# taz.de -- Grünen-Absage an Cem Özdemir: Ein Hauch von Tragik | |
> Die Grünen haben sich gegen ihren Star Cem Özdemir als | |
> Fraktionsvorsitzenden entschieden. Das klingt verrückt, ist aber trotzdem | |
> richtig. | |
Bild: Bester Redner bei den Grünen: Cem Özdemir | |
Es gibt eine schlichte, aber beliebte Lesart der Entscheidung der | |
Grünen-Bundestagsfraktion. Sie lautet in etwa: Ja, sind die Grünen denn | |
verrückt geworden, [1][dass sie Cem Özdemir nicht zum Chef machen]? Den | |
besten Redner der Fraktion, dieses Schwergewicht mit seinen vielen | |
Talenten? Warum verzichten sie ohne Not auf einen Promi in der ersten | |
Reihe, den fast alle Deutschen kennen und viele mögen? | |
Das sind berechtigte Fragen, aber ein bisschen genauer hinschauen sollte | |
man dann doch. Denn die Fraktion hat in Wirklichkeit sehr genau nachgedacht | |
– und klug entschieden. | |
Zwei valide Gründe hätten für Cem Özdemir gesprochen: Mit seiner | |
Performance, seinen rhetorischen Fähigkeiten, seinem Talent zur Zuspitzung | |
stellt er eindeutig Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, die alten | |
und neuen ChefInnen, in den Schatten. Wie der Charismatiker Özdemir die AfD | |
im Plenum vorführt, ist zweifellos sensationell. | |
Der „anatolische Schwabe“ (Ö. über Ö.) wäre außerdem in der Lage, Mili… | |
in der bürgerlichen Mitte anzusprechen, die früher ihr Kreuz bei der CDU | |
machten. Der Ultrarealo, der früh Kontakte zu UnternehmerInnen knüpfte, | |
strahlt weit über die grüne Kernklientel hinaus. Das ist ein Pfund, das | |
zählt. | |
## Ein Performanceproblem hat die Ökopartei nicht | |
Aber wahr ist auch: Diese Qualitäten werden bei den Grünen gerade nur | |
bedingt gebraucht. Niemand würde im Ernst behaupten, dass die Ökopartei ein | |
Performanceproblem hätte. Dafür tanzen Robert Habeck und Annalena Baerbock | |
zu kunstfertig im Rampenlicht, dafür funktioniert die Rollenverteilung | |
zwischen Partei- und Fraktionsspitze zu gut. Es schadet nicht, dass jeder | |
weiß, wo sein Platz ist. | |
Auch den [2][Schritt in die liberale, bürgerliche Mitte] – wie auch immer | |
man sie definieren möchte – haben die Grünen längst geschafft. Bei den | |
Landtagswahlen in Bayern und Hessen sind massenhaft WählerInnen von CDU und | |
CSU zu den Grünen übergelaufen. | |
Ein Fraktionschef Özdemir würde also Probleme adressieren, die im Moment | |
nicht existieren. Viele Abgeordnete haben das verstanden. Und bei der Wahl | |
eine Risikoabwägung vorgenommen, die für Özdemir schlecht ausfiel. Es gab | |
ja lange Phasen in seiner Biografie, in denen er nicht gerade als | |
Teamplayer aufgefallen ist. Und das ist vorsichtig formuliert. | |
Die Jahre, in denen er mit Simone Peter die Partei führte, waren | |
fürchterlich. Es gab Intrigen zu besichtigen, unschöne Szenen, offene | |
Verachtung – und Özdemir spielte dabei eine ungute Rolle. Natürlich kann | |
ein Politiker dazulernen, und Cem Özdemir hat bewiesen, dass er dazu in der | |
Lage ist. Aber klar ist auch: Wer sich um eine Führungsrolle bewirbt, muss | |
sich an seiner Vergangenheit messen lassen. Özdemir konnte die Zweifel der | |
Fraktion nicht ausräumen. | |
