# taz.de -- Rassistische Ausschreitungen in Erfurt: Vom Verschwinden des 10. Au… | |
> Vor 50 Jahren jagten mehrere hundert Menschen algerische Vertragsarbeiter | |
> durch Erfurt – doch aus dem öffentlichen Bewusstsein ist das wie | |
> ausradiert. Was erzählen die Männer, die sich damals wehrten? | |
Bild: Hamdane Abboud (ganz rechts) und Ali Seddiki (links neben ihm) bei einem … | |
Es gibt Geschichten, die sind so groß, dass sie eigentlich gar nicht in | |
Vergessenheit geraten können. Wenn in einer deutschen Großstadt mehrere | |
hundert Menschen Arbeiter aus einem anderen Land durch die Stadt jagen, | |
sich mit Holzlatten und Messern bewaffnen und versuchen, die Wohnheime | |
dieser Arbeiter anzugreifen, die Post belagern, Polizisten verprügeln, und | |
wenn sie das nicht an einem Tag tun, sondern an zwei, drei, vier Tagen, | |
dann sollte, dann müsste diese Geschichte doch einen tiefen Abdruck | |
hinterlassen im Gedächtnis der Stadt. Im Gedächtnis eines ganzen Landes. | |
Nun, bei dieser Geschichte ist das nicht so. Einzelne | |
Wissenschaftler:innen haben in den letzten 15 Jahren auf sie | |
hingewiesen, es gibt ein paar Beiträge fürs Radio, eine Fernsehdoku. | |
Dennoch sind die Ausschreitungen von Erfurt – die ersten bekannten | |
Massenhetzjagden auf Ausländer in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – | |
aus dem öffentlichen Bewusstsein so gut wie verschwunden. Eine der | |
Autor:innen dieses Textes ist in dieser Stadt aufgewachsen, und als wir | |
unsere Recherche vor vier Jahren beginnen, da hat sie von „Erfurt ’75“ no… | |
nie etwas gehört. | |
Vielleicht hat das Verschwinden der Geschichte damit begonnen, dass es | |
nicht den einen Anfang gibt. Selbst das Ministerium für Staatssicherheit | |
der DDR, einer der gefürchtetsten Geheimdienste der Welt, konnte nicht | |
ermitteln, wie genau es damals wirklich begann. Wo und wann, das wissen | |
wir: in den Abendstunden des 10. August 1975, auf dem Platz vor dem | |
Erfurter Dom. Auf einem Rummel. Zwischen Karussell, Losbude und | |
Autoscooter. | |
Es gibt nicht einen Anfang, es gibt viele. Es gibt die Erinnerungen | |
derjenigen, die dabei waren. | |
Es ist also der 10. August 1975, es ist warm, es ist wieder einmal | |
Sommerfest, hier sind die Erfurter:innen all die Jahre davor | |
hingegangen, hier gehen sie auch dieses Jahr wieder hin. Unter ihnen: | |
Hamdane Abboud. | |
In der letzten Juniwoche ist er nach Erfurt gekommen, in zwei Tagen wird er | |
21 Jahre alt. 150 Männer aus Algerien hat die DDR für Erfurt angeworben, um | |
in drei Betrieben zu arbeiten. Etwa 8.000 werden es über die nächsten Jahre | |
im sozialistischen Deutschland werden. Es fehlen Arbeitskräfte. Hamdane | |
Abboud und seine Kollegen werden an Häusern bauen, die noch heute in Erfurt | |
stehen. An einer Brücke, auf die sie besonders stolz sind. | |
An diesem Abend vor 50 Jahren läuft Hamdane Abboud mit algerischen Kollegen | |
über den Rummel. Sie gewinnen Plüschtiere, erinnert er sich, an einer | |
dieser Buden, an denen man mit dem Luftgewehr schießen kann. | |
Er erinnert sich, dass deutsche und polnische Frauen dabei sind, ihre | |
Freundinnen, und er erinnert sich an die Worte, die plötzlich fallen. | |
Worte, die diesen Freundinnen gelten: „Nutten! Schlampen!“ | |
Er kann diese Beleidigungen noch heute auf Deutsch sagen. An das Wort | |
„Kameltreiber“ erinnert er sich ebenfalls. Daran, dass ein Mann seinem | |
Freund Ahmed ins Gesicht spuckt, und dass Ahmed dem Mann eine Ohrfeige | |
gibt. Weitere Menschen kommen dazu, immer mehr, immer wütender. Rufe, | |
Schreie, Schläge. Hamdane Abboud sieht, wie schnell sie in der Unterzahl | |
sind. | |
Und rennt los. | |
Wenn er heute über den Abend des 10. August 1975 spricht und über die | |
Abende danach, überlegt Hamdane Abboud nicht lange. Er redet schnelles | |
Französisch, er nennt Details, beginnt seine Sätze mit „écoute“, was auf | |
Deutsch so viel bedeutet wie: „Hör zu!“, „Pass auf!“ Er erzählt uns s… | |
Geschichte in Videotelefonaten, [1][in Gesprächen] in seinem Lastwagen in | |
einem Dorf nahe der Stadt Tizi Ouzu, ganz im Norden Algeriens. | |
Hamdane Abboud, der 20 Jahre alt war, als er in Erfurt über den Rummel | |
ging, wird dieses Jahr 71. Seine Erinnerungen sind lückenhaft, verändern | |
sich, so wie es bei jedem wäre nach 50 Jahren, so wie es bei allen Menschen | |
