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# taz.de -- Wegen Rassismus weg aus Deutschland: Asal Dardan wohnt hier nicht m…
> Sie fühlen sich nicht verstanden und gewollt. Grassierender Rassismus
> stößt sie ab. Deutsche aus migrantischen Familien verlassen die Heimat.
Bild: Alte Heimat: Deutschland: Ressentiments und Rassismus lassen manchen verz…
Berlin taz | Wenn ich hierbleibe, kriege ich dann das Bundesverdienstkreuz
dafür?“, fragt sie. „Deutschland hat meine Eltern ausgenutzt. Ich bin heute
zumindest auf dem Papier Deutsche und das nutze ich nun, um frei reisen zu
können. Al gülüm, ver gülüm!“ Selma Polat* lacht und schüttelt ihr
kinnlanges Haar. Das türkische Sprichwort „Al gülüm, ver gülüm“ (zu
Deutsch: „Gib, meine Rose, nimm, meine Rose“) beschreibe ihr Verhältnis zu
Deutschland: eine Nutzbeziehung. Nur habe Deutschland ihr in der letzten
Zeit zu viel abverlangt. Damit soll Schluss sein. Polat will nach
Australien auswandern.
Selma Polat heißt eigentlich anders. Wegen ihres Berufs möchte sie anonym
bleiben. Sie arbeitet als Deutschlehrerin in Mainz. Obwohl sie beide
fließend Englisch sprechen würden, besuche sie mit ihrem Partner seit
einigen Wochen einen Sprachkurs für Fortgeschrittene. Das könne für den
Alltag drüben nicht schaden, meint die 35-Jährige. Anschließend möchte
Polat sich an australischen Universitäten und Sprachschulen bewerben. Auch
ihre Mutter war Lehrerin, bis sie die Türkei verließ. Ende der 1970er Jahre
kamen die Eltern nach Deutschland. Polat sagt: „Sie mussten in Fabriken
schuften, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt wurden.“
Erst gestern sei sie mit ihrem Hund im Park gewesen, erzählt sie weiter,
habe sich zu einer alten Dame auf die Bank gesetzt und sich unterhalten.
Diese habe beiläufig angemerkt: „Uns Deutsche wird es bald nicht mehr
geben. Die Ausländer machen viel mehr Kinder als wir.“ Polat antwortete:
„Aber dann wird es neue Deutsche geben.“ Nein, habe ihr die Dame entgegnet,
das seien keine richtigen Deutschen. Polat sitzt am Tisch, als sie das
erzählt, und der besagte Hund springt aufgeregt zwischen ihren Beinen
umher. Das Leben sei zu kurz, sagt sie lächelnd, um sich immer wieder
erklären zu müssen.
In den migrantischen Communitys wächst das Unbehagen. Denn nicht nur der
Ton hat sich verschärft in Deutschland. Mutmaßliche Mitglieder einer
rechten Terrorgruppe sind in diesem Herbst [1][in Chemnitz verhaftet]
worden, nachdem es dort [2][rassistische Aufmärsche] gegeben hatte – so wie
auch in Köthen und Dortmund. Die AfD entwickelt sich zu einer festen
politischen Größe. Abends in der Kneipe, berichten manche, werde schon halb
scherzhaft, halb ernst über Zielorte für ein Exil gesprochen.
## Gehören wir nicht dazu?
Doch es ist nicht nur die Angst vor dem Erstarken der extremen Rechten: Er
wünsche sich in Zukunft einen Nationalspieler ohne Migrationsgeschichte als
Integrationsbotschafter des DFB, sagte Verbandschef Reinhard Grindel. Im
Juli hatte die deutsche Öffentlichkeit tagelang über die Tauglichkeit von
Mesut Özil als deutscher Nationalspieler diskutiert, nachdem er sich
[3][mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hatte ablichten
lassen]. Viele Deutsche mit Migrationsgeschichte haben spätestens seither
das unbestimmte Gefühl, dass ihre Zugehörigkeit, ihr Deutschsein, unter
Bewährung steht und ihnen entzogen werden kann, wenn sie nicht den
Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft gerecht werden.
