| # taz.de -- Vietdeutsche in Berlin: Ein Leben für die Blumen | |
| > Unsere Autorin hat als Kind viel Zeit im Blumenladen ihrer Eltern | |
| > verbracht. Über vietdeutsches Leben und das harte Geschäft mit schönen | |
| > Blumen. | |
| Bild: Unsere Autorin und ihre Mutter im elterlichen Blumenladen Mitte der 1990er | |
| Nachricht von Mama, Anfang Dezember: „Schönen guten Morgen, con gái. Ich | |
| wünsche dir einen schönen Tag. Wenn was ist, ruf mich an. Ich hab dich | |
| lieb.“ | |
| Wenn meine Mutter mir so was schreibt, ist sie meistens im Blumenladen. Ich | |
| habe dann immer vor Augen, wie sie auf dem umgedrehten Blumenkübel sitzt | |
| und das Handy weit von sich weghält, um etwas auf dem Bildschirm zu | |
| erkennen. Sie trägt eine Schürze. Ihre Haare sind lockig, seit ich denken | |
| kann. Dauerwelle, gefärbt, an den Seiten ein paar graue Stellen. | |
| So kenne ich meine Mutter. Immer im Laden und immer am Arbeiten. | |
| Ihr Blumenladen in Berlin-Friedrichshain ist nicht sehr groß. Innen stehen | |
| links die gebundenen Sträuße, rechts die losen Blumen. Hinten, im | |
| Lagerraum, stehen stapelweise Übertöpfe und ein Sofa, auf dem meine Mutter | |
| sich manchmal ausruht. Draußen sind zwei große Wagen voller Pflanzen. | |
| Normalerweise. Seit Mitte Dezember, seit dem zweiten Coronalockdown, muss | |
| der Laden geschlossen bleiben. | |
| Wie viele andere Vietnames:innen kam meine Mutter als | |
| Vertragsarbeiterin in die DDR. 1987 war das. Da war sie 31 und ich noch | |
| nicht geboren. Im volkseigenen Betrieb Goldpunkt, einer Schuhfabrik in | |
| Ostberlin, arbeitete sie als Näherin. Es gibt sogar einen Zeitungsartikel | |
| aus der B.Z., auf dem Foto sieht man sie und ihre Meisterin. Meine Mutter | |
| trägt eine Pünktchenschürze und lächelt. | |
| ## „Hier verderben die Blumen nicht“ | |
| Nach der Wende verloren viele Vietnames:innen ihre Anstellung und | |
| fanden keine neue. Sie machten sich selbstständig. Manche verkauften | |
| Kleidung, andere eröffneten ein Restaurant. Meine Eltern wurden | |
| Blumenhändler:innen. Ich habe mich schon immer gefragt, warum sie sich | |
| genau für diesen Beruf entschieden haben. An einem Abend, Mitte Dezember, | |
| sitze ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer auf der großen, dunkelroten Couch | |
| und frage nach. | |
| Mama: „Wir waren arbeitslos. Hien, der Freund deines Vaters, hat Blumen | |
| verkauft und erzählt, dass es funktioniert. Was mache ich mit den | |
| verdorbenen Blumen?, habe ich ihn gefragt. Er sagte, die verderben nicht. | |
| Hier sei es ja nicht so heiß wie in Vietnam.“ | |
| Meine Eltern lernten sich Anfang der 1990er Jahre bei einem gemeinsamen | |
| Freund in Berlin kennen. Papa sei sehr witzig gewesen, sagt meine Mutter. | |
| Er konnte schon immer gut Geschichten erzählen. Auch er war vor der Wende | |
| Vertragsarbeiter gewesen, Werkzeugmacher. Er wollte sich damals etwas zu | |
| seinem knappen Gehalt dazuverdienen. Deshalb arbeitete er nebenbei für eine | |
| Spielzeugfabrik, wo er auch Froschluftballons aufblies. Das fanden seine | |
| Kollegen so witzig, dass sie ihn Tuấn Cóc nannten. Cóc bedeutet so viel wie | |
| Kröte. Den Spitznamen hat er bis heute. | |
| Meinen Vater treffe ich an der Spree. Wir gehen spazieren, setzen uns in | |
| die Sonne, reden. Auch von ihm will ich wissen, wie es dazu kam, dass er | |
| ausgerechnet mit Blumen sein Geld verdient. | |
| Papa: „Als ich arbeitslos wurde, musste ich es versuchen. Wenn man leben | |