ist, mit denen wir für diesen Text gesprochen haben. Wir konzentrieren uns | |
auf das Feste in ihren Erzählungen, auf das, was sich nicht verändert. | |
Hamdane Abboud rennt. | |
Anderthalb Kilometer sind es vom Domplatz zum Hauptbahnhof, und am Bahnhof | |
ist ein Café. Das kennt er, dort rennt er hin. 20 Minuten braucht man für | |
die Strecke, wenn man langsam läuft. Damals verschwimmen ihm Zeit und | |
Umgebung. An eines erinnert er sich sicher: wie er verfolgt wird von immer | |
wieder anderen Männern. | |
150 Menschen versammeln sich auf dem Domplatz um die algerischen Arbeiter. | |
Die meisten sind junge deutsche Männer, ein paar kommen aus Ungarn, auch | |
sie hat die DDR für die Betriebe der Stadt angeworben. Sie leben schon | |
länger in Erfurt als Hamdane Abboud und die anderen Algerier. Die Menge | |
wächst rasant, schnell sind da 300 aufgebrachte Menschen. | |
150. 300. Beide Zahlen tauchen immer wieder in den Akten der | |
Staatssicherheit auf. Die Stasi ist Geheimdienst und Ermittlungsbehörde in | |
einem, sie überwacht und diskreditiert Menschen in der DDR. Entsprechend | |
vorsichtig muss man lesen, was sie schreibt. Wir haben wenn möglich andere | |
Dokumente aus dieser Zeit mit denen des MfS verglichen. Und wir halten | |
besonders die Papiere für glaubwürdig, in denen die Staatssicherheit ihr | |
eigenes Versagen offenlegt: Die Offiziere der Stasi haben keine Leute auf | |
dem Domplatz. Sie rechnen nicht damit, dass dort etwas Bedeutsames | |
passiert, und werden von der Gewalt völlig überrascht. | |
„Jugendliche der bezirkshauptstadt“ jagen Algerier „in aufgebrachter | |
progromhafter stimmung“, schreiben sie [2][in einem Bericht], der zwei Tage | |
später um 14 Uhr auf dem Tisch des stellvertretenden Ministers für | |
Staatssicherheit in Berlin landet, „einzelne gruppen mit auf baustellen und | |
von marktstaenden entwendeten latten und stangen“. | |
Hamdane Abboud rennt. Er rennt auf den weiten Platz vor dem Bahnhof, dem | |
heutigen Willy-Brandt-Platz. Er sieht rechts den Bahnhof und links das | |
Café. Er will da jetzt rein, aber die vom Café lassen ihn nicht. Dann | |
trifft ihn etwas am Kopf. Er sagt, dass seine Erinnerung an den 10. August | |
1975 in diesem Moment endet. | |
Er sieht nicht, wie ein Deutscher einen Algerier mit einer Rasierklinge | |
schneidet und damit prahlt. | |
Er sieht nicht, wie ein algerischer Mann am Fischmarkt in eine Straßenbahn | |
flüchten will und wie ein zwanzigjähriger Ziegeleiarbeiter diesen Mann von | |
hinten packt, von der Bahn wegreißt und ihn mehrfach schlägt, bis er zu | |
Boden geht. Er sieht nicht, wie andere den Mann weiter verprügeln. | |
Er sieht nicht, dass diese Straßenbahn gar nicht hätte losfahren können, | |
weil die Menge die Gleise blockiert. | |
Er sieht nicht, wie Menschen nicht weit davon entfernt einen algerischen | |
Mann einkreisen und wie ein 23-jähriger Deutscher ihn schlägt. | |
Er hört nicht, wie sich deutsche Männer zurufen, wo angeblich noch Algerier | |
zu finden sind. Auf dem Anger, der Hauptgeschäftsstraße der Stadt. Am | |
Hauptbahnhof. | |
Er sieht nicht, wie ein Deutscher am Anger auf einen Algerier einschlägt, | |
und dann vielleicht noch auf einen zweiten, die Akten sind nicht eindeutig. | |
Vielleicht sieht er noch, wie sich vor dem Hauptbahnhof etwa 50 junge | |
Männer in Gruppen aufteilen und das Gebäude nach algerischen Männern | |
durchkämmen. Sie finden fünf, hetzen sie durch den Bahnhofstunnel, | |
schleudern einen gegen die Wand, er sinkt zu Boden. Die anderen wehren sich | |
mit Steinen, die sie zwischendrin aufgehoben haben, einer mit einer | |
Holzlatte. Er trifft damit einen Angreifer, der blutet. Die Algerier nutzen | |
diesen Moment, rennen weg. Jemand stellt einem der Fliehenden am Taxistand | |
ein Bein, er fällt hin, fünf oder sechs junge Männer verprügeln ihn. | |
Er ist auch noch nicht wieder zurück in seinem Wohnheim im Erfurter Norden, | |
als sich 60 Deutsche dorthin aufmachen. Sie wollen die Wohnblöcke der | |
algerischen Arbeiter angreifen. Die Volkspolizei fängt die Gruppe kurz | |
vorher ab. | |
Hamdane Abboud wacht nachts im Krankenhaus wieder auf. Er sagt, dass es | |
halb eins war, vielleicht auch schon eins. | |
Das ist ein Anfang der Geschichte. Der Anfang, wie ihn Hamdane Abboud | |
erzählt. Zum ersten Mal überhaupt in einer Zeitung zu lesen. Wenn | |
