastet das Land auch – es gibt nicht | |
| genügend Jobs, Studien- und Ausbildungsplätze für alle. Nur die Besten | |
| haben eine Chance auf die angesehenen Akademiker:innenjobs. Selbst viele | |
| Hochschulabsolvent:innen finden nach dem Studium keine Arbeit. | |
| In Deutschland das entgegengesetzte Bild: eine älter werdende Gesellschaft | |
| und Betriebe, die – vor der Coronakrise – selbst hochwertige | |
| Ausbildungsplätze oft nur schwer besetzen konnten. | |
| Ein reiches westliches Industrieland mit sinkender Geburtenrate und ein | |
| sehr viel ärmeres Schwellenland mit einer wachsenden Bevölkerung. Den einen | |
| mangelt es an Menschen, den anderen an gut bezahlten Jobs. Es klingt wie | |
| eine perfekte Liaison, eine Win-win-Situation, zumindest aus Sicht der | |
| Mittelständler:innen in Deutschland. Aber ist es auch ein Austausch auf | |
| Augenhöhe? | |
| Seit 1955 warb die Bundesrepublik Gastarbeiter:innen an – zunächst aus | |
| Italien, dann auch aus Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal und | |
| Jugoslawien. Die DDR unterzeichnete 1979 ein Abkommen mit der | |
| vietnamesischen Regierung, um Zehntausende Vertragsarbeiter:innen zu holen. | |
| In beiden Staaten sollten die Ausländer:innen monotone Tätigkeiten in der | |
| Produktion erledigen. Bloß keine Wurzeln schlagen sollten sie und nach | |
| getaner Arbeit in ihre Heimatländer zurückkehren. Es kam anders. | |
| Thüringen will es diesmal besser machen. Man will Menschen, die sich | |
| wohlfühlen und sesshaft werden. Die Jugendlichen lernen vor der Abreise ein | |
| Jahr Deutsch, die Industrie- und Handelskammer (IHK) bezahlt den Kurs. Vor | |
| Ort, in Thüringen, werden sie während der Ausbildung von | |
| Sozialarbeiter:innen betreut. Die begleiten sie zum Arzt, zur | |
| Ausländerbehörde oder zum Sportkurs. Die Kosten übernimmt der Freistaat. | |
| Die Firma Dreiling, ein Familienunternehmen, nimmt seit zwei Jahren an dem | |
| Programm teil und hat mehrere vietnamesische Auszubildende. Engelbert | |
| Dreiling hat das Unternehmen 1982 gegründet und bis zur Wende neun | |
| Mitarbeiter:innen beschäftigt. Heute baut die Firma maßgeschneiderte | |
| Maschinen für den internationalen Markt. Jedes Jahr bietet sie | |
| Ausbildungsplätze an: für Elektroniker:innen, Mechaniker:innen und | |
| Mechatroniker:innen. Man habe in den vergangenen Jahren immer weniger | |
| Bewerber:innen für die Plätze gefunden, sagt Juniorchef Sven Dreiling, Sohn | |
| des Gründers. „Wir nehmen mittlerweile auch Leute, die nicht die besten | |
| Noten in Mathe und Physik haben.“ Dennoch blieben Plätze unbesetzt. Bis die | |
| Dreilings von dem Vietnamprogramm hörten. | |
| ## Die Liste ist nach wenigen Stunden voll | |
| Als die IHK die Anmeldung für interessierte Ausbildungsbetriebe im August | |
| 2018 startet, ist die Liste nach wenigen Stunden voll. Die Dreilings, die | |
| im Vorjahr noch sechs Azubis aus Vietnam rekrutiert haben, bekommen nur | |
| einen Platz auf der Warteliste. | |
| Die Auswahl in Vietnam übernimmt eine vietnamesische Firma, die Hanoi IEC. | |
| Sie gehört Thi Thanh Tam Nguyen. In Thüringen kennt man die resolute Frau | |
| als Frau Tam, seit 2007 arbeitet sie eng mit dem Land zusammen. Der | |
| vietnamesische Staat schickte sie noch vor dem Mauerfall mit einem | |
| Regierungsstipendium nach Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, um Philosophie | |
| zu studieren. | |
| 2001 kehrte sie mit drei Abschlüssen in Philosophie, Internationalen | |
| Beziehungen und Wirtschaft zurück. Seither arbeitet sie als Beraterin. 100 | |
| Jugendliche hätten sich für die 40 Plätze des Thüringenprogramms beworben, | |
| sagt Frau Tam. Sie wählt die künftigen Azubis nach Noten und | |
