# taz.de -- Ökobilanz und Einkommen: Öko ist (k)ein Luxusproblem | |
> Die Dielmanns leben relativ nachhaltig, aber sie fliegen zu viel. | |
> Charlotte Wilkens ist Umweltschutz egal, aber ihre Klima-Bilanz ist viel | |
> besser. | |
Bild: Vielfliegerei macht jede Öko-Bilanz kaputt – egal, wie bewusst man son… | |
BERLIN taz | Als Grit Dielmann ihren [1][ökologischen Fußabdruck | |
berechnete], traf sie fast der Schlag. Würden alle Menschen auf der Welt so | |
leben wie sie und ihre Familie, bräuchte es vier Erden. Dass die | |
vierköpfige Familie mit ihrer Vielfliegerei dafür sorgt, den | |
Treibhauseffekt voranzutreiben, ahnte sie. „Aber das hat mich doch | |
geschockt“, sagt sie. | |
Ansonsten lebt die vierköpfige Familie so ökologisch und nachhaltig, wie | |
das eine Familie heute tun kann: Alle essen kaum Fleisch, die 16-jährige | |
Tochter ist Vegetarierin. Lebensmittel werden nicht weggeworfen, sondern | |
bei der nächsten Mahlzeit verarbeitet. Beim Duschen achten die vier auf den | |
Wasserverbrauch, die Heizung ist nie voll aufgedreht, sie trennen ihren | |
Müll. Kleidung kaufen sie in Second-Hand-Läden und fahren viel Fahrrad. Das | |
Auto nehmen sie nur für Touren, die anders nicht zu machen sind. | |
Normalerweise läge der CO2-Fußabdruck der Dielmanns weit unter dem | |
Durchschnitt der Bundesbürger*innen, neun Tonnen Kohlenstoffdioxid pro | |
Jahr. Aber: Die Flugreisen der Familie, die haben es in sich. Dazu muss man | |
wissen, dass Grit und [2][Christoph Dielmann und ihre Kinder seit Ende 2015 | |
in Melbourne,] Australien, leben. Er, 51, Pfarrer, leitet dort die | |
Dreifaltigkeitskirche, noch bis Ende 2022 wird die Familie auf dem | |
Kontinent bleiben. Sie, 52, arbeitet als Lehrerin, die Kinder gehen zur | |
Schule. Allein ein Flug von Düsseldorf, wo sie vorher lebten, nach | |
Melbourne produziert pro Person laut dem Ausgleichsanbieter Atmosfair über | |
8 Tonnen C02. Das klimaverträgliche Jahresbudget eines Menschen beträgt nur | |
2,3 Tonnen. Zum Vergleich: Der weltweite Schnitt liegt bei etwa 4,8 Tonnen. | |
„Uns ist das bewusst“, sagt Dielmann: „Aber was sollen wir machen?“ Nach | |
Australien geht es eben (fast) nur per Flug. Mit dem Schiff von der | |
Südspitze Spaniens aus, oder von Sri Lanka, der Insel Mauritius oder von | |
Mittelamerika aus hätte es zu lange gedauert und wäre noch teurer als der | |
Flug gewesen. Auch einmal in Melbourne angekommen, wollte die Familie nicht | |
auf weitere Flüge verzichten. Das Land ist größer als Europa. Um von | |
Melbourne nach Sydney, der größten Stadt Australiens, zu gelangen, fliegen | |
die meisten Menschen, Australier*innen wie Tourist*innen. Auch die | |
Dielmanns tun das. | |
## Acht Flüge pro Person | |
Seit sie in Australien leben, waren sie drei Mal in Sydney. Sie waren in | |
Tasmanien, in Nordaustralien und im Süden des Landes. In diesem Sommer | |
haben sie Urlaub in Amerika gemacht, mit Zwischenhalt auf Hawaii. Um bei | |
der Inselkette im Pazifischen Ozean von einer Insel zur nächsten zu kommen, | |
sind sie meist geflogen. Grit Dielmann hat es ausgerechnet: acht Flüge pro | |
Person. „Das tut weh“, sagt sie. Und: „Das ist nicht zu entschuldigen.“ | |
Flugscham heißt das wohl heutzutage. | |
Die Dielmanns sind politisch im linksliberalen Spektrum anzusiedeln, sie | |
wählen „progressiv“, wie sie sagen. Sie sind politisch wie ökologisch gut | |
informiert, finanziell gehören sie in Deutschland zu den Gut- bis | |
Besserverdienenden. In Australien indes, wo die Lebenshaltungskosten höher | |
sind, müssen sie rechnen. Brot, Milch und Käse sind etwa doppelt so teuer | |
wie hierzulande, Obst und Fleisch kostet etwa anderthalb mal so viel. Und | |
doch zählen die Interims-Melbourner zu jenen Menschen, die – weil sie es | |
sich finanziell leisten können – mehr Energie und Ressourcen verbrauchen | |
als sozial Schwächere und Abgehängte. | |
Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Einkommen und Ökobilanz, das | |
hat das [3][Umweltbundesamt (UBA) 2017 in einer repräsentativen Studie | |
herausgefunden]. Der Zusammenhang existiert unabhängig davon, ob sich | |
jemand als umweltbewusst einschätzt oder nicht. Zusammengefasst lässt die | |
Studie folgendes Ergebnis zu: Wer mehr Geld hat, kauft sich umweltschonende | |
Hausgeräte wie Kühlschrank und Waschmaschine, aber auch ein größeres Auto. | |
Steckt Geld in die Wärmedämmung, wohnt aber auch in einer größeren Wohnung. | |
Fährt Rad, fliegt aber öfter. | |