Autor:innen sich mit dem August 1975 in Erfurt befasst haben, dann | |
ausschließlich mit den Stasiakten. Wie die algerischen Arbeiter die | |
Hetzjagd erlebt haben, [3][wurde bisher nicht erzählt]. | |
In der DDR haben allein die einzig relevante Partei des Staates, die SED, | |
und ihr Geheimdienst die Macht, einen Anfang zu schreiben. Das dauert | |
allerdings. Am 10. August 1975 und in den Tagen danach kommen die Ermittler | |
auf verschiedene Versionen – und die widersprechen sich. Da soll ein | |
Deutscher eine „Schlägerei mit alger. Bürger begonnen“ haben, an anderer | |
Stelle war ein Streit zwischen „zwei ungarischen, zwei algerischen | |
jugendlichen, und einer jugendlichen ddr-buergerin auf dem domplatz“ die | |
Ursache. Um eine Frau geht es in diesen Niederschriften öfter, darum, dass | |
Männer Ansprüche auf diese Frau erheben. Sonst fällt vor allem auf, wie | |
fragmentarisch das ist, was die Staatssicherheit da zusammenträgt. | |
Am 12. August schreibt die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe der | |
Staatssicherheit: „Wer von den Beteiligten mit der Schlägerei begonnen hat, | |
ist nicht mit Sicherheit festzustellen.“ | |
Doch da ist noch die Sache mit den Hunden. | |
Noch einmal: Rummel vor dem Dom. 150 wütende, schreiende Menschen. | |
Irgendwann zwischen 20.30 Uhr und 21.15 Uhr. Wer auch immer am Anfang wen | |
angeschrien oder geschlagen hat, in den Akten steht mehrfach, dass zwei | |
Algerier verletzt sind. Polizisten bringen die beiden zu einem Stützpunkt | |
auf dem Platz, andere algerische Männer folgen ihnen, weg von der wütenden | |
Menge. | |
Die Situation ist laut, feindselig, aufgeheizt, aber eine Hetzjagd ist es | |
noch nicht. Dann schlägt wieder jemand jemanden. Und dann lassen die | |
Volkspolizisten ihre Diensthunde zubeißen. Sie verletzen drei Algerier | |
schwer. Einen davon am Kopf. | |
Erst nach diesen Bissen schwillt die Menge auf 300 Menschen an. Erst dann | |
schreien diese Menschen: „Aufstand gegen die Algerier“ und „Schlagt die | |
Algerier tot“. Erst dann jagen sie algerische Arbeiter mit Holzlatten und | |
Steinen durch die Erfurter Straßen. | |
Vielleicht wüssten wir bis heute nichts von diesen Bissen, wenn sich nicht | |
Männer aus der Stadtverwaltung darüber beschwert hätten. Bei einer Sitzung | |
des Rates der Stadt am 13. August, so hält es ein Zuträger des MfS in einem | |
Protokoll fest, rügten „Genossen“ die Volkspolizei für das brutale | |
Einsetzen der Hunde, „da es nicht überlegt war und die Schlägerei mit dem | |
Auftreten der VP erst richtig begann. Der Einsatz war zu stark auf die | |
Algerier gerichtet und bestärkte praktisch die Jugendlichen in ihrem | |
Auftreten gegen die Algerier“. | |
An die Öffentlichkeit dringt davon nichts. So etwas wie offene politische | |
Diskussionen und Pressefreiheit sind in der Diktatur des Proletariats nicht | |
vorgesehen. Am bedeutsamsten für die Suche nach dem Anfang dieser | |
Geschichte ist aber, dass es die Hetzjagd von Erfurt in der DDR gar nicht | |
geben dürfte. [4][Laut Artikel 6 seiner Verfassung] hat der sozialistische | |
Staat „den deutschen Militarismus und Nazismus ausgerottet“, Rassismus kann | |
demnach nicht existieren und auch keine rassistisch motivierte Gewalt. | |
Volkspolizei und Staatssicherheit arbeiten entsprechend. Rechtsextreme | |
Gewalt zum Beispiel taucht in DDR-Ermittlungsakten stets als unpolitisches | |
„Rowdytum“ auf. | |
Das wird die SED und die Staatssicherheit in den kommenden Wochen | |
beschäftigen. Wie sie sich selbst und anderen diese Tage im August | |
erklären. Wie sie einen Anfang finden für ihre Geschichte über Erfurt 1975 | |
und ein Ende. | |
Es gibt andere Geschichten zu erzählen, von diesem Abend. Geschichten von | |
Hilfe, von Solidarität. | |
Ali Seddiki sitzt am Abend des 10. August in genau jenem Café gegenüber dem | |
Hauptbahnhof, in das Hamdane Abboud versucht hereinzukommen. Ob sie sich | |
gesehen haben, wissen sie nicht mehr. Aber an die Angst erinnert Ali | |
Seddiki sich noch sehr gut. An das Würgen. | |
Wir treffen Ali Seddiki im Juni 2024 in seinem Haus in seiner Heimatstadt | |
Lakhdaria, gut 70 Kilometer südöstlich von Algier. So kurz vor dem | |
Opferfest fastet Seddiki noch, uns bietet er Kekse an. Als wir im Juli | |
dieses Jahres nochmal per Videotelefonat miteinander sprechen, trägt er ein | |