| Sprachkenntnissen aus oder rekrutiert sie direkt an der Technischen | |
| Fachhochschule. | |
| „Ich hatte größten Respekt davor, junge Leute aus einem anderen Kulturkreis | |
| dauerhaft in Thüringen anzusiedeln“, sagt Ralf Pieterwas, ein drahtiger | |
| Mann mit Bürstenschnitt. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Südthüringen | |
| reiste 2016 zum ersten Mal nach Vietnam, zur Erkundung. Heute sei er froh, | |
| dass der Austausch läuft. | |
| Pieterwas ist auch dabei, als die Unternehmergruppe am 7. April 2019 in | |
| Hanoi landet. Außerdem sind Sven und Engelbert Dreiling mit an Bord sowie | |
| die Gründerin eines Start-ups für Biozellstoff, ein Bäckermeister, der | |
| Geschäftsführer einer Firma für Medizinglas und 70 weitere | |
| Unternehmer:innen. | |
| In der Maschine sitzt auch der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow. | |
| „Schon am Morgen erwartet mich ein emotionaler Höhepunkt dieser Reise“, | |
| schreibt er in sein Onlinetagebuch. „Gemeinsam mit unserer großen | |
| Delegation treffe ich auf mehr als 30 junge Menschen, die sich bald nach | |
| Thüringen aufmachen, um in unserem Bundesland einen Beruf zu erlernen. Mir | |
| ist es ein Bedürfnis, den jungen Leuten und ihren Eltern die Sicherheit zu | |
| vermitteln, dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben.“ Das | |
| Projekt Fachkräfteanwerbung für Thüringen wird zum Staatsakt. | |
| ## Hanoi und die Hitze | |
| Es ist schwül in Hanoi, fast 30 Grad. Die Regenzeit naht. Der Verkehr | |
| fließt gemächlich, Mopeds schwirren um den Konvoi herum, stoßen in jede | |
| sich bietende Lücke. In Kleingruppen schwärmen die Unternehmer:innen in | |
| Hanoi aus, um die Familien ihrer zukünftigen Azubis kennenzulernen. Die | |
| Polsterei, in der Tu Nguyen eigentlich anfangen soll, hat niemanden | |
| geschickt. Weil er so gut Deutsch spricht, bittet ihn seine Lehrerin, die | |
| deutschen Unternehmer:innen zu einer anderen Familie zu begleiten, um zu | |
| dolmetschen. | |
| Der Delegationsbus der Deutschen hält vor einem Hochhaus. Nguyen hat sein | |
| Moped bereits abgestellt. Zu acht quetschen sich die Männer und Frauen in | |
| den Fahrstuhl, der im 14. Stock hält. Es geht einen langen Gang entlang, | |
| alle paar Meter stehen rechts und links die Wohnungstüren offen. Kinder | |
| spielen auf dem Gang. In der letzten Wohnung wohnt die Familie von Ling | |
| Tran, Mutter, Vater und zwei Töchter. Im Wohnzimmer haben die Frauen Teller | |
| mit Obst und Süßigkeiten aufgestellt. Die Deutschen nehmen auf dem Sofa | |
| Platz. Tu Nguyen setzt sich ganz ans Ende auf einen blauen Plastikstuhl. | |
| Der Ventilator an der Decke verwirbelt die schwüle Luft im Raum. | |
| Ling Tran ist 22 Jahre alt. Sie hat in Hanoi ein Jahr Architektur studiert. | |
| Nun wird sie in Thüringen eine Ausbildung zur Mechatronikerin machen. Sie | |
| arbeite gern mit den Händen, übersetzt Nguyen für sie. Tran lächelt | |
| unsicher und schaut zu ihrer künftigen Chefin. Die sitzt neben ihr und | |
| drückt sachte Trans Arm. IHK-Geschäftsführer Pieterwas wendet sich an die | |
| Mutter. „Vielen Dank für Ihr Vertrauen. Sie vertrauen uns das Wertvollste | |
| an, was sie besitzen: ihre Tochter.“ | |
| Die Mutter bedankt sich. Sie sei sehr froh, sagt sie, dass ihr Tochter nun | |
| bald viele neue Dinge lerne. Ling Trans Schwester fragt forscher: Wie viele | |
| freie Tage Ling haben werde? Pieterwas zählt auf: 24 Tage Urlaub, dazu | |
| zwölf Feiertage, und die Wochenenden seien auch frei. Die Schwester | |
| strahlt. Dann sagt sie ernst: „Wenn Ling in Deutschland ist, wird sie sehr | |
| weit weg sein. Wir hoffen, dass Sie sie in Thüringen unterstützen und sie | |
| wie eine Familie aufnehmen.“ Nguyen übersetzt, Pieterwas nickt, man werde | |
