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# taz.de -- Rassismus in der DDR: „Es gab immer wieder Angriffe“
> 1975 jagten Hunderte Deutsche algerische Arbeiter durch Erfurt. Jan
> Daniel Schubert ist Mitinitiator des ersten Gedenkens an die rassistische
> Hetzjagd.
Bild: Der algerische Vertragsarbeiter Mohamed Kecheroud (vorne links) mit Kolle…
taz: Herr Schubert, die Tage vom 10. bis zum 13. August 1975 in Erfurt
gelten als die ersten massiven rassistisch motivierten Ausschreitungen nach
1945 in Deutschland. Wie würden Sie beschreiben, was damals passiert ist?
Jan Daniel Schubert: Bis zu 300 Deutsche haben Algerier durch die
Innenstadt gejagt und mehrere von ihnen krankenhausreif geschlagen. In den
folgenden Tagen gab es immer wieder Angriffsversuche. Es waren
Ausschreitungen gegen neu angekommene Arbeitsmigranten aus Algerien. Zuvor
kursierten rassistische Gerüchte in der Stadt: vermeintliche
Vergewaltigungen und Morde, angebliche Bevorzugung bei der Vergabe von
Wohnraum. Alles ohne reale Grundlage, aber die Stimmung kochte hoch und
eskalierte auf einem Volksfest am 10. August.
Wie reagierten die Volkspolizei und der Geheimdienst?
Die Polizisten auf dem Volksfest haben ihre Hunde auf die angegriffenen
Arbeitsmigranten gehetzt. Drei Algerier wurden dabei verletzt. Das war eine
erste Reaktion. Nach der Hetzjagd waren Volkspolizei und Staatssicherheit
stark in der Stadt präsent, um weitere Angriffe zu unterbinden.
Wie haben sich die Arbeiter aus Algerien verhalten?
Erst haben viele versucht, sich zu wehren. Sie sahen sich aber einer
Übermacht gegenüber und ergriffen die Flucht. Am Tag drauf haben sie sich
in Komitees organisiert, das Essen und den Unterricht verweigert.
Angesichts erneuter Angriffsversuche bewaffnete sich eine Gruppe mit
Messern, Stöcken und Drahtseilen. Im Allgemeinen erzählten mir ehemalige
Arbeitsmigranten, dass physische Auseinandersetzungen häufig auftraten.
Inwiefern?
Diese Ausschreitungen im August 1975 waren ein Extrem. Es waren aber nicht
die ersten Anfeindungen und nicht die einzige Schlägerei nach einer
rassistischen Beleidigung. So etwas hat das Leben der Arbeitsmigranten in
der DDR kontinuierlich geprägt. Sie hatten ein beeindruckendes Verständnis
von gegenseitiger Unterstützung und Solidarität. Wurde einer angegriffen,
taten sich die anderen oft zusammen, um die angegriffene Person zu
unterstützen. Eine andere Ebene des Widerstands ist für die algerischen
Arbeiter bis heute aber viel bedeutsamer.
Welche?
Ihre Freundschaften und Beziehungen. Die sind an sich schon widerständig
gewesen, weil vor allem Liebesbeziehungen weder vom Staat noch von der
Mehrheitsgesellschaft gewollt waren. Außerdem haben algerische Arbeiter
Streiks organisiert für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. In
Erfurt und an anderen Orten.
Sie waren gerade in Algerien und haben mit Menschen gesprochen, die in der
DDR gearbeitet haben. Wer kam damals hierher?
Aus Algerien warb die DDR nur Männer an. Bei anderen Migrationsabkommen
kamen teilweise auch Frauen. Die Algerier waren meist um die 20 Jahre alt
und hatten in ihrer Kindheit den Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich
erlebt. Einige waren Halbwaisen, ihre Väter wurden im Krieg getötet. Dann
mussten sie sehr früh familiäre Verantwortung übernehmen. In der Regel
hatten sie eine Schulausbildung. Sie suchten einen sicheren Beruf, den sie
in der DDR erlernen sollten.
Und warum ausgerechnet die DDR?
Die DDR hat 1974 ein Migrationsabkommen mit Algerien geschlossen, weil im
Land ein Mangel an Arbeitskräften herrschte. Vielen algerischen Arbeitern
war erst einmal gar nicht so wichtig, ob sie in die DDR oder die BRD
gingen. Sie wollten die Welt sehen, sich entwickeln. Viele wollten Geld
zurückschicken und ihrer Familie ein besseres Leben ermöglichen.
Was hatte Algerien davon?
Dort gab es eine hohe Arbeitslosigkeit und das Land brauchte Fachkräfte.
Deswegen beinhaltete das Abkommen auch die Ausbildung. Diese Ausbildung
fand oft abends nach anstrengenden Arbeitstagen statt und war teilweise
mangelhaft, aber es gab sie.
Die DDR verstand sich per Verfassung als antifaschistischer Staat. Wie
konnte es dann zu den Ausschreitungen im August 1975 kommen?
In der DDR waren Völkerfreundschaft und Antifaschismus von oben verordnet.
Das hat aber die Gesellschaft nicht tiefgehend durchdrungen. Die
Gesellschaft der DDR war, so weit ich das beurteilen kann, nicht
rassistischer als in Westdeutschland, aber beide hatten ein
nationalsozialistisches und ein koloniales Erbe.