Die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Asal Dardan kennt das: „Man weiß
nie, wann es dich anspringt. In jeder Situation kann es passieren, dass du
von deinem Gegenüber daran erinnert wirst, nicht als gleich und zugehörig,
sprich als deutsch wahrgenommen zu werden.“ Vor drei Jahren ist sie ins
schwedische Malmö ausgewandert. Es sei wesentlich entspannter, hier nun
eine „wirkliche Ausländerin“ zu sein: „Hier muss ich nicht erklären, da…
ich eigentlich keine bin. Das bin ich ganz offensichtlich: Nicht aufgrund
meines Aussehens, sondern wegen meiner sprachlichen Befähigung − weil ich
noch nicht fließend Schwedisch spreche.“
Dardan wurde 1978 in Teheran geboren und kam kurz darauf mit ihren Eltern
nach Deutschland. Sie wuchs in Köln und Bonn auf. Nach Schweden sei sie
eigentlich wegen ihres Partners ausgewandert. „Vor Kurzem haben wir darüber
nachgedacht, nach Deutschland zurückzukehren. Doch nach den Debatten in den
letzten Monaten und spätestens nach einem Satz von Horst Seehofer dachte
ich mir: Jetzt beantrage ich die schwedische Staatsbürgerschaft“, erzählt
sie. Der Bundesinnenminister hatte im September Migration als „Mutter aller
Probleme“ bezeichnet.
## „Ich fühle mich weggeschoben.“
Die Mehrheitsgesellschaft wisse, dass Seehofer ihr Innenminister sei, sagt
Dardan. Dass er für sie spreche und sie in Schutz nehme. Menschen wie sie,
Deutsche, die nicht weiß sind, wissen das nicht. Sie klingt erschöpft, als
sie feststellt: „Ich habe das Gefühl, dass die letzten Verbindungen, die
ich zu Deutschland habe, gekappt werden. Was habe ich mit diesem Land noch
gemeinsam? Dann lese ich aber deutsche Medien, schreibe auf Deutsch,
spreche mit meinen Freundinnen und Freunden dort, die auf Demos fahren und
sich große Sorgen machen.“ Vielleicht könne sie vieles nur ertragen, weil
sie nicht in Deutschland lebe, nicht mittendrin sei. „Es ist ein Teil von
mir, aber ich fühle mich nicht zugehörig. Ich fühle mich weggeschoben.“
Der Hamburger Sozialwissenschaftler Yaşar Aydın hatte bereits 2013 mit
seinem Buch „Transnational statt nicht integriert“ das
Auswanderungsverhalten von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte, in
diesem Falle Türkeistämmigen, unter die Lupe genommen. Er sagt: „Dass nun
im Jahre 2018 wieder über die Abwanderung von Menschen mit
Migrationsgeschichte gesprochen wird, hat auch damit zu tun, dass sich der
Migrationsdiskurs verschoben hat, und zwar in eine defizitorientierte
Richtung.“ Vor fünf Jahren habe noch ein anderer Wind geweht – nicht nur in
der Türkei, die mit ihrer starken Wirtschaftslage besonders gut
ausgebildete Akademiker*innen anzog, sondern auch in Deutschland: „Es gab
mit Aydan Özoğuz eine türkeistämmige Bundesministerin. Türkeistämmige war…
nicht in der Defensive. Doch heute redet man ständig von
Integrationsmängeln und benutzt neue Fremdzuschreibungen.“
Seien es früher noch die „Gastarbeiter“ und die „Migranten“ gewesen, d…
aufgrund ihrer Tradition als anders markiert wurden, stünde heute die
Religiosität im Fokus. Da hieße es: Die Türkeistämmigen sind uns fremd
aufgrund ihres islamischen Glaubens und deshalb schwer integrierbar. Der
Islam gehöre nicht zu Deutschland, hatte Seehofer bereits im März dieses
Jahres gesagt.