| gut für sie sorgen. | |
| Nach einer knappen Stunde verabschieden sich die Deutschen zufrieden. Nur | |
| einer murmelt auf dem Weg nach unten: „Da blutet einem doch das Herz, wenn | |
| ich sehe, wie jemand, der Architektur studiert, in Deutschland noch mal | |
| eine Ausbildung machen soll.“ | |
| ## Schwarze Anzüge, blank gewienerte Schuhe | |
| Ein sonniger Septembertag in Suhl. Im verglasten Saal eines Betonquaders, | |
| in dem die Geschäftsstelle der IHK untergebracht ist, sind alle Stuhlreihen | |
| besetzt. Die vietnamesischen Jungen tragen schwarze Anzüge zu blank | |
| gewienerten Lederschuhen, die Mädchen bunte Seidenkleider. Vor einer Woche | |
| sind die 35 Jugendlichen in Frankfurt am Main gelandet. Nun werden sie von | |
| ihren Ausbilder:innen abgeholt. Der Präsident der IHK ruft sie nacheinander | |
| aufs Podium und verabschiedet sie in ihre Ausbildungsbetriebe. „Ein toller | |
| Beruf“, sagt er. Oder auch: „Immer schön fleißig!“ | |
| Neben Tu Nguyen sitzt Michael Hübenthal von der Firma Dreiling, am Daumen | |
| ein Rest Schmiere. Er stellt sich als „die rechte Hand“ des Chefs vor. | |
| Hübenthal staunt bei der Verabschiedung: „Mensch, so viele Gebäudereiniger. | |
| Bei uns war das ’ne Strafarbeit.“ | |
| Die Polsterei hatte im Juni kurzfristig abgesagt. Eine Konditorei wollte | |
| Nguyen übernehmen, zog sich dann aber zurück. Er war verzweifelt. Musste er | |
| als Einziger in Vietnam bleiben? Die Dreilings sprangen gern ein – wenn er | |
| wolle, könne er Zerspanungsmechaniker oder Elektroniker bei ihnen lernen. | |
| Nguyen entschied sich für Elektroniker. Auf Facebook änderte er seinen | |
| Namen in Stefan. Den würden die Deutschen leichter aussprechen können. | |
| Hübenthal fährt mit dem Kleinbus vor, und Nguyen holt seine Sachen: drei | |
| große Koffer und einen Rucksack. In einem der Reisekoffer steckt sein | |
| Bettzeug. Seine Tante, die in Frankfurt am Main wohnt, hatte geschrieben, | |
| es sei oft kalt in Deutschland, und Decken seien teuer. Doch dieser | |
| Septembertag ist sehr mild, Nguyen zieht seine Jacke aus. Er schwitzt. | |
| Von Suhl fährt Hübenthal über Autobahnen nach Norden, später auf | |
| Landstraßen durchs Eichsfeld. In den Dörfern säumen Fachwerkhäuser die | |
| Straßen. Nguyen wundert sich. „Es gibt so viele Autos und so wenige | |
| Menschen. In Vietnam ist es andersherum.“ | |
| Im Tal, in dem Geisleden liegt, tauchen die Hallen der Firma Dreiling auf | |
| wie sechs riesige Schuhkartons, die jemand inmitten von Feldern und Hügeln | |
| abgestellt hat. Hübenthal hält vor der größten Halle. Eine Mitarbeiterin | |
| bringt Nguyen in den ersten Stock, in die Verwaltung. Ob er etwas trinken | |
| wolle? Er verneint. Die Frau verlässt den Raum, Nguyen wartet, die Hände | |
| zwischen den Knien. Er ist nervös. | |
| Schließlich erscheint ein Mann im Blaumann, der Ausbildungsleiter. „Ich | |
| führ dich mal rum.“ Er zeigt Nguyen die Halle für die Baumaschinen, die | |
| Schlosserei, die Elektroabteilung. Es ist Freitagnachmittag, die Hallen | |
| leeren sich, die Belegschaft startet ins Wochenende. | |
| Während Nguyen herumgeführt wird, steht Firmenchef Sven Dreiling im | |
| schwarzen Anzug auf einer Empore über der Maschinenhalle und erzählt von | |
| Lehrlingen, erfolgreichen und gescheiterten. Er spricht von Chancen, die | |
| man gewährt habe und die nicht genutzt worden seien. Manche Jugendliche | |
| seien kaum noch zu motivieren, klagt er. Mal eine Halle fegen? I wo! Die | |
| wüssten ja, dass sie sich die Jobs mittlerweile aussuchen könnten. „Einem, | |
| der will, kannst du alles beibringen“, sagt er. „Aber wenn einer nicht | |
| will, dann kannst du machen, was du willst, den kriegst du nicht.“ | |