Deutschland-Trikot. Nicht extra für uns, das ist ihm wichtig, sondern weil | |
Deutschland seine zweite Heimat sei. | |
Wie die meisten algerischen Männer, mit denen wir reden, will er vor allem | |
erwähnen, was alles gut war in Deutschland. Nette Kollegen, Freundinnen, | |
Feiern – die DDR bleibt für Ali Seddiki und seine alten Kollegen vor allem | |
die Zeit ihrer Jugend, des Ausprobierens, der Freiheit fern der Heimat. Und | |
wie seine Kollegen gibt Ali Seddiki gern ein bisschen damit an, wie gut er | |
in der DDR Deutsch konnte. Die meisten Erfurter hätten ihn auf den ersten | |
Blick für einen Deutschen gehalten. Auch wegen seiner hellen Hautfarbe, | |
seiner rötlichen Haare. Der Hass, sagt Ali Seddiki, kam für ihn völlig | |
überraschend. | |
Als er am Abend des 10. August 1975 im Café gegenüber dem Bahnhof sitzt, | |
hört er von draußen lautes Geschrei. Er will wissen, was da los ist, er | |
geht raus, er erinnert sich an Männer, die Steine in der Hand halten und | |
Latten. Sie reden auf Deutsch mit ihm, was genau, weiß Ali Seddiki nicht | |
mehr; dass es etwas Rassistisches ist, das bleibt ihm im Gedächtnis. Und | |
eben das Würgen. | |
„Sie sind direkt auf mich los“, sagt Ali Seddiki. Er erinnert sich, wie ihn | |
ein großer Deutscher gegen die Wand drückt, an eine Hand in seinen Haaren, | |
an eine Hand um seinen Hals. „Wenn Abbas und Manaa nicht gekommen wären“, | |
sagt Ali Seddiki, „dann wäre ich tot.“ | |
Abdelkader Manaa, der Retter von Ali Seddiki. Die Gespräche mit ihm sind | |
die kürzesten dieser Recherche, er redet nicht gern über sich. Wir besuchen | |
ihn im April in Schweden, er lebt im Südwesten Stockholms, in einem | |
Wohnblock. Er empfängt uns mit Kaffee und Gebäck, wir essen Couscous mit | |
ihm. Später reden wir noch einmal per Videotelefonat. | |
Am 10. August sitzt Abdelkader Manaa mit anderen algerischen Männern in | |
einer Kneipe am Anger. Irgendwer erzählt, dass Algerier am Hauptbahnhof | |
angegriffen werden. „Es war gerade dunkel geworden, als wir losgegangen | |
sind“, sagt Abdelkader Manaa, der Bahnhof ist nur 600, 700 Meter weit weg. | |
„Als wir ankamen, sah ich, wie ein Deutscher Ali gegen die Mauer gedrückt | |
und an den Haaren gepackt hat. Ich bin dazwischengegangen, wir haben die | |
Angreifer angeschrien, und dann hat der Deutsche Ali losgelassen.“ | |
Abdelkader Manaa und Ali Seddiki rennen los, rennen weg, flüchten auf | |
verschiedenen Wegen in die Nacht. Beide erinnern sich, wie sie sich später | |
in der Straßenbahn wiedertreffen. | |
Die Algerier halten zusammen. Solche Geschichten gibt es mehr als eine. Als | |
sich am Abend des 11. August in ihrem Wohnheim das Gerücht verbreitet, | |
Deutsche würden wieder Algerier angreifen, machen sich gegen 22 Uhr etwa 50 | |
von ihnen auf den Weg in die Stadt. Manche bewaffnen sich mit Messern, | |
Stöcken und Drahtseilen. Ihre Betreuer und die Polizei überzeugen sie, ins | |
Wohnheim zurückzugehen. Der Straßenbahnverkehr wird unterbrochen. Hamdane | |
Abboud erzählt, auch Algerier aus anderen Städten machen sich in diesen | |
Tagen auf den Weg nach Erfurt. Auch sie habe die Polizei gestoppt. | |
Deutsche helfen ebenfalls. Deutsche wie Lothar Tautz, in Erfurt geboren, | |
1975 Student in Naumburg. Es sind Semesterferien, Tautz ist erst seit ein | |
paar Tagen wieder in der Stadt. Er läuft am Abend des 10. August über den | |
Domplatz, als er mehrere Männer sieht. Die umringen einen anderen Mann. | |
Schubsen ihn. Dieser Mann hat lange Haare, Tautz erinnert sich gut daran, | |
sagt er, weil dieser Mann mit seinen langen Haaren ihn an Jimi Hendrix | |
erinnert, einen seiner musikalischen Helden. | |
„Die anderen Typen sahen wie die heutigen Hooligans aus“, erzählt Tautz, | |
als wir ihn im Juni in einer Kleinstadt bei Berlin treffen. Wir unterhalten | |
uns am Wasser, Tautz wohnt im Sommer in einem Bungalow. Hooligans also, das | |
heißt für Tautz: kurze Haare, selbstgemachte Tätowierungen. Den | |
Angegriffenen hält Tautz für einen Hippie, so wie er selbst einer ist. Und | |
als Hippie, als Gammler, wie viele in der DDR schimpfen, kennt er Ärger – | |
mit den Eltern, mit dem Staat. | |
Er hat gelernt, solidarisch zu reagieren, auch wenn er, das sagt er selbst, | |
„eher ein ängstlicher Typ“ ist. Lothar Tautz spricht den langhaarigen Mann | |