Es ist etwas aus der Mode gekommen, bei Personenwahlen über Inhalte zu | |
sprechen. Meist geht es in den Analysen um Charisma, Rhetorik und Verkaufe. | |
Reden wir also mal über Inhalte, ausnahmsweise. | |
Cem Özdemir steht am konservativen Rand der Grünen. Er will Außenpolitik | |
bekanntlich nicht mit der Yogamatte unter dem Arm machen. Mit Umverteilung | |
von oben nach unten kann er wenig anfangen, eine Vermögensteuer hält er für | |
eine linke Verirrung. Geld möchte er lieber in Schulen stecken, statt | |
Hartz-IV-BezieherInnen allzu großzügig zu bedenken. Auch für die Wünsche | |
der Wirtschaft hat er Verständnis, vielleicht etwas zu viel. | |
Die Grünen von heute ticken anders, radikaler, progressiver oder, um mal | |
den Begriff zu verwenden, den sie am liebsten nicht mehr hören wollen: | |
linker. Sie werben für den Abschied von Hartz IV und eine sanktionsfreie | |
Grundsicherung, für einen starken Staat und mehr Daseinsvorsorge, für eine | |
härtere Ordnungspolitik und weniger Markt. Özdemir passt dazu nicht ideal. | |
Ein Bundestagswahlkampf, wie ihn Özdemir und seine Co-Spitzenkandidatin | |
Katrin Göring-Eckardt 2017 verantworteten, wäre heute undenkbar. Vielleicht | |
muss man kurz an ihn erinnern. | |
Zahme Grüne agierten damals wie eine Regierung in der Opposition. Sie boten | |
sich der Merkel-Union als willige Partner an und vermieden alles, was dem | |
Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hätte sauer | |
aufstoßen können. Ängstlich wirkte das, devot und rückgratlos. Das Ergebnis | |
ist bekannt: Die Grünen holten 8,9 Prozent und stellen seither die kleinste | |
Fraktion im Parlament. Für ein ähnliches Ergebnis wurde Jürgen Trittin 2013 | |
vom Hof gejagt. | |
## Nicht Aufbruch, sondern Reise in die Vergangenheit | |
Özdemir hatte also seine Chance, sein Konzept ist gescheitert. Auch hier | |
kann man einwenden, dass er die Dinge heute anders analysiert. Aber viele | |
Abgeordnete sahen sein Angebot eben nicht als Aufbruch, sondern als Risiko | |
für eine Reise in die Vergangenheit. Zumal ein Sieg Özdemirs das Aus für | |
Anton Hofreiter bedeutet hätte. Dessen Auftritte funkeln nicht, zugegeben, | |
aber inhaltlich ist er für die Grünen unverzichtbar. Den kompetentesten Öko | |
in der Führungsriege aus dem Spiel zu nehmen, ist angesichts der Zuspitzung | |
der Klimakrise eine abenteuerliche Idee, auch mit Blick auf eine künftige | |
Regierungsbeteiligung. | |
Dennoch: Die Niederlage Özdemirs umweht ein Hauch Tragik. Kaum ein Grüner | |
genießt in Unternehmerkreisen eine solche Credibility wie er – und | |
Vertrauen ist für den sozialökologischen Umbau der Wirtschaft entscheidend. | |
Dann wäre da seine Biografie, deren gesellschaftspolitischer Wert gar nicht | |
überschätzt werden kann. Özdemir, das Kind türkischer Gastarbeiter, das | |
sich von ganz unten hochgearbeitet hat, ist einer der wenigen | |
Spitzenpolitiker überhaupt mit Migrationshintergrund. Dieser Mann ist ein | |
Role Model für viele. | |
Die Grünen täten gut daran, ihm die Bühne zu geben, die ihm gebührt. Auch | |
wenn es mit der Fraktionsspitze nicht geklappt hat. | |
25 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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