| ## Die klassischen Familienunternehmer | |
| Sein Vater hat das Unternehmen gegründet, Sven Dreiling ist nach Ausbildung | |
| und Studium als Juniorchef eingestiegen, seine Schwester führt die | |
| Tochterfirma. Die Dreilings sind klassische Familienunternehmer, sie fühlen | |
| sich für ihren Betrieb und jeden einzelnen Mitarbeiter verantwortlich. Man | |
| arbeitet zusammen, und man feiert zusammen. Wie eine Familie eben. | |
| In jeden Lehrling investiere die Firma viel Geld, sagt Dreiling. In die | |
| vietnamesischen sogar etwas mehr. Sie bekommen ein höheres | |
| Ausbildungsgehalt, damit sie die Anforderung für die Aufenthaltsgenehmigung | |
| erfüllen. Die Firma hat außerdem eine Deutschlehrerin engagiert, die einmal | |
| wöchentlich Nachhilfe gibt. Trotz des einjährigen Deutschkurses in Hanoi | |
| sprechen viele bei ihrer Ankunft nur gebrochen Deutsch. | |
| Nguyen spricht besser Deutsch als die meisten seiner Kommiliton:innen. Das | |
| hat die Dreilings schon in Vietnam beeindruckt. Auch deshalb haben sie ihm | |
| den Ausbildungsplatz kurzfristig angeboten. | |
| Zum Schluss des Rundgangs zeigt der Ausbildungsleiter Nguyen die | |
| Werkswohnung. Hier kann er für die nächsten Monate einziehen, gegen 50 Euro | |
| Miete. Von außen sieht das Gebäude aus wie eine weitere Halle, gesichert | |
| von einem stabilen Zaun mit Rolldraht. „Hier kommen alle unter, die ein | |
| bisschen heimatlos sind“, sagt der Ausbildungsleiter. Nguyen wird sich die | |
| Wohnung mit einem Monteur aus Cottbus teilen, der zur Begrüßung nickt und | |
| dann in seinem Zimmer verschwindet. | |
| Vier Schlafzimmer, ein kleines Wohnzimmer mit Sofa und Fernseher und eine | |
| große Küche mit Esstisch, Herd und zwei Kühlschränken. An der Wand daneben | |
| ein Kalender, der Monat September zeigt ein Pin-up-Girl mit kurzer Hose und | |
| vollen Brüsten. | |
| Die Mitarbeiterin aus dem Büro ist dazugekommen und öffnet einen der | |
| Kühlschränke. „Wir haben etwas für dich eingekauft“, sagt sie zu Nguyen. | |
| „Margarine, Gurken, Würstchen, Brot, Nutella, alles da. Für den Anfang | |
| reicht’s.“ Sie lächelt aufmunternd. „Das erste Wochenende ist immer hart… | |
| Aber in die Stadt, nach Heiligenstadt, sind es nur fünf Kilometer. „Der Bus | |
| hält gleich dort unten“, sagt sie und macht eine Bewegung in Richtung der | |
| leeren Landstraße. „Am Wochenende fährt er leider nicht.“ | |
| Die Tür geht auf. Zwei vietnamesische Lehrlinge kommen herein. Sie sind | |
| seit einem Jahr hier, haben in der Wohnung gewohnt und sind gerade | |
| ausgezogen in eine WG in Heiligenstadt. Sie holen ein paar Sachen. Ngoc | |
| Giang Bui, Spitzname Biene, hakt die Daumen in die Träger seiner blauen | |
| Arbeitshose. Er wechselt ein paar Worte auf Vietnamesisch mit Nguyen. Dann | |
| wendet er sich an den Ausbildungsleiter: „Hi, wollen wir mal wieder …?“ Er | |
| formt seine Hand zur Pistole. – „Klar“, sagt der Ausbilder. „Ich kann d… | |
| mal wieder zum Schießen mitnehmen.“ Bui strahlt. Nguyen steht daneben. Er | |
| sieht erschöpft aus, sein Anzug wirkt viel zu groß an ihm. | |
| Im Oktober sind die warmen Tage einem nassen Herbst gewichen. Es ist schon | |
| fast Mitternacht, als Nguyen die Tür zu seiner Wohnung öffnet. Das Licht | |
| geht mit Bewegungsmelder an. Nguyen hat etwas Hühnchen warmgemacht. Ob er | |
| Reis kochen solle? Die Verwandten aus Frankfurt waren da und haben für ihn | |
| eingekauft. Der Kühlschrank ist voll, neben Dosen mit Frühlingsrollen und | |
| Fleisch sind auch noch die Margarine und das Schnittbrot drin, das die | |
| Mitarbeiterin am ersten Tag reingestellt hat. Auf dem Wandkalender räkelt | |
| sich noch die Septemberfrau. | |
| ## Bloß nicht zurückkehren | |
