# taz.de -- Vietnamesische Vertragsarbeiter in DDR: Ruinen von Erinnerungen | |
> Die großen Betonklötze an der Gehrenseestraße in Lichtenberg stehen schon | |
> seit Jahrzehnten leer, bald soll hier neu gebaut werden. | |
Bild: Sung Tieu vor ihrem ehemaligen Zuhause | |
BERLIN taz | An einem sonnigen und warmen Samstagmittag steht eine Traube | |
Menschen an einer viel befahrenen Straße in Lichtenberg, die einst eine | |
Grenze war: [1][Ab den 80er Jahren trennte sie die | |
Vertragsarbeiter*innen der DDR von der deutschen | |
Mehrheitsgesellschaft.] Heute sind von der ehemaligen | |
Vertragsarbeiter*innensiedlung nur noch Ruinen übrig, bald sollen | |
hier neue Wohnungen entstehen. | |
1994 zog die damals siebenjährige Sung Tieu mit ihrer Mutter und ihrer | |
Freundin in die Gehrenseestraße in Alt-Hohenschönhausen. Ihr Vater war als | |
Vertragsarbeiter aus Vietnam, einem der sogenannten Bruderländer, in die | |
DDR geholt worden. Mittlerweile ist Tieu eine international renommierte | |
Künstlerin und bietet in ihrem ehemaligen Zuhause Führungen zu dessen | |
Geschichte an. | |
Die gehört eher zu den dunkleren Kapiteln der geteilten Stadt. Sung Tieu | |
durchleuchtet die Gewalt und den strukturellen Rassismus und verwebt dies | |
mit ihren eigenen Erfahrungen. Die Künstlerin will damit auf ein Thema | |
aufmerksam machen, das vom Vergessen bedroht ist. Denn die Baufirma | |
Belle-Epoque will hier gemeinsam mit der landeseigenen | |
Wohnungsbaugesellschaft Howoge ein „Nachhaltigkeitsquartier“ bauen. | |
Rund 1.000 Wohnungen sollen hier entstehen, dazu noch eine Grundschule, | |
Kitas sowie Einzelhandel und Gastronomie. Auch ein Erinnerungsort ist | |
geplant. Dennoch befürchtet Sung Tieu, dass mit dem Abriss der Gebäude auch | |
die Geschichte ihrer Bewohner*innen verschwinden könnte. Das will die | |
Künstlerin verhindern. | |
Der Spaziergang beginnt an der mehrspurigen Straße, die die | |
Bewohner*innen der Plattenbauten sichtbar von den deutschen | |
Bürger*innen trennte. Diese Form der architektonischen Segmentierung, so | |
Tieu, sollte die Arbeiter*innen weit weg von den DDR-Bürger*innen und | |
nah an den Fabriken positionieren. Das Areal wird von Nachbar*innen als | |
„Schandfleck“ bezeichnet, sagt Tieu. | |
## Zehntausende Menschen kamen nach Ostdeutschland | |
Durch einen Bauzaun, der sich leicht verrücken lässt, betritt man das sonst | |
abgesperrte, 6,3 Hektar große Gelände zwischen Gehrensee-, Wartenberger und | |
Wollenberger Straße. Seit 2003 liegt das Gelände brach. Der Beton an den | |
Häusern bröckelt, der Asphalt ist an vielen Stellen aufgerissen und übersät | |
mit zersprungenem Glas, zerdrückten Dosen und zerrissenen Plastiktüten. An | |
manchen Stellen liegen Teile der Betonwände auf dem Boden. Die Natur hat | |
sich den Ort zurückerobert: Er ist überwachsen von hohem Gras, Sträuchern | |
und Bäumen. An den Fassaden sind zahlreiche Graffiti zu sehen. | |
Vor einem großen Loch im Boden kommt die Künstlerin zum Stehen und beginnt | |
zu erzählen. [2][1980 unterzeichnete die DDR mit Vietnam und anderen | |
Ländern bilaterale Verträge für „Anwerbeabkommen“], um den Fachkräftema… | |
zu bekämpfen. Zehntausende Menschen kamen nach Ostdeutschland, um zu | |
studieren und zu arbeiten, die meisten von ihnen aus Vietnam. Integriert | |
wurden sie jedoch nicht. Auch waren Privat- und das Berufsleben der | |