an und tut, als würde er ihn kennen. So wie er sich erinnert, sind die | |
Angreifer zu verblüfft, um zu reagieren. Als ein paar Männer ihnen | |
hinterherlaufen, steigen Lothar Tautz und der Mann an seiner Seite schon in | |
eine Straßenbahn. | |
Lothar Tautz sagt, er habe damals erst in der Straßenbahn gemerkt, dass der | |
Mann, dem er geholfen hat, kein Deutscher ist. Vor diesem Abend habe er | |
nichts von den Algeriern in der Stadt gewusst. | |
Danach hört er in Erfurt allerdings eine Menge Gerüchte. Algerische | |
Arbeiter würden andauernd Frauen belästigen. Sie bekämen die guten neuen | |
Wohnungen im Neubaugebiet. Und so weiter. | |
Die Suche nach einem weiteren möglichen Anfang dieser Geschichte könnte mit | |
zwei Fragen beginnen: Was wussten die Menschen in Erfurt von den Algeriern? | |
Und was haben sie sich über sie erzählt? | |
Lothar Tautz ist mit Sicherheit nicht der einzige Mensch in Erfurt, der | |
durch Zufall herausfindet, dass dort algerische Männer arbeiten. In der | |
Sitzung des Rates der Stadt am 13. August, in der sich Mitglieder über den | |
brutalen Einsatz der Polizeihunde beschweren, klagt auch jemand über das | |
MfS: Die Stasi habe verhindert, dass „die Bevölkerung ideologisch auf | |
dieses Problem vorbereitet wird“. | |
Die Betriebe und die Menschen, die dort arbeiten, hätten wenige und falsche | |
Informationen darüber erhalten, wer da nach Erfurt kommt. Nur Listen mit | |
Namen habe es vorher gegeben, kritisiert der Genosse, keine Angaben dazu, | |
welchen Beruf die Männer ausüben. Zusätzlich sei behauptet worden, niemand | |
von ihnen hätte eine Ausbildung, was nicht der Wahrheit entspreche. Erneut | |
deutliche Kritik, die bis zum Ende der DDR nicht an die Öffentlichkeit | |
dringt. | |
Einer der drei Erfurter Betriebe, in denen die Männer aus Algerien | |
arbeiten, füllt die Informationslücke mit eigenen rassistischen Annahmen. | |
Das Volkseigene Bau- und Reparaturkombinat Erfurt will seine | |
Arbeiter:innen mit einer „schriftlichen Argumentation von Werktätigen | |
aus der Demokratischen Volksrepublik Algerien“ auf die neuen Kollegen | |
vorbereiten. | |
In dem Papier steht, die Algerier würden Arbeitsdisziplin „in unserem | |
Sinne“ nicht kennen, ihr „Verständnis für das Leistungsprinzip“ sei „… | |
unterentwickelt“, sie würden gern barfuß laufen, weswegen auf Baustellen | |
Vorsicht geboten sei. Außerdem könne es passieren, „dass einer nach Hause | |
fährt, weil der Sippenälteste ihn ruft“. Dieser Ruf sei „ein Befehl, der | |
bedingungslos ausgeführt wird“. | |
Weiter heißt es, „in Algerien heiratet man schon mit 15 Jahren“, deswegen | |
sei es verständlich, dass die Männer von dort „auch für die 12/14jährigen | |
Mädchen aus Erfurt eine besondere Vorliebe haben werden“. | |
Wir wissen nicht, wie verbreitet das Papier damals war. Wir wissen aber, | |
dass die Staatssicherheit nach dem 10. August dafür sorgt, dass es aus dem | |
Verkehr gezogen wird. Viel zu spät, um die Gerüchte über angeblich von | |
algerischen Arbeitern begangene Gräueltaten zu stoppen, die sich Wochen vor | |
der Hetzjagd in der Stadt verbreiten: Sie sollen ein Mädchen mehrfach | |
vergewaltigt, eine Frau ermordet, einem Taxifahrer die Kehle | |
durchgeschnitten haben. Alle diese Verbrechen sind ausnahmslos erfunden, | |
schreiben die Ermittler. | |
Die Gerüchte über vermeintliche Verbrechen heizen die Stimmung in der Stadt | |
jedenfalls schon vor der Hetzjagd auf. Es gibt Rangeleien, Schlägereien. | |
Deutsche und ungarische Jungmänner hindern Algerier daran, eine Diskothek | |
zu betreten. Die Leute der Staatssicherheit notieren dazu, dass „diese | |
Vorkommnisse in der Regel in Zusammenhang mit jugendlichen DDR-Bürgern zu | |
sehen sind, die durch ihr provozierendes Verhalten wesentlich dazu | |
beitrugen“. Das bedeutet nicht, dass die algerischen Männer allesamt brave | |
Opfer sind. Die, mit denen wir sprechen, sagen selbst, dass sie damals | |
bisweilen sehr schnell zuschlagen, wenn sie sich beleidigt fühlen. Alle | |
haben die Grausamkeiten des algerischen Befreiungskrieges gegen die | |
Franzosen erlebt und das steckt ihnen in den Knochen, auch darüber reden | |
sie mit uns. | |
Ali Seddiki ist ein kleiner Junge, als die Franzosen seinen Vater ins | |
Gefängnis stecken. Hamdane Abboud ist vier Jahre alt, als sein Vater | |