| Nguyen ist jetzt seit fast zwei Monaten in Deutschland. Die Menschen seien | |
| sehr freundlich, sagt er. „In Geisleden werde ich immer gefragt, ob ich | |
| Hilfe brauche.“ Einmal ist er auf dem Weg zum Bahnhof an der falschen | |
| Bushaltestelle ausgestiegen. Jemand hat ihn schnell im Auto mitgenommen. | |
| Nguyen setzt sich auf das Sofa im Wohnzimmer und isst das Hühnchen ohne | |
| Reis. Das Licht im Flur geht irgendwann aus. Er wohnt inzwischen allein in | |
| der Werkswohnung, der Cottbuser Monteur ist ausgezogen. Jeden Morgen um | |
| sechs kommen die anderen vietnamesischen Lehrlinge mit dem Bus aus | |
| Heiligenstadt und schlafen noch eine halbe Stunde auf dem Sofa im | |
| Wohnzimmer. Um 6.30 Uhr beginnt die Arbeit. | |
| Der ältere Dreiling sei streng, sagt Nguyen. Er komme manchmal und | |
| kontrolliere, ob die Wohnung aufgeräumt sei. Er dränge ihn auch, schnell | |
| einen Führerschein zu machen, das Geld könne ihm die Firma vorschießen. | |
| Nguyen zögert noch. | |
| Die Sozialarbeiter:innen haben für alle vietnamesischen Azubis in dem | |
| Programm einen Ausflug organisiert, erzählt Nguyen. Sie waren im | |
| Kletterwald. Es sei sehr lustig gewesen, er war noch nie in so einem Park. | |
| „Und für uns war alles gratis.“ Die Jugendlichen hätten sich untereinander | |
| ausgetauscht. Ein Mädchen arbeite in einer Möbelfabrik. „Sie kann sich ihre | |
| Urlaubstage nicht frei aussuchen, die Firma gibt ihr vor, wann sie | |
| Betriebspause machen soll“, berichtet Nguyen und ist empört. Ein anderer | |
| arbeite als Gebäudereiniger, er müsse jeden Tag zehn Etagen reinigen. Sehr | |
| anstrengend. | |
| Ein Mädchen, das eine Banklehre machte, habe im Oktober gekündigt. Ihr Chef | |
| hätte sie am liebsten behalten, selbst ohne Ausbildung. Doch sie habe | |
| zurückgewollt. Kaum einer der anderen vietnamesischen Jugendlichen habe | |
| Verständnis gehabt, sagt Nguyen, alle hätten sie kritisiert: Was für eine | |
| Verschwendung! Dabei möchten die meisten ihre Jobs nicht. „Alle, mit denen | |
| ich mich unterhalten habe, haben sich über ihre Arbeit beschwert“, sagt er. | |
| Doch zurückkehren wolle niemand. Die Schmach wäre zu groß. „Ihre Familien | |
| wollen, dass sie bleiben, Deutsche werden und ein besseres Leben haben.“ | |
| Die Arbeit als Gebäudereiniger in Oschersleben oder als Fleischerin in | |
| Schmalkalden mag wenig prestigeträchtig sein. Dafür verdienen die Mädchen | |
| und Jungen in einem Monat so viel wie ihre Familien in einem Jahr. In | |
| Vietnam gelten sie als reiche Westler:innen. | |
| Viele seiner Freund:innen schickten einen Teil ihres Ausbildungsgeldes nach | |
| Hause, berichtet Nguyen. Er selbst müsse kein Geld senden. Seine Familie | |
| wolle nur, dass es ihm gut gehe. Seit er in Deutschland ist, reist er viel, | |
| er schaut sich Berlin an und besucht seine Freundin in Lübeck. Er hat sie | |
| in Deutschland kennengelernt, über Facebook. Sie kommt auch aus Vietnam und | |
| ist mit einem Programm für Pflegekräfte eingereist. | |
| ## Stöhnen über den Job | |
| Im Vergleich zu anderen Lehrlingen habe er es wirklich gut getroffen mit | |
| Dreiling, sagt Nguyen. Er seufzt: „Aber der Job.“ Jeden Tag dasselbe. Seine | |
| Eltern hätten ihm immer erlaubt, das zu tun, was ihm Spaß mache und worin | |
| er gut sei. Malen, fotografieren, Gedichte schreiben. Leise sagt er: „Ich | |
| glaube nicht, dass ich diesen Job die nächsten drei Jahre machen kann.“ | |
| Schon in Hanoi wirkte Nguyen nicht wie einer, der gern mit den Händen | |
| werkelt. Am liebsten würde er Literatur studieren, sagte er damals. Nun | |
| redet er davon, Fotograf zu werden. Ein Leben als Elektriker kann er sich | |
| nicht vorstellen. Aber ist das wirklich ein Grund, eine Ausbildung mit | |