Arbeiter*innen durchweg fremdbestimmt. Weder durften sie sich | |
aussuchen, wo sie wohnen, noch wo sie arbeiten oder wie sie leben wollen. | |
Die Leben Zigtausender Menschen, die nach Deutschland kamen, wurden somit | |
bürokratisiert und kontrolliert. Es gab strikte Hausordnungen, die die | |
Vertragsarbeiter*innen zu befolgen hatten, etwa was Besuch betraf. An | |
den Eingängen gab es Kontrollen und es wurde Protokoll geführt, wer die | |
Häuser betritt und verlässt, um zu überwachen, wer arbeitet und wer | |
schläft. | |
Die Gehrenseestraße war der größte Wohnheimkomplex der vietnamesischen | |
Community. In neun Häuserblocks mit je sechs Stockwerken gab es um die | |
1.000 Wohnungen. Pro Person sollten jedem Arbeiter fünf Quadratmeter | |
Privatsphäre zustehen, was in Realität jedoch nicht erfüllt worden sei, | |
sagt Tieu. Stattdessen lebten drei bis vier Personen in einem 16 | |
Quadratmeter Zimmer. | |
Unabhängig davon, ob sie verheiratet waren oder nicht, wurden Paare oftmals | |
in verschiedene Unterkünfte aufgeteilt, und es war ihnen untersagt, | |
gemeinsam zu leben. „Manchmal versetzte man Ehepaare für die Arbeit sogar | |
in verschiedene Städte“, erzählt Sung Tieu. Wurde eine Vertragsarbeiterin | |
schwanger, konnte das nur zweierlei bedeuten: Ausreise oder Abtreibung. Aus | |
Angst, wieder zurück in ihre Heimat geschickt zu werden, trieben viele | |
Frauen ab, sagt Tieu. | |
## Hier lebte die größte vietnamesische Community. | |
Die Behandlung der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen habe oft an | |
die von Bürgern zweiter Klasse erinnert, was auch an der Sprachbarriere | |
gelegen habe. Ab 1987 wurden nur einmonatige Sprachkurse angeboten, wodurch | |
die Menschen sich selbst überlassen blieben und Barrieren zu den | |
Einheimischen hochgehalten wurden. | |
Nicht nur das Privatleben, auch das Arbeitsleben war Sache des Staates. | |
Viele der Arbeiter*innen arbeiteten in volkseigenen Betrieben wie dem | |
Fleischkombinat, dem DDR-Stern-Radio-Berlin, Berliner Lederwaren oder dem | |
Funkwerk Köpenick. Die meisten der Arbeitsverträge wurden nach der Wende | |
aufgelöst, was den ausländischen Arbeitenden nicht nur die | |
Existenzgrundlage, sondern auch den Wohnheimplatz entzog und somit das | |
Bleiberecht. [3][Von jetzt auf gleich fielen die | |
Vertragsarbeiter*innen in einen ungeklärten und perspektivlosen | |
Status.] | |
Die Bundesregierung versuchte, sie durch Rückführungsabkommen | |
zurückzuschicken. „Im Fall von Vietnam war es so, dass die Regierung | |
anfänglich ihre Bürger*innen nicht zurückhaben wollte“, erzählt Tieu. Es | |
gab eine Art Abfindung und ein Flugticket, verbunden mit der Bitte, | |
Deutschland sofort zu verlassen. In ihrer Not reisten viele | |
Vertragsarbeiter*innen zurück, obwohl in vielen dieser Länder Krieg, | |
Armut und Notstände herrschten. Andere, wie Tieus Vater, blieben jedoch. | |
Tieu führt die Gruppe in ihr altes Zuhause im zweiten Stock, im Block G. | |
Erst nach dem Mauerfall lebte die Künstlerin mit ihrer Mutter und ihrer | |
Freundin von 1994 bis 1997 in der Gehrenseestraße. Nach der Wende wurde der | |
Wohnkomplex privatisiert. Die Plattenbauten entwickelten in ihrer Notlage | |
ein eigenes Ökosystem: Die Bewohner*innen eröffneten informelle | |