stirbt. Es ist auch nicht auszuschließen, dass junge Männer Frauen | |
belästigen. Die Gerüchte über die mehrfache Vergewaltigung, über die zwei | |
Morde sind aber trotzdem genau das: Gerüchte. Und diese Gerüchte benutzen | |
Menschen als Rechtfertigung für die Jagd auf algerische Arbeiter. Das sagen | |
sie in protokollierten Vernehmungen. Ein weiterer Anfang dieser Geschichte. | |
All diese Anfänge, der brutale Einsatz der Volkspolizei, die | |
Ahnungslosigkeit der Staatssicherheit, die Tatsache, dass so viele Menschen | |
rassistisch aufgeladene Gerüchte glauben – all diese Anfänge können der SED | |
und ihrem Staatsapparat nicht gefallen. | |
Und während in den Tagen nach dem 10. August Deutsche weiterhin versuchen, | |
Algerier zu verprügeln, fangen die Partei und ihr Geheimdienst an, eine | |
eigene Geschichte zu erzählen. | |
Am 11. August bleibt zumindest ein Teil der algerischen Arbeiter in den | |
Wohnheimen, geht nicht zur Arbeit. Aus Angst, aber auch um zu zeigen, dass | |
sie sich nicht als Menschen zweiter Klasse behandeln lassen. In der Stadt | |
treffen sich Abgesandte der algerischen Arbeiter mit denen der | |
DDR-Behörden. | |
Ali Seddiki erinnert sich an ein solches Treffen, er schreibt damals einen | |
Text, ein anderer trägt ihn vor. Ali Seddiki erinnert sich daran, dass er | |
Rassismus anklagt und dass er das Vorgehen der Volkspolizei mit Rhodesien | |
vergleicht. Dieser Vergleich trifft die Vertreter der DDR so sehr, dass sie | |
ihn gleich mehrfach in die Akten schreiben. Rhodesien ist 1975 neben | |
Südafrika der einzige afrikanische Staat, in dem eine weiße Minderheit mit | |
brutalen Mitteln über eine schwarze Mehrheit herrscht. Die Polizei dort | |
hetzt bei Protesten mehrfach Hunde auf Demonstrant:innen. | |
Den Begriff „Rassismus“ verwenden Ali Seddiki und die anderen algerischen | |
Männer in den Gesprächen mit uns übrigens nur selten. Sie reservieren ihn | |
meist für die Brutalität der [5][französischen Kolonialherrschaft] und des | |
Befreiungskrieges. Wenn sie den Begriff benutzen, dann bedeutet das etwas. | |
Die DDR-Delegationen haben bei diesen Treffen schon eine eigene Erzählung | |
parat: Die Proteste seien von arbeitsscheuen, kriminellen Männern ausgelöst | |
worden, die mit der Mehrheit der Menschen im Land nichts gemein hätten. Sie | |
raunen etwas von feindlichen Aufwieglern, die die guten Beziehungen der DDR | |
zu Algerien stören wollen. Rassist:innen und Faschist:innen wohnen im | |
Westen, der Kapitalismus ist die Vorstufe des Faschismus, das bringen | |
Lehrer:innen Kindern in der DDR schon in der Schule bei. Die algerischen | |
Arbeiter glauben solchen Erzählungen weder damals noch heute. Was Ali | |
Seddiki schreibt, ist ein Versuch, das, was passiert. selbstbestimmt zu | |
erzählen. | |
Staatssicherheit und Polizei nehmen in den folgenden Tagen 57 Menschen | |
vorübergehend fest. 27 Verfahren enden mit Haftstrafen, mindestens acht | |
Menschen müssen eine Geldstrafe zahlen. Der Geheimdienst konzentriert sich | |
bei seinen Ermittlungen auf fünf Männer. Sie sollen die Anstifter der | |
Hetzjagd sein, die „Rädelsführer“. Die Offiziere des MfS bezeichnen sie a… | |
„Arbeitsbummelanten“ und „brutale und negative“ Menschen. Es sind | |
ungelernte Arbeiter dabei und Männer, die vorher schon zugeschlagen, | |
geklaut und im Gefängnis gesessen haben. | |
Die Haupttäter, das schreiben die Ermittler wieder und wieder in ihren | |
Protokollen, kommen vom Rand der sozialistischen Gesellschaft. | |
Noch zwei Mal versuchen größere Gruppen, die Wohnheime der algerischen | |
Arbeiter zu attackieren. Am 11. und am 13. August. Beide Male fängt die | |
Volkspolizei die Angreifer:innen ab. Polizist:innen sind jetzt | |
häufiger in Erfurt unterwegs, kontrollieren Gaststätten und andere | |
Treffpunkte schärfer. | |
Am 12. August versammelt sich nach 22 Uhr eine wütende Menge auf dem Anger. | |
Die Polizei bringt 12 Algerier in der Hauptpost in Sicherheit. Während sie | |
deren Flucht mit einem Postauto organisiert, belagert die Menge die Post. | |
Menschen rufen: „Wir wollen die Algerier!“ und „Gebt sie uns heraus, wir | |
wollen sie hängen“. | |
Am 14. August greift die Polizei einen 19-Jährigen mit einem Messer in der | |
Hand auf dem Anger auf. Er sagt, er habe „von den Algeriern die Schnauze | |
voll“. In der Nacht zum 15. August um 2.45 Uhr erstattet ein Deutscher | |