| Übernahmegarantie nach nur zwei Monaten abzubrechen? Seine | |
| Aufenthaltsberechtigung zu gefährden, die an diese Stelle geknüpft ist? Um | |
| was zu tun? Sich selbst zu verwirklichen? | |
| Selbstverwirklichung ist ein sehr deutsches Wort. In Deutschland und der | |
| westlichen Welt werden individuelle Bedürfnisse höher gewichtet als | |
| kollektive, in Vietnam nicht. Die in Deutschland aufgewachsene Journalistin | |
| Khue Pham reflektierte ihren Familienbesuch in Vietnam 2011 in einem | |
| Zeit-Artikel. „Wenn du in Vietnam bist, vergisst du, dass es ein Ich gibt. | |
| Du bist nie allein und hast weder die Ruhe noch die Sprache, um so zu | |
| denken. In Ich-Form zu denken ist selbstbezogen und anmaßend. Wer bin ich? | |
| Das ist eine Frage, die du in Vietnam nicht beantworten kannst.“ Nguyen | |
| aber hat sich die Frage nach der eigenen Identität schon in Vietnam | |
| gestellt. In Deutschland wird sie drängend, will beantwortet werden. | |
| Früh am nächsten Morgen zieht Nguyen seinen Blaumann und die klobigen | |
| Arbeitsschuhe an. Der Arbeitsanzug ist zu groß und war auch nicht für ihn | |
| bestimmt. Auf dem Namensschild steht ein deutscher Name. Nguyen hat die | |
| Sachen von einem Azubi übernommen, der gekündigt hat. Er trägt sie, bis er | |
| eigene bekommt. | |
| Die Lehrlinge stehen vor einem meterhohen Kraken aus Eisen, dem Gerüst | |
| einer Maschine, die eine Rohrleitungsfirma bestellt hat. Der Vorarbeiter | |
| blickt Nguyen an: „Was machst du gerade?“ – „Ich habe nichts zu tun“,… | |
| Nguyen. – „Hier“, sagt der Vorarbeiter, „ich habe was für dich.“ Er … | |
| Stecker mit Kabeln verbinden. Nguyen packt sechs Kabelrollen auf den Tisch | |
| vor sich, nimmt jeweils ein Ende und löst mit einem Cutter vorsichtig die | |
| Ummantelung. Dann spleißt er die Kabelstränge auf. Bui schlendert vorbei, | |
| sagt: „Du musst schneller machen.“ – „Ist schwer“, sagt Nguyen. – | |
| „Trotzdem, mach schneller.“ | |
| Bui stanzt Löcher in ein Blech. Er arbeitet mit schnellen, präzisen | |
| Bewegungen. Als er fertig ist, wirbelt er die Stanze in einer Hand herum | |
| und betrachtet stolz sein Werk. Dem deutschen Azubi im ersten Lehrjahr, der | |
| neben ihm steht, erklärt er, wie es geht. Bui spricht schlechter Deutsch | |
| als Nguyen, aber das hindert ihn nicht, mit allen zu reden. „Alle sind | |
| meine Freunde hier“, sagt Bui und strahlt. | |
| ## Vor jedem Platz steht eine Brotbüchse | |
| Ein Gong ertönt. 9 Uhr, fünfzehn Minuten Frühstückspause. Die Männer | |
| wechseln die Halle und gehen hinüber zum Aufenthaltsraum in Halle 2. Vor | |
| jedem Platz steht eine Brotbüchse, alle schaufeln Instantkaffee in ihre | |
| Becher, gießen ihn mit heißem Wasser auf und schauen auf ihre Handys. | |
| Nguyen schlägt vor, lieber nach draußen zu gehen und das Panorama der | |
| herbstlich gefärbten Wälder anzuschauen. | |
| Von ihrem Büro im ersten Stock hätte Franziska Dreiling einen schönen Blick | |
| auf jene Wälder. Momentan blickt sie jedoch in einen Aktenordner. Mit | |
| Nguyen bilde die Firma Dreiling derzeit fünf vietnamesische Lehrlinge aus, | |
| erzählt sie, die im Betrieb fürs Personal verantwortlich ist. „Die | |
| vietnamesischen Lehrlinge sind oft lernwillig, fleißig und freundlich“, | |
| sagt sie. | |
| Zwei Lehrlingen hatte die Firma dennoch bereits gekündigt. Sie sind wieder | |
| in Vietnam. Einer habe sich wohl für etwas Besseres gehalten, habe die | |
| anderen herumkommandiert und nie gegrüßt. Der zweite hatte keine Lust auf | |
| den Job, habe nur Englisch geredet und wollte lieber Fotograf werden. | |
| „Sounds like me“, wird Nguyen später sagen. Nach Feierabend spricht er | |
| jetzt am liebsten Englisch. Deutsch erinnere ihn zu sehr an die Arbeit. | |
