# taz.de -- Wahl der Grünen-Fraktionsvorsitzenden: Verloren, mal wieder | |
> Cem Özdemir und Kirsten Kappert-Gonther unterliegen im Kampf um den | |
> Grünen-Fraktionsvorsitz. Für den früheren Parteichef ist das ein harter | |
> Schlag. | |
Bild: Alle lächeln, außer Cem: Für Özdemir (r.) und Kirsten Kappert-Gonther… | |
BERLIN taz | Cem Özdemir ist ein fairer Verlierer. Am Dienstagnachmittag | |
steht er vor der grünen Medienwand im Reichstag und dankt erst mal. Seiner | |
Partnerin im Kampf um den Fraktionsvorsitz, Kirsten Kappert-Gonther. Dann | |
Katrin Göring-Eckardt und [1][Anton Hofreiter], den Gewinnern. | |
Er habe vorher schon gesagt, dass sich die Welt weiterdrehen und die Sonne | |
wieder aufgehen werde, betont Özdemir. Im Übrigen gelte die alte Weisheit: | |
„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Das i… | |
es: Er hat verloren, mal wieder. | |
Vor wenigen Minuten hatte die Bundestagsfraktion der Grünen ihre neuen | |
Vorsitzenden gewählt. 67 Abgeordnete durften abstimmen. Göring-Eckardt hat | |
sich mit 61,1 Prozent der Stimmen gegen Kappert-Gonther (28,4 Prozent) | |
durchgesetzt. Und Hofreiter hat mit 58,2 Prozent Cem Özdemir geschlagen, | |
der nur auf 40,2 Prozent kam. | |
Auch die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Britta Haßelmann, | |
darf ihr Amt bis zum Ende der Legislaturperiode behalten. Sie bekam im | |
ersten Wahlgang 60 von 64 abgegebenen Stimmen (89,5 Prozent). Die alten | |
ChefInnen sind auch die neuen, an der Fraktionsspitze bleibt alles, wie es | |
ist. | |
Für Kappert-Gonther, 52, ist die Niederlage wenig problematisch. Die Bremer | |
Abgeordnete sitzt erst seit zwei Jahren im Bundestag, sie hatte keiner auf | |
dem Zettel. Die selbstbewusste Psychiaterin, in der Fraktion für | |
Drogenpolitik und Gesundheitsförderung zuständig, kann ohne Gesichtsverlust | |
weitermachen. Durch den Wettbewerb hat sie klargemacht, dass mit ihr zu | |
rechnen ist. | |
## Ein Hauch von Verzweiflung | |
Anders sieht es für den Parteipromi Cem Özdemir, 53, aus. Seine Kandidatur | |
umwehte ein Hauch von Verzweiflung. Auch von Grünen, die es gut mit ihm | |
meinen, war sie als letzter Versuch interpretiert worden. Als Frage an die | |
Grünen, ob sie ihn im Bund noch einmal in der ersten Reihe sehen wollen. | |
Folgt man dieser These, ist die Antwort eindeutig. | |
Özdemir bleibt der Unvollendete. Der Mann, der 2017 in einer | |
Jamaika-Koalition gern Außenminister geworden wäre, der in Deutschland | |
bekannt ist wie kaum ein anderer Grüner, ist raus. Wieder einmal. | |
Als Kind türkischer Gastarbeiter, das erst die Haupt-, dann die Realschule | |
besuchte, hat sich Özdemir von ganz unten hochgearbeitet. Er zog bereits | |
1994 in den Bundestag ein, als erster Abgeordneter türkischer Herkunft | |
überhaupt. Wegen der Bonusmeilen-Affäre legte er 2003 sein Mandat nieder, | |
ging erst in die USA, später ins Europaparlament. | |
2008 kehrte er auf die Berliner Bühne zurück und wurde Bundesvorsitzender. | |
Dieses Amt übte er gut neun Jahre aus. Özdemir war (und ist) ein | |
Verbündeter von [2][Winfried Kretschmann], er knüpfte Kontakte zu | |
UnternehmerInnen und lud Ex-Daimler-Chef Dieter Zetsche zu einem Parteitag | |
ein. Özdemir gilt als der wirtschaftsfreundliche Konservative unter den | |
Grünen. | |
## Große Vorbehalte unter den Partei-Linken | |
Dieses Image war ein Grund für sein Scheitern. Gegen Özdemir gibt es gerade | |
unter Linksgrünen große Vorbehalte. Er wolle, sagen manche, die Partei | |
gegen die offizielle Beschlusslage nach rechts rücken. Auch auf die Zeit | |
mit seiner damaligen Co-Parteichefin Simone Peter wird verwiesen. Damals | |
glich die Grünen-Zentrale einem Intrigantenstadl. Die zwei ChefInnen | |
mochten sich nicht, arbeiteten gegeneinander. Manche glauben, dass Özdemir | |
nicht anders kann. Er sei ein Einzelgänger, sagen manche in der Fraktion, | |
und nicht zu echtem Teamplay fähig. | |
Dabei stimmt das nur bedingt. Nach seiner Parteichef-Zeit hat er sich ohne | |
groß zu Murren in die zweite Reihe eingeordnet. Er übernahm den Vorsitz des | |
Verkehrsausschusses, obwohl ihn Außenpolitik, das große Ganze, mehr | |
interessiert als E-Mobilität oder Radwegnetze. Özdemir, ein sehr guter | |
Redner, fühlte sich von den Grünen unter Wert behandelt, ein Gefühl, das | |
jetzt nicht weniger werden wird. | |
Der Sieg von Göring-Eckardt und Hofreiter steht auch für den Wunsch nach | |
Harmonie. Nach einem Weiter-so, nach Geschlossenheit, schließlich läuft es | |
ja gut für die Grünen. Göring-Eckardt interpretiert die Entscheidung der | |
Fraktion so: „Das ist ein deutliches Signal dafür, dass wir den Kurs der | |
Geschlossenheit fortsetzen.“ | |
Partei- und Fraktionsspitze agieren im Moment einmütig wie selten, mit | |
einer klaren Rollenverteilung. Robert Habeck und Annalena Baerbock stehen | |
im Rampenlicht, Göring-Eckardt und Hofreiter sortieren sich dahinter ein. | |
## Für eine Überraschung ist er immer gut | |
Der machtbewusste Özdemir hätte ein Störfaktor in dem grünen Machtgefüge | |
sein können. Seine Chancen, im Bund noch was zu werden, sinken durch die | |
Niederlage. Die Zahl der grünen Ministerposten in einer Regierung wären | |
überschaubar. Und Baden-Württemberg? Es gilt als wahrscheinlich, dass | |
Ministerpräsident Kretschmann in der nächsten Legislatur geordnet an einen | |
Nachfolger übergibt. Auch dafür wird Özdemirs Name genannt. | |
Oder steigt er gleich ganz aus der Politik aus? Für eine Überraschung ist | |
Cem Özdemir immer gut. | |
24 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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