| will, muss man Arbeit finden. Andere haben Blumen verkauft, da hab ich eben | |
| auch Blumen verkauft. Da braucht man nicht viel Startkapital. Für einen | |
| Imbiss oder ein Geschäft schon ein paar Tausend Euro. Für Blumen nur ein | |
| paar Hundert.“ | |
| ## Arbeiten, schlafen – und wieder von vorn | |
| In Vietnam sind Blumen eine wichtige Sache. Meine Verwandten unterhalten | |
| sich gern darüber, wie schön groß die Blätter sind, wie leuchtend die | |
| Blüten. So schön, dass man kaum glaubt, dass sie echt sind. Auf Fotos steht | |
| meine Familie lieber vor einem Blumenbeet als vor Sehenswürdigkeiten. | |
| Etwa ein Jahr nach meiner Geburt, also 1994, fingen meine Eltern an, Blumen | |
| zu verkaufen. Sie brauchten kein Hygienekonzept und keine teure Ausstattung | |
| wie für ein Restaurant, keinen Meisterbrief wie für einen Handwerksbetrieb. | |
| Sie hatten Glück und bekamen einen Stand bei Kaufland. Es lief gut. Weil | |
| meine Eltern nur ein kleines Auto hatten, kauften sie wenig Ware. Abends | |
| war immer alles ausverkauft. Es gab Mitarbeiter:innen aus den | |
| umliegenden Büros, die täglich Blumen kauften. Dazu kamen die Kund:innen | |
| von Kaufland. Irgendwann hatten meine Eltern genug gespart, um den Laden in | |
| Friedrichshain zu mieten. | |
| Auf mich passte zu der Zeit meine Tante auf, dann taten es Freunde meiner | |
| Eltern, bis ich mit drei oder vier Jahren in den Kindergarten gehen konnte. | |
| 26 Jahre ist es nun her, dass meine Eltern in den Blumenhandel einstiegen. | |
| Seitdem haben sie nie etwas anderes gemacht. Nachts Blumen geholt, mich | |
| morgens zur Schule gebracht, Ware ausgeräumt, Blumen gebunden, Pflanzen | |
| gegossen, eingeräumt, verkauft. Abends machte mein Vater die Abrechnung, | |
| meine Mutter das Essen. Dann schlafen und das Ganze wieder von vorn. | |
| ## „Die Kunden haben dir ein oder zwei Euro geschenkt“ | |
| „Als ich klein war, verbrachte ich viel Zeit im Laden. Viele Kund:innen | |
| fragten mich, ob ich den Blumenladen meiner Eltern später mal übernehmen | |
| möchte. Es sei doch so schön, jeden Tag mit frischen Blumen zu arbeiten! | |
| Ich lächelte und dachte: Die haben keine Ahnung. Schon damals hatte ich | |
| erkannt: Meine Eltern arbeiteten sich kaputt. Für mich hatten sie in der | |
| Regel keine Zeit. Oder sie waren einfach zu müde, um nach der Arbeit noch | |
| etwas mit mir zu unternehmen. Im Kino schlief mein Vater einmal ein und | |
| schnarchte laut. Das war so peinlich, dass wir es nie wieder probiert | |
| haben. | |
| Papa: „Ich habe dir im Laden ein Hochbett gebaut. Dort hast du als Kind | |
| viel Zeit verbracht. Die Kunden haben dich gesehen und dir auch mal ein | |
| oder zwei Euro geschenkt. Du hast auf dem Hochbett geschlafen oder | |
| gespielt.“ | |
| Ich weiß noch, wie ich als Kind kleine Sträuße band und stolz war, wenn sie | |
| jemand kaufte. Mit meinem Vater experimentierte ich, wir banden Bambus zu | |
| geometrischen Figuren und sagten, das sei modern. Manchmal saß ich an der | |
| Kasse und führte Strichlisten. Für jeden abkassierten Kunden bekam ich ein | |
| paar Cent. Die Hausaufgaben machte ich auf dem Hochbett, meine Freunde traf | |
| ich auf dem Spielplatz im Hinterhof. Oft musste ich mich aber allein | |
| beschäftigen. | |
| Mama: „Wenn du nicht im Laden warst, warst du im Hort. In den Ferien, an | |
| Ostern oder an Weihnachten – immer im Hort. Nicht zu Hause. An Heiligabend | |
| hast du mal angerufen und gefragt, wo wir bleiben. Es war sehr schwer. Dein | |