Anzeige. Er behauptet, von drei Algeriern mit einem Messer überfallen | |
worden zu sein. Später kommt heraus, dass er sich mit einer Rasierklinge | |
selbst geschnitten hat. | |
Die SED schließt ihre Umdeutung der Geschichte ab. Am 18. August hören sich | |
knapp 850 ihrer Mitglieder eine auf zwei Stunden angesetzte Rede im | |
Klubhaus Optima an, dem heutigen Kaisersaal. Der Redner liest die Namen der | |
Männer, die erst am nächsten Tag von einem Gericht verurteilt werden | |
sollen, laut vor. | |
Er behauptet, die Massenhetzjagd sei „Mittel der Feindarbeit“, also | |
irgendwie vom Westen gesteuert. Die Ausschreitungen hätten nicht ohne Grund | |
am 13. August, also am Jahrestag des Baus der Berliner Mauer stattgefunden. | |
Mit solcherlei Argumenten gerüstet sollen die Genoss:innen in den | |
Betrieben den Kampf gegen die rassistischen Gerüchte aufnehmen. | |
In die Zeitungen lässt die Partei ihre Version der Geschichte allerdings | |
nicht schreiben. Es gibt in der SED und der Staatssicherheit die Angst, im | |
Westen könnte man von der Hetzjagd Wind bekommen. | |
Am 19. August spricht das Kreisgericht Erfurt seine Urteile gegen fünf | |
Männer, später wird noch ein sechster verurteilt. Am 21. August erscheint | |
in der Bezirkszeitung Das Volk eingeklemmt zwischen Texten über | |
Leichtathletik und Wohnungspolitik eine 16-zeilige Meldung: „Rowdys | |
verurteilt“. | |
Darin stehen die Namen der Verurteilten, ihre Haftstrafen – zwischen zwei | |
Jahren und drei Monaten und vier Jahren und sechs Monaten – und am Ende der | |
Satz: „Sie hatten vorsätzlich im Stadtgebiet von Erfurt durch Tätlichkeiten | |
gegen Bürger und durch andere rowdyhafte Ausschreitungen die öffentliche | |
Ordnung gestört.“ | |
Das ist alles, was die Menschen in Erfurt über die Gewalt im August bis | |
1989 zu lesen bekommen werden, bis zum Ende der DDR. Ein General der | |
Staatssicherheit schickt am 22. August 1975 sechs Offiziere nach Erfurt. | |
Sie sollen das Handeln des MfS überprüfen und das der anderen „staatlichen | |
und gesellschaftlichen Organe“. | |
Diese sechs Offiziere schreiben in ihrem Prüfbericht nichts über die Fehler | |
ihrer eigenen Leute. Sie schreiben im September 1975: „Ernste Versäumnisse | |
konnten nicht festgestellt werden.“ | |
Sie erwähnen nicht, dass ihre Kollegen widersprüchliche Versionen davon | |
gefunden haben, wie die Hetzjagd begonnen hat. Sie behaupten, der Anlass | |
sei „das Verhalten eines unter Alkohol stehenden jungen algerischen | |
Bürgers“ gewesen, der „am 10. 08. 1975 versuchte, eine junge DDR-Bürgerin | |
gegen ihren Willen zu küssen“. | |
Die beißenden Hunde der Volkspolizei verwandeln die sechs Offiziere in ein | |
Märchen. Aus einer mehrfach dokumentierten Tatsache machen sie: „Negative | |
Jugendliche in Erfurt“ würden „das Gerücht verbreiten, die Polizei habe | |
Hunde gegen Jugendliche und Algerier eingesetzt“. | |
Am Ende der Geschichte gibt die Staatssicherheit ihr also einen Anfang: ein | |
Algerier ist schuld. Das ist das, was ganz oben bei den Männern im | |
SED-Apparat ankommt. Bei denen, die die Macht haben. Die Leitungen der | |
Erfurter Betriebe melden in den Tagen und Wochen nach dem 10. August | |
euphorisch an höhere Stellen, wie gut das Arbeiten und das Leben mit den | |
Algeriern nun funktioniere. Die Regierung in Berlin hat zuvor gedroht, die | |
algerischen Arbeiter in andere Städte der DDR zu verlegen, wenn sich die | |
Lage nicht bessert. | |
Hamdane Abboud sagt heute in den Gesprächen mit uns, ihm tue es leid, dass | |
Menschen damals ins Gefängnis mussten. Er sagt dann: „Wenn wir uns anders | |
verhalten hätten gegenüber diesen Leuten, wenn wir mehr versucht hätten zu | |
reden, vielleicht wäre es anders gekommen.“ | |
Mehrere der damals verurteilten deutschen Männer sind inzwischen gestorben. | |
Einen Mann, der mehrfach zugeschlagen hat und die Wohnheime der Algerier | |
angreifen wollte, treffen wir zu Hause nicht an. Einen anderen, der laut | |
Akten algerische Männer gejagt und mindestens einen verprügelt hat, | |
besuchen wir in einem bunt angestrichenen Erfurter Neubaublock, er und | |
seine Frau bitten uns freundlich ins Wohnzimmer. Er redet, möchte aber | |
anonym bleiben. Er sagt, er habe seinen Namen damals in der Zeitung gelesen | |
und das reiche ihm. | |