## Manche müssen lernen zu verzichten | |
Charlotte Wilkens gehört nicht zu denen mit mehr Geld. Die gelernte | |
Setzerin ist seit Jahren arbeitslos. Als die Zeitungs- und Buchproduktion | |
digitalisiert wurde, wurde sie gekündigt. Nicht sofort, aber als sie sich | |
weigerte, Arbeiten zu übernehmen, für die sie nicht ausgebildet war. Heute | |
lebt die inzwischen 54-Jährige von Hartz IV. Umschulungen hat sie | |
abgelehnt, sie sagt: „Ich will weder Köchin noch Altenpflegerin sein“, | |
Jobs, die ihr zum Quereinstieg angeboten wurden. Wilkens will wenigstens | |
„etwas Artverwandtes“ machen. | |
Sie hat 424 Euro im Monat zu Verfügung, den üblichen Hartz-IV-Satz. „Das | |
reicht gerade so“, sagt sie. Wilkens lebt allein, hat keine Kinder, zur | |
Zeit auch keinen Freund. Sie brauche nicht viel, sagt sie: „Ich habe | |
gelernt zu verzichten.“ Aber ein neuer Kühlschrank könnte es schon mal | |
sein. Der in ihrer Küche ist über 20 Jahre alt und rostet an der oberen | |
linken Ecke. „Die Ökobilanz des Gerätes ist grauenhaft“, sagt die Frau. | |
Wilkens heißt anders, ihr richtiger Namen soll nicht in der Zeitung stehen | |
– um ihr nicht die letzten Chancen auf einen neuen Job zu verbauen. So | |
hofft sie jedenfalls. | |
Urlaub? „Ist nicht drin.“ Das letzte Mal war sie vor acht Jahren länger | |
außerhalb Berlins: zwei Wochen Campingurlaub mit Freunden. Sie fährt | |
höchstens mal ein Wochenende nach Leipzig zu einer Freundin, mit dem | |
Flixbus. Oder mit der S-Bahn nach Rüdersdorf, einem Berliner Vorort, zu | |
Verwandten. | |
## Aus Protest CDU gewählt | |
Bei der letzten Bundestagswahl 2017 hat Wilkens CDU gewählt. „Das erste | |
Mal“, sagt sie: „Aus Protest.“ Sonst habe sie ihr Kreuz immer bei der SPD | |
gesetzt. „Aber die macht nichts für Menschen wie mich.“ Hartz IV ist immer | |
noch da, obwohl „die Sozen“ das längst wieder abgeschafft haben wollten. | |
Wilkens sagt: „Mein Frust ist groß.“ Die Grünen empfindet sie als | |
„Ökoschwätzer“ und „Spinner“, die „satt in großen, schicken Wohnun… | |
hocken und sich um die Zukunft keine Gedanken machen müssten“. Umweltschutz | |
interessiert Wilkens nicht. Sie sagt wörtlich: „Im Winter ist mir mein | |
warmer Arsch wichtiger als saubere Luft.“ | |
Wilkens kauft im Discounter ein. „Mehr kann ich mir nicht leisten“. Dort | |
greift sie eher selten zu Gemüse und Obst und noch seltener zu Bio-Gemüse, | |
dafür öfter zu Fertigprodukten. „Meistens habe ich keine Lust zu kochen“, | |
sagt sie: „Und wenn ich Hunger habe, muss es schnell gehen.“ Ein Fahrrad | |
besitzt sie nicht, das wurde ihr vor drei Jahren geklaut. Dafür fährt sie | |
mit öffentlichen Verkehrsmitteln: S-Bahn, U-Bahn, Bus, Straßenbahn. Wenn | |
sie die 27,50 Euro für das Sozialticket nicht hat, läuft sie. Oder bleibt | |
zu Hause. Wilkens ökologischer Fußabdruck, den sie mit der taz errechnet, | |
liegt nicht nur weit unter dem deutschen, sondern auch knapp unter dem | |
weltweiten Durchschnitt. | |
Dem Umweltbundesamt zufolge produzieren Menschen wie Wilkens, die mit dem | |
Fernbus fahren, pro Kilometer 32 Gramm CO2. Dagegen erzeugt ein | |
Flugkilometer, wie ihn Familie Dielmann mehrfach wegschrubbt, rund 201 | |
Gramm. Es ist verrückt: Das gehobene und kritisch-kreative Milieu, zu dem | |
sich die Dielmanns rechnen, verstärkt die Klimakatastrophe um ein | |
Vielfaches mehr als Wilkens, der Umweltschutz egal ist. In der UBA-Studie | |
heißt es: „Der Einfluss des Einkommens ist dabei besonders groß: Die | |
Befragten in der untersten Einkommensgruppe haben im Mittel einen | |
Gesamtenergieverbrauch von rund 10.000 Kilowattstunden pro Jahr (kWh/a), | |
bei Befragten mit hohen Einkommen liegt er mit knapp 20.000 kWh/a fast | |
doppelt so hoch.“ Angehörige der prekären Milieus haben also den geringsten | |
Energieverbrauch. | |
Grit Dielmann ist ratlos, wie sie ihr Leben ohne Fliegen organisieren soll. | |
„Australien ist meine zweite Heimat geworden, ich muss da immer wieder | |
hin“, sagt sie. Und Charlotte Wilkens? Sie winkt ab: „Ist doch eh alles | |
egal.“ Dann lächelt sie: „Wenigstens einmal besser sein als diejenigen, die | |
sich für etwas Besseres halten.“ | |
20 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fussabdruck.de/fussabdrucktest/#/start/index/ | |
[2] https://www.kirche.org.au/profile/pastor-christoph-dielmann/ | |
[3] https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/wer-mehr-verdient-… | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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