| Vater sagte: Komm, wir schmeißen alles hin! Wir verkaufen nicht mehr. Aber | |
| wir mussten ja die Sträuße für den nächsten Tag vorbereiten.“ | |
| Als mir meine Mutter das erzählt, kommen mir die Tränen. Ich habe mich früh | |
| dran gewöhnt, allein zu sein und für mich selbst zu sorgen. Am Wochenende | |
| schaute ich den ganzen Tag Kochsendungen von Jamie Oliver und bereitete | |
| meinen Eltern abends meine Variante von Risotto zu – Reissuppe mit | |
| Tiefkühlerbsen aus dem Reiskocher. Jetzt weiß ich, wie traurig es meine | |
| Mutter machte, keine Zeit mit mir verbringen zu können. Ich verstehe, dass | |
| sie mich heute jeden Tag anruft und fragt, was ich mache, ob ich schon | |
| gegessen habe. Sie will Teil meines Lebens sein. | |
| ## „Ich erkenne alle wieder“ | |
| 2005 trennten sich meine Eltern, da war ich 12. Mein Vater zog aus und | |
| behielt den Blumenladen, meine Mutter die Wohnung und mich. Sie suchte sich | |
| einen neuen Laden. Und fand zum Glück einen im selben Viertel. | |
| Mama: „Ich bin sehr freundlich zu meinen Kunden. Erstens verkaufe ich nicht | |
| teuer und zweitens schenke ich den Kindern was. Was Süßes oder eine | |
| abgebrochene Blume. Früher waren die Knirpse so klein, jetzt kommen sie | |
| schon zusammen mit ihren Freundinnen und kaufen ihnen Rosen. Ich erkenne | |
| sie alle wieder.“ | |
| Aber auch mit Stammkunden und viel Charme läuft es nicht mehr so gut wie im | |
| alten Laden. | |
| Mama: „Luftlinie ist es noch nicht einmal ein Kilometer, aber im alten | |
| Laden verdiente man mehr. Die älteren Leute dort hatten gute Jobs in der | |
| DDR und kriegen jetzt eine gute Rente. Hier, wo ich jetzt verkaufe, sind | |
| die Menschen ärmer. Hier wohnen nur junge Leute, Migranten oder | |
| Sozialhilfeempfänger.“ | |
| Corona macht die ganze Sache nicht besser. Hochzeiten fielen aus, Hotels | |
| mussten schließen. | |
| Mama: „Zu Weihnachten habe ich letztes Jahr gut verdient. Das Hotel hier in | |
| der Nähe hat normalerweise 100 Euro pro Woche eingebracht.“ | |
| ## „Um 4 Uhr morgens werde ich unruhig“ | |
| Es ist 18:30 Uhr, an einem der letzten Tage, bevor der Laden wegen des | |
| Lockdowns schließen muss. Die Sonne ist längst untergegangen. Die | |
| Bauarbeiter trinken ihr Feierabendbier vor dem Späti nebenan. Meine Mutter | |
| räumt ihre Ware ein. Die Adventskränze und Gestecke müssen einzeln getragen | |
| werden, sonst gehen sie kaputt. Am Schluss legt sie eine Holzrampe auf die | |
| Ladentreppe und schiebt den schweren Wagen voller Pflanzen hinein. Manchmal | |
| hilft ihr dabei jemand, ein:e Passant:in. Ansonsten fragt sie den | |
| Pizzabäcker von nebenan. | |
| Meine Mutter schließt die Tür, zieht ihre Kapuze auf und steigt auf ihr | |
| Fahrrad. In wenigen Minuten ist sie zu Hause. Sie kocht, Reis und | |
| gebratenes Gemüse, und schaut auf Youtube eine vietnamesische Quizshow an, | |
| bei der die Teilnehmer:innen eine Menge Geld verdienen können. | |
| Morgen muss sie wieder früh raus, Ware kaufen auf dem Großmarkt. Dafür | |
| bestellt sie das Gröbste schon mal vor. Ich höre sie am Telefon auf | |
| Vietnamesisch sprechen: „200 Tulpen. Und wenn es preiswerte Asthromelien | |
| gibt, auch ein, zwei Kübel davon.“ Gegen 21 Uhr ist sie im Bett. | |
| Um 5 Uhr klingelt mein Wecker. Heute will ich sie begleiten, zum ersten Mal | |
| seit mehr als zehn Jahren. Als ich in ihr Zimmer komme, liegt sie angezogen | |
| auf dem Bett und wartet. „Seit wann bist du wach?“, frage ich. „Seit 4 Uh… | |