Der Mann erinnert sich an die Tage im August, an „eine Jagd, eine richtige | |
Treibjagd“. Er habe sich daran nicht beteiligt, aber einen Algerier | |
geschlagen. Der sei viel kleiner gewesen als er und der habe an seine | |
Freundin „rangewollt“. Auf die Frage, was der Mann gesagt habe, antwortet | |
er: „Ach das ist doch bloß so Gestammel.“ Er sagt auch, er sei damals | |
früher aus der Haft entlassen worden. Sein Betrieb habe sich für ihn | |
eingesetzt. Er überlegt, Rente für Opfer des SED-Regimes zu beantragen. | |
Hamdane Abboud muss 1979 nach Ende seines Vertrags aus der DDR ausreisen. | |
Er hat eine Freundin, er hat einen Sohn, er sagt, er will bleiben. Er darf | |
nicht. In Algerien heiratet er nach einigen Jahren wieder. Mit seiner Frau | |
zieht er dort vier Kinder groß. Als Lkw-Fahrer versorgt er die Stützpunkte | |
der staatlichen Ölgesellschaft. | |
Ali Seddiki verlässt 1979 ebenfalls die DDR, trampt durch Südeuropa, | |
besucht die DDR noch einmal und kehrt nach Algerien zurück. In den 1980er | |
Jahren wird er Berater für religiöse Angelegenheiten. Er ist zweimal | |
verheiratet und hat sechs Kinder. Ein Sohn stirbt vor einigen Jahren an | |
Leukämie. Seine Kinder leben in Ali Seddikis Haus. Ein zweiter Sohn | |
versucht 2021 das Mittelmeer zu überqueren. Sein Kanu kentert, seitdem ist | |
er verschwunden. | |
Abdelkader Manaa arbeitet nach seiner Rückkehr 1979 nach Algerien erst als | |
Betonwerker, später repariert er Fernsehgeräte. 2000 geht er nach Schweden, | |
um einen kranken Neffen zu unterstützen. Er lebt heute noch dort. | |
An diesem Wochenende werden die drei wieder nach Erfurt kommen. [6][Die | |
Universität hat sie eingeladen]. Sie werden ihre Geschichten selbst | |
erzählen. | |
Anne Fromm, 38, Reporterin, ist in Erfurt geboren und aufgewachsen. Ihr | |
Onkel war einer der algerischen Vertragsarbeiter in Erfurt, starb aber vor | |
21 Jahren. Bis zu dieser Recherche hatte sie noch nie von der Hetzjagd im | |
August 1975 gehört. | |
Jan Daniel Schubert, 31, Historiker, hat als erster Wissenschaftler jene | |
Algerier gefunden, die das Ziel der Erfurter Hetzjagd waren. [7][Mit ihnen | |
führt er lebensgeschichtliche Interviews], die bei der | |
[8][Oral-History-Forschungsstelle] der Universität Erfurt archiviert | |
werden. | |
Daniel Schulz, 46, Reporter, war bei der Revolution 1989 zehn Jahre alt. | |
Erst 30 Jahre danach hat er erfahren, dass algerische Männer in der DDR | |
gearbeitet haben. | |
9 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/his… | |
[2] https://www.bundesarchiv.de/im-archiv-recherchieren/stasi-unterlagen-einseh… | |
[3] https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/his… | |
[4] https://www.verfassungen.de/ddr/verf74.htm | |
[5] /Kolonialverbrechen-Frankreichs/!5757403 | |
[6] https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/his… | |
[7] https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/his… | |
[8] https://www.eui.eu/people?id=jan-schubert | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
Anne Fromm | |
Jan Daniel Schubert | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Rassismus | |
DDR | |
Erfurt | |
GNS | |
Rechtsextremismus | |
Flüchtlinge | |
DDR | |
Pogrom | |
Deutsche Einheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Rechtsruck in der Schule: „Zecke? Nehm ich als Kompliment“ | |
Jette Poensgen ist 15 Jahre alt und hat eine klare Haltung: Wenn | |
Mitschüler*innen Nazi-Sprüche reißen, dann darf man nicht schweigen. | |
Gewalt gegen Geflüchtetenunterkünfte: Fremd, jung, verdächtig | |
Im sächsischen Ellefeld leben 30 geflüchtete Jugendliche. Nach einer | |
Explosion vor ihrer Unterkunft und einem Angriff will die Gemeinde sie | |
loswerden. | |
Rassismus in der DDR: „Es gab immer wieder Angriffe“ | |
1975 jagten Hunderte Deutsche algerische Arbeiter durch Erfurt. Jan Daniel | |
Schubert ist Mitinitiator des ersten Gedenkens an die rassistische | |
Hetzjagd. | |
Gefahr rechtsextremer Gewalt: Der deutsche Mob hat Tradition | |
Im August 1975 jagte in Erfurt ein Mob tagelang algerische Vertragsarbeiter | |
mit Brecheisen. Heute können ähnlich Denkende einfach die AfD wählen. | |
Historiker über 32 Jahre Mauerfall: „Nicht nur friedlich“ | |
Der Historiker Patrice Poutrus plädiert dafür, die Konfliktgeschichten zu | |
erzählen. Und heutige Probleme in Ostdeutschland klar zu benennen. |