| Mitte Oktober schickt Franziska Dreiling eine Einladung zum Geburtstag des | |
| Chefs und zugleich zur Firmenweihnachtsfeier. Die Karte ziert ein Ausspruch | |
| von Henry Ford: „Zusammenkommen ist ein Beginn, zusammenbleiben ein | |
| Fortschritt, zusammenarbeiten ein Erfolg.“ | |
| Nguyen trägt trotz der Kälte kurze Hosen. Sorgfältig schließt er die | |
| Zimmertür, er ist aufgeregt, doch nicht wegen der Feier. Er hat Post | |
| bekommen. Übers Internet hat er nach einer neuen Ausbildung gesucht und für | |
| 1.000 Euro einen Vermittler beauftragt. Der hat ihm einen Ausbildungsplatz | |
| bei einem Altenpflegedienst vermittelt. Der Vertrag kam am Vormittag. | |
| Nguyen lächelt. „Ich bin so glücklich.“ Schon im Dezember starte die | |
| Berufsschule für die Altenpflegeklasse. Nguyen schaut sich in seinem Zimmer | |
| um. „Ich habe erst heute rausgekriegt, wie sich das Fenster öffnen lässt. | |
| Am letzten Tag. Ich habe hier zwei Monate gewohnt, ohne zu lüften.“ | |
| Seinen Eltern habe er gesagt, dass er kündigen werde. Sie hätten versucht, | |
| ihn zu überreden, bei Dreiling zu bleiben. Doch am Ende hätten sie gesagt: | |
| „Mach, was immer dich glücklich macht.“ Seine Schwester hat ihm später ei… | |
| SMS geschrieben. Er bereite seinen Eltern Kopfschmerzen. Sie wollten nicht, | |
| dass er nach Vietnam zurückkehre. Nguyen hatte überlegt, ob er seine Eltern | |
| zum vietnamesischen Neujahrsfest überraschen sollte. Das tut er nun nicht. | |
| Die neue Berufsschule ist in Göttingen. Am Wochenende nach der | |
| Weihnachtsfeier bittet Nguyen einen Bekannten, ihm beim Umzug zu helfen. | |
| Hastig packt er seine Koffer in dessen Auto. Die meisten Lebensmittel wirft | |
| er weg, zum Schluss wirft er noch seine Kündigung in den Briefkasten. Dann | |
| ist er weg. | |
| Die Dreilings lesen die Kündigung, als sie am Montag wieder im Betrieb | |
| sind. Enttäuscht seien sie gewesen, ja. „Er war von Anfang an nicht | |
| ehrlich. Dann hätte er eben ein anderes Programm wählen müssen“, sagt | |
| Franziska Dreiling am Telefon. „Er hat das clever eingefädelt und sich | |
| hinter unserem Rücken eine neue Stelle gesucht.“ | |
| Hat Nguyen sich und der Firma etwas vorgemacht? Er verteidigt sich: Das | |
| Angebot, Elektriker zu werden, sei in letzter Minute gekommen, und dann | |
| habe er nur einen Tag Zeit gehabt, um sich zu entscheiden. „Es hätte ja | |
| sein können, dass es mir gefällt.“ | |
| Es sind Fragen, die man einem deutschen Jugendlichen vielleicht weniger | |
| scharf stellen würde. Jeder vierte Lehrling hat 2018 eine Ausbildung | |
| vorzeitig abgebrochen. Verglichen damit ist die Abbrecher:innenquote im | |
| Thüringer Vietnamprogramm lächerlich gering – nicht mal zehn von bisher | |
| knapp 100 Azubis haben aufgegeben und sind zurückgekehrt. | |
| ## Ohne Ausbildung keine Aufenthaltsgenehmigung | |
| Doch für die vietnamesischen Azubis steht eben ungleich mehr auf dem Spiel: | |
| Wenn sie ihre Ausbildung abbrechen, erteilt ihnen die Ausländerbehörde noch | |
| einmalig eine Duldung für sechs Monate, um eine neue Stelle zu finden. | |
| Gelingt ihnen das nicht, erlischt die Duldung. | |
| In Vietnam hat Frau Tam die Eltern von Tu Nguyen nach der Kündigung ins | |
| Hanoier Ausbildungszentrum bestellt. Ihr Sohn schade dem Ruf des Programms, | |
| habe sie ihnen vorgeworfen und verlangt, dass die Eltern mehrere Tausend | |
| Euro für die Sprachausbildung zurückzahlten. Die Forderung habe sie später | |
| fallen gelassen. So erzählt es Nguyen im Dezember. | |
| Auch die IHK lud Nguyen noch einmal zum Gespräch nach Suhl ein. Das Treffen | |
| dauerte eine Stunde. „Wir bilden ja Menschen aus“, sagt Pieterwas. „Das | |
| sind junge Leute, da scheidet auch mal jemand aufgrund anderer Erwartungen | |