| Dann werd’ ich immer unruhig.“ | |
| Zum Großmarkt geht meine Mutter in der Regel dienstags, donnerstags und | |
| samstags. Als ich klein war, standen meine Eltern schon gegen zwei Uhr auf, | |
| um dorthin zu fahren. Auf der Autofahrt erzählt meine Mutter, dass sie | |
| damals mehrere Großmärkte abgefahren sind, auf der Suche nach dem besten | |
| Angebot. | |
| Der Blumengroßhandel befindet sich im Industriegebiet Lichtenberg – nicht | |
| weit von dem vietnamesischen Đồng Xuân Center. Meine Mutter parkt das Auto | |
| und schnappt sich einen Wagen. Zusammen gehen wir durch einen dicken | |
| Plastikvorhang und gelangen in eine große Halle mit verschiedenen | |
| Händler:innen: deutsch, türkisch, vietnamesisch. | |
| Wir biegen beim Vietnamesen ein. Hier hat sie vorbestellt. Sauber | |
| aufgereiht stehen kübelweise Schnittblumen da: Chrysanthemen, Rosen – und | |
| Schleierkraut. Meine Mutter streift durch die Reihen und schaut sich alles | |
| genau an. Ihre Auswahl legt sie auf den Wagen, sie bedankt sich und zahlt. | |
| ## „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ | |
| Deutsche Florist:innen sehe ich hier keine. Vor allem sind es | |
| Vietnames:innen, die sich gegenseitig grüßen. Alle sind beschäftigt, | |
| aber nehmen sich Zeit für Smalltalk. Sie fragen, ob ich die Tochter bin, | |
| wie alt ich bin, ob ich schon arbeite. | |
| Bei meinem letzten Besuch war das anders, es war sehr viel hektischer. | |
| Während ich noch aus dem Auto stieg, rannte meine Mutter schon in den | |
| Markt. So schnell wie damals hatte ich sie nie erlebt. | |
| Jeder kämpfte da drin für sich. Einmal fehlten in unserem Wagen plötzlich | |
| mehrere Sträuße, obwohl ich direkt daneben stand. Ich fühlte mich schlecht | |
| und konnte es nicht fassen. Warum waren hier alle so unkollegial? | |
| In einer ZDF-Reportage aus dem Jahr 2013 sieht man, wie ein Großhändler ein | |
| Video in die Kamera zeigt: der Markt macht morgens auf, zig Vietnamesen | |
| stürmen los. | |
| Der Reporter fragt den Großhändler: „Gibt’s da was umsonst in der ersten | |
| Stunde?“ | |
| Der Großhändler: „Nein, nur die guten Sachen.“ | |
| Reporter: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ | |
| ## Pfirsichblüte und Kirschblüte | |
| Bevor meine Mutter und ich nach Hause fahren, tragen wir den Einkauf in den | |
| Laden. Wieder schleppen. Die Schnittblumen stellen wir in Wasserkübel, die | |
| Pflanzen nicht so nah an die Heizung. Erst gegen halb 7 Uhr morgens sind | |
| wir zu Hause. Mir tut der Rücken weh. Ich bin hundemüde und falle ins Bett. | |
| Meine Mutter bleibt wach und telefoniert mit ihren Geschwistern in Hanoi, | |
| bevor sie um 8 Uhr den Laden öffnet. | |
| Meine Mutter heißt übrigens Đào. Das bedeutet Pfirsich. Ich habe mich immer | |
| gefragt, warum sie ihren Blumenladen nicht so nennt: Pfirsichblüte. Wie | |
| schön das wäre. Ein Blumenladen in derselben Straße hieß nämlich | |
| Kirschblüte. Dort gab es sehr schöne Sträuße und Gestecke. Alles im Laden | |
| passte zueinander, es sah aus wie in einem Waldmärchen-Katalog. Nur leider | |
| musste er schließen. Ein weiterer vietnamesischer Blumenladen machte auf, | |
| und zwischen zwei günstigen konnte sich der teure nicht halten. | |
| In einem Artikel der Berliner Zeitung von Februar 2019 beklagen sich | |
| deutsche Florist:innen über die zunehmende Konkurrenz aus Vietnam. Einer | |
| sagt: „Wie die die Preise machen, weiß ich nicht. Teilweise liegen sie | |