Neben diesen wiederkehrenden Mustern beobachtet Aydın eine neue Dimension
in den Debatten: Die Mehrheitsgesellschaft befinde sich in einer
Identitätskrise. Globalisierung und Modernisierungsschübe hätten die
Vorstellung vom sozialen Raum maßgeblich verändert. „In Zeiten von
Unübersichtlichkeiten, in denen sich alte Allianzen, wie mit den USA,
auflösen, in denen der Konkurrenzdruck am Arbeits- und Wohnungsmarkt steigt
und das Wachstum auf wackligen Füßen steht, verhandelt man die Frage nach
einem Wir neu – und auch die Frage, wie man mit Menschen umgeht, die
hinzugekommen sind und hinzukommen.“ Offen bleibt, wie lange Deutsche aus
Familien mit Einwanderungsgeschichte als Hinzugekommene gelten. Wie viele
Jahrzehnte und Debatten müssen sie hinter sich bringen?
Das ARD-Magazin „Panorama“ befragte im September 2017 in einer
repräsentativen Umfrage Turkodeutsche nach ihrem Heimatempfinden. 46
Prozent der Befragten empfanden demnach starke Heimatgefühle für
Deutschland, 83 Prozent hingegen für die Türkei. Auch Statistiken des
Zentrums für Türkeistudien in Nordrhein-Westfalen zeigen einen stetigen
Zuwachs des Verbundenheitsgefühls mit der Türkei in den letzten sieben
Jahren. 2011 waren es noch weniger als 30 Prozent, die das bestätigten.
Auffällig ist auch, dass der Anteil der Menschen mit der Absicht, in die
Türkei zurückzukehren oder auszuwandern, laut der Studie seit 2015 um 4 auf
18 Prozent gestiegen ist – bei Drittgenerationsangehörigen sogar auf rund
20 Prozent.
## Deutschland nicht den Kindern zumuten
Ünal Görgen hat das vor sieben Jahren in die Tat umgesetzt. Er ist nach
Kayseri gezogen, eine Millionenstadt im Zentrum der Türkei, der Geburtsort
seiner Eltern. Aufgewachsen ist der 28-Jährige in Delmenhorst bei Bremen.
Er erzählt: „Ich war damals mitten in einer Ausbildung bei der Deutschen
Post. Trotzdem hatte ich das Gefühl: Deutschland ist kein Zuhause für
mich.“ In seinem nüchternen Tonfall klingt das mehr nach einer Feststellung
als nach einer Enttäuschung. Görgen berichtet, wie sich dieses Gefühl
manifestierte: „Das hier ist nicht euer anatolisches Ziegendorf“, habe er
einen Lehrer mal sagen hören, als er sich in der achten Klasse im
Unterricht mit einem Sitznachbarn unterhielt. „Ich habe jetzt zwei Kinder,
sie sind drei Jahre und acht Monate alt“, so Görgen. „Ich will nicht, dass
sie solche Erfahrungen machen müssen. Sie sollen nicht in Deutschland
aufwachsen.“
Auch für Menschen mit Migrationsgeschichte, für die Migration keine
selbsterlebte Erfahrung mehr ist, bleibe sie als Element der biografischen
Kernnarration bestehen, schreibt die Migrationsforscherin Naika Foroutan in
ihrem Artikel „Neue Deutsche“. Und während in Deutschland durch Rückschl�…
und Diskriminierungserfahrungen eine Alltagsentzauberung einkehre, bleibe
eine imaginäre Heimat in der Ferne unangetastet – oft der Herkunftsort der
Großeltern und Eltern.