Welches Erbe?
Beispielweise sind die Gerüchte über Vergewaltigungen, mit denen Algerier
1975 konfrontiert wurden, den rassistischen Diskursen über Schwarze und
nordafrikanische Soldaten während der Rheinland-Besetzung sehr ähnlich. Die
Erzählungen wurden im Nationalsozialismus noch verstärkt. Dieses Erbe
konnte in der DDR nicht kontrovers und kritisch diskutiert werden. Das
Regime verstand sich als Staat, in dem Kapitalismus und Faschismus besiegt
waren und in dem es schlicht keinen Rassismus geben konnte.
Liest man die Stasiakten zu diesen Ausschreitungen, fallen Parallelen auf
im Agieren der damaligen sozialistischen Behörden mit Polizei und Justiz
heute. Es werden Einzeltäter gesucht, Eigenschaften hervorgehoben, die sie
zu Außenseitern machen. Die Gesellschaft wird schon während der
Ermittlungen entlastet.
Ja, die Staatssicherheit machte fünf vermeintliche Haupttäter aus und
betonte in ihren Akten, dass diese seit frühester Jugend „eine
asozial-kriminelle Lebenshaltung“ hätten. Es wurden kleinere Vorstrafen
hervorgehoben oder dass sie im DDR-Sprech als „Arbeitsbummelanten“ galten.
Als Menschen, die angeblich nicht fleißig genug waren. Die Täter waren
jung, so um die zwanzig Jahre alt. Die fünf wurden am 19. August vor
Gericht verurteilt – später im Herbst folgte noch eine sechste
Verurteilung.
Stand darüber später etwas in den Zeitungen?
Dort hieß es, die fünf Verurteilten hätten die öffentliche Ordnung gestört.
Dass Algerier durch die Stadt gejagt worden waren, stand dort nicht. Die
Namen der vermeintlichen Haupttäter wurden abgedruckt, ebenso das Strafmaß.
Zweieinviertel bis viereinhalb Jahre Gefängnis. Das sollte abschrecken.
Und wie lief die Diskussion innerhalb der SED?
Eine Woche nach den Ausschreitungen wurden diese bei einer sogenannten
Stadtparteiaktivtagung in Erfurt thematisiert. Über 800 Delegierte der SED
waren anwesend. Dort wurde folgendes Narrativ kundgegeben: Die
Ausschreitungen beruhten auf westlicher Infiltration. Das Ziel sei gewesen,
die DDR und ihren Antifaschismus zu diskreditieren.
Das wurde aber nicht öffentlich gemacht?
Nein. Zu viel Öffentlichkeit hätte wohl der befürchteten Diskreditierung
durch den Westen Vorschub geleistet. Die Erklärung sollte eher eine
Argumentationshilfe sein für den Umgang der SED-Delegierten mit
rassistischen Gerüchten in der Stadt und in den Betrieben.
Wie erinnern sich Menschen in Erfurt und in Ostdeutschland heute an die
Ausschreitungen von 1975?
Viele Erfurter:innen erinnern sich daran leider im Rahmen rassistischer
Narrative. Ah, die wollten uns unsere Mädchen wegnehmen … In der Stadt hat
jahrzehntelang nichts an Erinnerungsarbeit stattgefunden. Ab den
2010er-Jahren gibt es Publikationen, in denen auf die rassistischen
Ausschreitungen hingewiesen wird. Seither thematisieren lokale Initiativen
diese und das Erinnern daran.
Und wie erinnern sich die ehemaligen Arbeiter aus Algerien, mit denen Sie
sprechen?
Nur ein Teil von ihnen sagt, das war gewaltvoller Rassismus. Ein anderer
Teil sagt, Rassismus hätten sie in der DDR nicht erlebt, auch wenn sie die
Gewalt schildern. Meist verbinden sie den Begriff Rassismus zuerst mit der
exzessiven Gewalt der französischen Kolonialherrschaft. Oder mit
rassistischen Zuschreibungen zwischen verschiedenen Gruppen in Algerien.
Ohne ihre Perspektive zu negieren, stelle ich auf einer analytischen Ebene
fest, dass das, was 1975 in Erfurt passiert ist, auch Rassismus war.
Sie werden am 8. August in Erfurt zum ersten Mal öffentlich mit algerischen
Zeitzeugen sprechen. Warum erst jetzt?
Am 10. August spricht auch einer bei einer antirassistischen Demonstration.
Lange haben sich Historiker:innen dem Thema vor allem über Stasiakten
genähert. Aber wir müssen die Betroffenen fragen und sie einbinden in die
Geschichtsschreibung.
Mohamed Kecheroud ist einer der algerischen Arbeiter auf dem Bild oben
(vorne links). Er musste 1979 die DDR verlassen und der Kontakt zu seinen
drei Kindern brach ab. Seit einigen Jahren versucht er sie wiederzufinden.
Falls sie Hinweise haben, können Sie sich an [1][den Autor dieses Textes
wenden].
17 Jul 2024
## LINKS
[1] /investigativ/
## AUTOREN
Daniel Schulz
## TAGS
DDR
Vertragsarbeiter
Kolumne Flimmern und Rauschen
Schwerpunkt Rassismus
Vertragsarbeiter
Rassismus
Wahlen in Ostdeutschland 2024
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