| unter den Einkaufspreisen.“ | |
| Eine Rose kostet bei meiner Mutter 1,50 Euro. Andere verlangen dafür 1 Euro | |
| mehr. Im Großmarkt kostet die Rose etwa 80 Cent. Nicht ganz Einkaufspreis, | |
| aber auch nicht sehr viel Gewinn. Ich habe meiner Mutter immer wieder | |
| gesagt, dass sie die Preise erhöhen soll. Sie steht nachts auf, arbeitet | |
| den ganzen Tag und traut sich nicht, etwas dafür zu verlangen. Mich | |
| frustriert das. Sie aber sagt, die Leute würden sonst nicht bei ihr kaufen. | |
| Papa: „Zu viele verkaufen heute Blumen. Bei Lidl gibt es welche, auf dem | |
| Friedhof, und es gibt noch einen vietnamesischen Blumenladen um die Ecke.“ | |
| Dass die Konkurrenz gewachsen ist, fällt nicht nur meinen Eltern auf. In | |
| einem Fernsehbeitrag des RBB aus dem Jahr 2018 ist ein Streit zu sehen, | |
| deutsche gegen vietnamesische Blumenhändler:innen. Es wird deutlich, | |
| dass die Vietnames:innen nicht gern gesehen sind. Früher war alles | |
| besser, dann kamen die Vietnamesen, heißt es. | |
| Der Sprecher: „Tatsache ist, vietnamesische Blumenhändler dominieren den | |
| Markt. Drängen seit Jahren in das Geschäft der traditionellen Floristen. | |
| Gelernt haben sie das Handwerk nicht. […] Als Billigkonkurrenten sind sie | |
| vielen ein Dorn im Auge, wie der Friedhofsgärtnerin Heike.“ | |
| Heike: „Man muss hier wirklich kämpfen. […] Das ist nur noch mit den ganzen | |
| Fidschis!“ | |
| ## Ein illegaler Touch | |
| Dieser Beitrag bereitet mir Bauchschmerzen. Regen sich Sterneköche auch so | |
| über Pommesbuden auf? Statt nach Gründen zu suchen, warum es so viele | |
| Vietnames:innen im Billigblumengeschäft gibt, wird über sie gesprochen, | |
| als seien sie Eindringlinge. Die Vietnames:innen selbst kommen kaum zu | |
| Wort. | |
| Eine vietnamesische Frau erklärt zum Beispiel, dass Vietnames:innen ihr | |
| Wissen rund um Pflanzen und Blumen aus der Heimat mitbringen. Obwohl ihr | |
| Deutsch gut verständlich ist, übertönt eine deutsche Synchronstimme ihre | |
| Worte. | |
| Die Frau sagt: „Meine Heimat ist ein Agrarland. Schon als Kind lernten wir | |
| die Blumen kennen – auch wie man sie schneidet. Dieses Wissen benutzen wir | |
| jetzt.“ | |
| Das Tauschen der Ware unter vietnamesischen Kolleg:innen bekommt durch | |
| die Wortwahl des Reporters einen illegalen Touch. | |
| Reporter: „In Massen rollt die Ware auf den Parkplatz. Hier gehen die | |
| Geschäfte ganz offensichtlich weiter. Nachfragen sind unerwünscht. […] | |
| Drinnen haben sie das Beste längst abgeräumt. Keine Stunde nach | |
| Marktbeginn.“ | |
| ## „Die arbeiten Tag und Nacht, die Leute“ | |
| Die Ausbildung zur Floristin dauert bis zu drei Jahre und erfordert gute | |
| Deutschkenntnisse. Sich sofort selbstständig zu machen war nach der Wende | |
| für viele Vietnames:innen aber die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu | |
| finanzieren und eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. | |
| Ich verstehe, dass die Konkurrenz bedrohlich sein kann. Aber den | |
| rassistischen Unterton sollte man sich sparen. Eine Frau im RBB-Beitrag | |
| sieht das zum Glück ähnlich: „Das sind fleißige Leute. Da kann sich manch | |
| Deutscher eine Scheibe von abschneiden. Wir haben sicher sehr gute deutsche | |
| Floristen. Aber die arbeiten Tag und Nacht, die Leute.“ | |
| Die meisten Vietnames:innen sind bereit, ihre Ware für wenig Geld zu | |
| verkaufen. Genauso wie polnische Spargelstecher:innen für ihre Arbeit | |