Restaurants in ihren Wohnungen, verkauften unverzollte Zigaretten oder | |
errichteten unweit Blumen- oder Lebensmittelstände. Selbstorganisiert, | |
gemeinsam mit gemeinnützigen Vereinen, kümmerten sie sich um | |
Kinderbetreuung, Übersetzungshilfe und andere alltägliche Strukturen. | |
## Es war „Mainstream“ gewesen, gegen Ausländer zu wettern | |
Die Regel, um in Deutschland bleiben zu dürfen, beschreibt Tieu so: „Wenn | |
ihr euch selbst ernähren könnt, werdet ihr geduldet.“ Das Problem: Die | |
Mieten stiegen um ein Vielfaches, statt der 10 DDR-Mark für ein Bett im | |
Viererzimmer waren es im Jahr 1992 schon 280 Deutsche Mark für ein | |
Einzelzimmer. Um die 2000er kostete eine Wohnung in der Gehrenseestraße | |
dann sogar über 1.000 Deutsche Mark. | |
Vorbei an Sperrmüll geht die Gruppe am Ende eines langen Ganges in das 16 | |
Quadratmeter große ehemalige Zimmer der Künstlerin. Als kleines Kind | |
spielte Tieu Kartenspiele mit einem Freund aus der Wohnung gegenüber durch | |
einen Türschlitz hindurch. Aus Angst der Mutter, der Sohn könne ihr | |
weggenommen werden, habe er tagsüber nicht das Zimmer verlassen dürfen, | |
erzählt sie. Also kommunizierten die beiden meistens durch einen kleinen | |
Spalt. | |
Damals sei es gang und gäbe gewesen, gegen Ausländer zu wettern, sagt Tieu. | |
Die rassistischen Anfeindungen gipfelten schließlich in dem Pogrom von | |
Rostock-Lichtenhagen, als 1992 ehemalige vietnamesische | |
Vertragsarbeiter*innen um ihr Leben fürchten mussten, weil die | |
zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen angegriffen wurde. Die | |
Polizei stand untätig daneben. Im selben Jahr wurde der vietnamesische | |
Vertragsarbeiter Nguyễn Văn Tú in Marzahn von Neonazis erstochen. | |
Die Erinnerungen und Geschichten, die Tieu in der Führung vermittelt, sind | |
auch integraler Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis, die von den Themen | |
Migration, Exil und rechtliche Grauzonen durchdrungen ist. Ihre eigenen | |
Erfahrungen verwebt die Künstlerin dabei mit Archivrecherche in | |
raumgreifenden Installationen. | |
## Auch ihre Vergangenheit hat die Künstlerin verewigt | |
Auch ihre Vergangenheit in der Gehrenseestraße hat die Künstlerin verewigt. | |
Ihre Videoarbeit „One Thousand Times“ ist derzeit im Haus der Kulturen der | |
Welt in der Ausstellung „Echos der Bundesländer“ zu sehen. Die Kamera | |
tastet behutsam und ruhig die Fassade des Hauses ab, in dem Tieu lebte. Das | |
saftige Grün der Bäume steht im kühlen Kontrast zum Beton der Wände. Durch | |
die Treppenhäuser strahlt der blaue Himmel hindurch. | |
Die Monotonie der Architektur wird durch den Efeu gebrochen, der sich an | |
einigen Fassaden emporwindet und in die Wohnungen eindringt, die keine | |
Fenster oder Türen mehr haben. Die Kamera schwenkt zu den pastellgelben | |
bewohnten Plattenbauten auf der anderen Straßenseite, dem deutschen Pendant | |
zu den Unterkünften der Vertragsarbeiter*innen. Das Video endet, ebenso wie | |
die Führung, in Tieus ehemaliger Wohnung. Auch wenn diese eines Tages nicht | |
mehr da sein wird, durch ihre Arbeit hat die Künstlerin die Erinnerungen an | |
die Geschichte der Vertragsarbeiter*innen in der Gehrenseestraße vor | |
dem Abriss bewahrt. | |
22 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Theresa Weise | |
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