Foroutan sagte im Juli , sie habe die zeitweilige Aussicht, wegen eines
Jobangebots aus Deutschland auszuwandern, als große Erleichterung
wahrgenommen. In den letzten Jahren habe sie eine Entfremdung im Land
erlebt, von der sie nicht glaube, dass sie aufzuhalten sei. Dabei hat sich
Foroutan dem Engagement für eine pluralistische Gesellschaft verschrieben:
Sie ist Direktorin und Professorin am Berliner Institut für empirische
Integrations- und Migrationsforschung und Vorstandsmitglied im „Rat für
Migration“. Sie wurde mehrfach für ihre Forschung ausgezeichnet. Doch sie
sagt: „Deutschsein ist wieder sehr viel stärker mit Herkunft verbunden, mit
nationalem Bekenntnis, mit Weißsein. Deutschland wird brutaler.“
Das empfindet auch der vor sieben Jahren ausgewanderte Görgen, wenn er die
deutschen Nachrichten verfolgt: von Seehofers Aussagen bis hin zu
rassistischen Hetzjagden. Und das bestärke ihn in seiner Entscheidung,
trotz der schlechten Wirtschaftslage in der Türkei und trotz des
„Ein-Mann-Regimes“ von Präsident Erdoğan, das er ablehne. Menschen wie er
wissen, dass ihre Familien nach Deutschland kamen, um ihren Kindern ein
besseres Leben zu ermöglichen. Görgen hat sich dieses Leben anderswo
aufgebaut. Seine Eltern blieben zurück, zunächst verständnislos. Sie
sagten: „Du hast doch hier deine Schule abgeschlossen. Was soll drüben aus
dir werden? Du kannst dich da nicht anpassen!“
Doch in der Türkei fühle er sich wohl, so Görgen: „Ich bin Sachbearbeiter
in einem deutsch-türkischen Unternehmen. Meine Zweisprachigkeit wird
geschätzt. Ich bin Teil der Gesellschaft. Warum sollte ich mich in
Deutschland kaputt machen lassen?“ Heute habe er viele Bekannte in
Deutschland, die an eine Rückkehr in die Türkei dächten. Sie wolle er
ermutigen.
## Die Rolle des „Gastarbeiters“ nicht länger einnehmen
Görgen, Polat und Dardan gehören zu einer Generation, die Fragen über
Identität und Zugehörigkeit auf Augenhöhe mit der Mehrheitsgesellschaft
verhandeln will. Sie wollen die Rolle nicht länger annehmen, die ihnen im
sozialen Raum, auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt zugewiesen wird: die
Rolle des defizitären Anderen. In einem jüngst erschienenen gleichnamigen
Buch beschreibt der Soziologe Aladin El-Mafaalani ein
„Integrationsparadox“: Je mehr Menschen mit Migrationsgeschichte sichtbar
würden, bedingungslose Mitsprache einforderten, also „integriert“ seien,
desto größer würden die Konflikte. Wer sich streite, müsse sich sehr nahe
sein. Integrationsdebatten seien also unumgänglich auf dem Weg in eine
pluralistische Gesellschaft, die Raum für Differenzen bietet.
„In den meisten Debatten, in denen der Begriff der Integration fällt, geht
es darum, dass Menschen nicht auffallen sollen“, beurteilt jedoch die
Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan. „Das kann man von ihnen nicht
erwarten, weil es gegen die Menschenwürde ist. Jeder hat das Recht, den
Platz, den er in der Gesellschaft hat, auszufüllen, politisch teilzuhaben
und sich zu äußern.“ Und: „Wünschenswert wäre, Differenz nicht an
Oberflächlichkeiten und Eigenschaften, die nicht veränderbar sind,
festzumachen. Sie sollte auf einer politischen Ebene ausgehandelt werden –
wenn etwa eine Haltung nicht demokratisch ist. Die Menschen, die in
Chemnitz den Hitlergruß zeigten, machen mir Angst. Mit denen habe ich gar
nichts gemeinsam.“
Manche sagen, dass Betroffene aus Diskriminierungserfahrungen gestärkt
hervorkommen könnten. Dass sie aufgrund des externen Drucks den Anspruch
hätten, mehr zu leisten, erfolgreicher zu werden. Doch es gibt auch
Menschen, die das nicht länger wollen, weil sie etwa, wie die Lehrerin
Selma Polat, nicht daran glauben, sich eines Tages nicht mehr behaupten zu
müssen. „Ich bin keine Gescheiterte“, sagt sie, „sondern eine, die
aufgegeben hat.“
22 Oct 2018
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## AUTOREN
Seyda Kurt
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