| schlechter bezahlt werden als Deutsche. Sie machen das nicht, um anderen zu | |
| schaden, sondern schaden sich selbst, weil sie keine andere Möglichkeit | |
| sehen. Der Unterschied ist: Deutschen gefällt das Blumengeschäft, noch. Es | |
| ist ein schöner Beruf, weil man kreativ sein kann und mit frischen Blumen | |
| hantiert. Hätte noch jemand ein Problem mit den Vietnames:innen, die sich | |
| selbst ausbeuten, wenn es ein weniger romantischer Beruf wäre? | |
| Ich frage meine Mutter, ob sie auch solche Erfahrungen mit Deutschen | |
| gemacht und Rassismus erlebt habe. Bisher hat sie nie davon erzählt. | |
| Mama: „Es gab sogar Leute, die haben sich im Laden geprügelt. Entweder | |
| wollten sie die Ware umtauschen. Oder sie haben gesagt, dass wir Ärger | |
| machen oder nur das schnelle Geld wollen. Es sind ja nicht alle Menschen | |
| gut!“ | |
| Dass es immer mehr vietnamesische Blumenhändler:innen und immer | |
| weniger deutsche zu geben scheint, ist auch mir aufgefallen. Auf der Suche | |
| nach deutschen Florist:innen in Berlin finde ich ein paar in Prenzlauer | |
| Berg. Wahrscheinlich konnten sie sich halten, weil sie besonders sind. Auf | |
| dem Arkonaplatz bietet eine Floristin zwischen Obst- und Gemüseständen | |
| Blumen an, die selbst ich, das Kind einer Blumenhändlerin, noch nie gesehen | |
| habe. | |
| Deutsche finden vietnamesische Blumenläden oft kitschig. Vor allem die | |
| knalligen Farben, die die Händler:innen in Blumensträußen | |
| zusammenstecken. Lila, Rosa, Gelb. Meine Mutter benutzt für Adventskränze | |
| viel Rot und Gold. Rot steht in Vietnam für Macht und Erfolg – und kommt | |
| meist in Verbindung mit Gelb vor, der Farbe des Kaisers; sie steht für Ruhm | |
| und Weisheit. Rosa Blumen erinnern an die Lotusblume, die Nationalblume | |
| Vietnams. Sie erwächst aus dem Schlamm, aber ihre Blätter verschmutzen nie. | |
| ## Von anderen Blumenläden abgeschaut | |
| Als Teenagerin fand ich auch, dass meine Mutter einfach keinen Geschmack | |
| hat. Heute machen wir darüber Witze. „Machst du schon wieder Omasträuße?�… | |
| ärgere ich sie. Klar, sie sei ja schon alt, sagt sie dann. Sie fragt mich | |
| gern nach meiner Meinung. Manche Sträuße finde ich noch immer ein bisschen | |
| kitschig, aber peinlich finde ich sie nicht mehr. | |
| Mama: „Am Anfang habe ich die Blumen einfach irgendwie kombiniert, dann | |
| habe ich mir von anderen Blumenläden abgeschaut, wie man Blumen bindet. Und | |
| dann hatte ich eigene Ideen oder habe es nach den Wünschen der Kunden | |
| gemacht.“ | |
| Mein Vater blieb dagegen lieber bei den Zimmerpflanzen. | |
| Papa: „Es gibt Pflegezettel. Die liest man sich durch, und wenn die Kunden | |
| fragen, muss man ihnen erklären, wie man die Pflanzen gießt, wie viel Licht | |
| sie brauchen. Auch bei den Pflanzennamen war es so. Ich habe die Zettel | |
| gelesen und mir die Namen gemerkt.“ | |
| Ich will meinen Vater testen und frage nach der Pflegeanleitung für | |
| Elefantenfuß. „Das ist einfach!“, sagt er und legt los. Mein Vater steht | |
| mittlerweile nicht mehr täglich im Blumenladen, weil er vor einigen Jahren | |
| einen Herzinfarkt hatte. Er wird ein bisschen traurig, als wir über den | |
| Blumenladen sprechen. Im Lockdown vermisst er die Arbeit und seine Kunden. | |
| Er hatte auch nie ein Problem damit, früh aufzustehen. | |
| ## Rosen hassten wir | |
| Wenn alle anderen entspannen, an Feiertagen, ist es im Blumenladen am | |
| stressigsten. Solange ich zurückdenken kann, habe ich an solchen Tagen | |