| aus.“ Das sei unter deutschen Jugendlichen nicht anders. | |
| Im April 2020 wollten die Thüringer Unternehmer:innen eigentlich erneut auf | |
| Vietnamreise gehen, um den neuen Jahrgang kennenzulernen. Auch Vater und | |
| Sohn Dreiling hatten sich angemeldet. Doch dann kam die Coronapandemie, die | |
| Reise wurde abgesagt. Die Pandemie hat alles verändert. Für jede:n dritte:n | |
| Beschäftigten haben Thüringer Unternehmen zwischen März und Mai Kurzarbeit | |
| angemeldet. Auch viele Mitarbeiter:innen der Dreilings sind auf Kurzarbeit. | |
| „Das wird jetzt ’ne schwierige Zeit“, sagt Pieterwas. Irgendwann werde die | |
| Wirtschaft aber wieder auf die Beine kommen. Und dann wolle man auf den | |
| Nachwuchs aus Vietnam nicht verzichten. | |
| Nguyen ist zurzeit arbeitslos. Der Träger, der ihn zum Altenpfleger | |
| ausbilden wollte, hat ihm im Juni ohne Angabe von Gründen gekündigt. Doch | |
| er habe eine neue Stelle in Aussicht, sagt er. Im Oktober werde er eine | |
| Ausbildung zum Pflegehelfer in einem großen Krankenhaus in Lübeck beginnen. | |
| Lediglich die Monate dazwischen muss er überbrücken, arbeiten darf er | |
| offiziell nicht. Außerdem verlangt die Ausländerbehörde den Nachweis über | |
| ein Sperrkonto mit 3.000 Euro. Sonst wird seine Aufenthaltserlaubnis nicht | |
| verlängert. „Alles ist so schwer, und ich bin so erschöpft“, schreibt er. | |
| Würde er anderen Jugendlichen in Vietnam raten, sich für das Programm zu | |
| bewerben? „Ja“, antwortet er, ohne zu zögern, „sie sollen es versuchen.�… | |
| 28 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
| ## TAGS | |
| Migration | |
| Biometrie | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Vietnamesen in Berlin | |
| Vietnamesen in Berlin | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Black Lives Matter | |
| Geflüchtete | |
| taz.gazete | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Reisepässe aus Vietnam: Gilt nicht für Deutschland | |
| Kürzlich hat Vietnam neue Reisepässe eingeführt, doch die Bundesrepublik | |
| erkennt sie nicht an. Gravierende Folgen hat das auch für die | |
| Pflegebranche. | |
| Vietdeutsche in Berlin: Ein Leben für die Blumen | |
| Unsere Autorin hat als Kind viel Zeit im Blumenladen ihrer Eltern | |
| verbracht. Über vietdeutsches Leben und das harte Geschäft mit schönen | |
| Blumen. | |
| Vietnamesische Community in Lichtenberg: Kein Ort mehr für Begegnungen | |
| Das beliebte Dong-Xuan-Center soll nur noch für Großhändler zugelassen | |
| werden. KleingewerbebetreiberInnen stellt dies vor große Herausforderungen. | |
| Vietnamesische Community in Corona-Krise: Sie helfen sich selbst | |
| Die Corona-Pandemie brockte der vietnamesischen Community in Berlin | |
| Probleme wie allen anderen Bevölkerungsschichten ein – und ganz | |
| spezifische. | |
| Einwanderung nach Deutschland: Fachkraft mit Relevanz gesucht | |
| Die Migrationsströme nach Deutschland sind fast zum Erliegen gekommen. | |
| Braucht es überhaupt noch qualifizierte Arbeiter*innen aus dem Ausland? | |
| Essay zu Integration und Zuwanderung: Dieses Deutschland gehört mir | |
| Die Deutschiranerin Yasaman Soltani hörte oft, sie solle dahin zurückgehen, | |
| wo sie herkomme. Sie ging wirklich, kehrte zurück – und hat viel gelernt. | |
| Geflüchtete in Corona-Krise: Integration unmöglich | |
| Beratungsangebote und Sprachkurse fallen aus, Arbeitsverträge werden | |
| gekündigt: Die Krise macht es Geflüchteten schwer, Fuß zu fassen. | |
| Migration und prekäre Arbeit: Keine Bananen, sondern fairer Lohn | |
| Wer aus der Türkei nach Deutschland migriert, landet oft in prekären | |
| Arbeitsverhältnissen. Die „New Wave“ hat die Wahl zwischen Callcenter und | |
| Schwarzarbeit. |