| mitgeholfen. Auch meine Cousins, die aus Vietnam zum Studieren nach | |
| Deutschland kamen, halfen mit. Wir entfernten Dornen von Rosen, schnitten | |
| Tannen oder verstärkten Kübel um Kübel Gerbera mit Draht. Natürlich hatten | |
| wir auch eine gute Zeit und machten uns über denjenigen lustig, dem gerade | |
| ein Dorn ins Gesicht gesprungen war. Rosen hassten wir alle. | |
| Als Schülerin war ich manchmal so genervt von dem Laden, dass ich | |
| Hausaufgaben vorschob, um nicht schon wieder hinzumüssen. Wenn meine | |
| Verwandten in Vietnam fragten, ob ich meiner Mutter helfe, fühlte ich mich | |
| immer ertappt. Ich wollte mein Ding machen, mich auf meine Zukunft | |
| konzentrieren. Und das tat ich auch. | |
| Ich bin früh ausgezogen und habe in anderen Städten studiert. Ich habe mich | |
| von meiner Mutter abgenabelt, vom Blumenladen distanziert. Und obwohl sich | |
| meine Mutter sehr gewünscht hatte, dass ich in Berlin bleibe, hielt sie mir | |
| das nie vor. Mittlerweile ist sie froh, dass ich meinen Weg gegangen bin. | |
| Und ich bin nach dem Studium vorübergehend wieder bei ihr eingezogen. | |
| Seit wir wieder mehr Zeit miteinander verbringen, merke ich: Meine Mutter | |
| wird langsam müde. Seit ein paar Jahren hat sie eine Aushilfe, nimmt sie | |
| sich sonntags auch mal frei – und fährt dann doch wieder zum Großmarkt; der | |
| hat auch sonntags geöffnet. | |
| ## „Zwei Paar Hosen, zwei Paar Socken“ | |
| Sie sagt, sie gehe erst in Rente, wenn ich einen festen Job habe, auf | |
| eigenen Beinen stehe. Und ich versuche, ab und zu für sie abends die | |
| Pflanzen einzuräumen oder ihr etwas zu essen vorbeizubringen. | |
| Mama: „Blumen verkaufen ist sehr anstrengend. Es ist immer kalt. Im Laden | |
| kann man die Heizung nicht anmachen wegen der Blumen. Manchmal habe ich | |
| sechs Oberteile an! Zwei paar Socken, zwei paar Hosen.“ | |
| Auch die Hände tun ihr weh. Verhärtet hätten sie sich, sagt sie. Sie hat | |
| immer Schnittwunden oder einen Dorn im Finger. | |
| Mama: „Wenn ich früher deinen Rücken gestreichelt habe, hast du immer | |
| gesagt: An deinen Händen sind Nadeln!“ | |
| Das ist ihre Lieblingsgeschichte. Mittlerweile sind ihre Hände nicht mehr | |
| ganz so rau, ich habe sie überredet, öfter Handschuhe zu tragen. | |
| Während des Lockdowns hält es meine Mutter kaum aus zu Hause. Manchmal | |
| kommt sie in mein Zimmer, während ich gerade in einem Zoom-Meeting sitze, | |
| gießt meine Pflanzen oder zwackt die vertrockneten Blätter ab. Sie weiß | |
| nicht, was sie mit sich anfangen soll. Und so nehme ich sie mit auf meine | |
| langen Spaziergänge. „Ein Glück, dass du wieder zu Hause bist“, sagt sie | |
| dann. „Ohne dich würde ich wahnsinnig werden.“ | |
| Manchmal scherzt sie: „Willst du den Laden nicht übernehmen?“ Für mich | |
| kommt das nicht infrage. Würde sie sich das wirklich wünschen? Sie findet, | |
| mein Job als Journalistin sei hart. Immer klebe ich vor dem Bildschirm, das | |
| mache doch Kopfschmerzen. Ich aber weiß: Ich kann so viel schreiben, wie | |
| ich will, so hart wie im Blumenladen wird es bestimmt nicht. | |
| Linh Tran ist Autorin der taz am wochenende. Die Geschichte ihrer Mutter | |
| gibt es auch zum Hören, als eine Folge des [1][Podcasts „Rice and Shine“.] | |
| 24 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://riceandshine-podcast.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Linh Tran | |
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