# taz.de -- Historiker über 32 Jahre Mauerfall: „Nicht nur friedlich“ | |
> Der Historiker Patrice Poutrus plädiert dafür, die Konfliktgeschichten zu | |
> erzählen. Und heutige Probleme in Ostdeutschland klar zu benennen. | |
Bild: Jugendministerin Angela Merkel im Gespräch mit rechten Jugendlichen in R… | |
taz am wochenende: Herr Poutrus, Anlass für dieses Gespräch sind 32 Jahre | |
friedliche Revolution in Deutschland. Was wäre ein angemessener Umgang mit | |
diesem Jahrestag? | |
Patrice Poutrus: Das ist schwer zu sagen. Wende, Umbruch, friedliche | |
Revolution, deutsche Einheit, Wiedervereinigung, Einheitskrise, Ausverkauf, | |
Transformation – es gibt in der deutschen Gesellschaft schon mal gar keinen | |
Konsens, wie man dieses Ereignis nennen soll, welcher Prozess damit | |
umschrieben wird und wie man das bewertet. Ich finde das auch gar nicht | |
schlimm. Es machte schließlich einen erheblichen Unterschied, ob jemand in | |
der Stasi-Zelle gesessen hat oder ob man deren Schließer war, ob | |
Grenzsoldat oder Ausreisender, ob man SED-Mitglied war – wie ich – oder in | |
der Opposition. Das geht nicht alles unter einen Hut und kann auch nicht in | |
eine Erzählung passen. | |
Wie nennen Sie die Massendemonstrationen, in deren Folge am 9. November die | |
Mauer fiel? | |
Das war eine Revolution, aber die war meines Erachtens in ihrem Verlauf und | |
ihren Auswirkungen nicht nur friedlich. Auf manchen Montagsdemos kam es | |
schon sehr früh zu ausländerfeindlichen Forderungen, insbesondere an Orten, | |
wo Vertragsarbeiter*innen beschäftigt waren. Später, und keineswegs | |
erst auf Forderung der Treuhand, wurden deren Wohnheime geschlossen, | |
Arbeitsverträge aufgelöst, Kopfprämien für Rückreisen gezahlt. Das alles | |
war begleitet von einem zusehends offen feindseligen bis gewalttätigen | |
Klima gegenüber den Vertragsarbeiter*innen. Das Ergebnis war, dass im | |
Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit 1990 befürchtet wurde, dass es zu | |
schweren Ausschreitungen gegenüber Ausländer*innen kommen würde. | |
Was ist ab 1989 sichtbar geworden? | |
Es wird viel zu wenig davon gesprochen, dass es 89/90 eine nationalistische | |
Wende gegeben hat, die schließlich zur deutschen Einheit geführt hat. Das | |
Denken in nationalistischen, chauvinistischen und rassistischen Kategorien | |
war in der DDR keineswegs überwunden. Die Behauptung einer „Stunde null“ | |
war die beste Voraussetzung dafür, dass Leute sich nicht fragen mussten: | |
Was ist denn der Nationalsozialismus jenseits seiner Verbrechen noch | |
gewesen? Welche Vorstellungen von Volk und Welt, von guter Ordnung und | |
Hierarchien hängen damit zusammen? Schließlich trat 89/90 offen hervor, wie | |
mit Differenz in der DDR umgegangen wurde: mit Ausgrenzung und Gewalt. | |
Haben Ostdeutsche – grob vereinfacht – bis heute ein Problem mit Differenz? | |
Ja, überwiegend. In den Diskussionen, die wir für ein Forschungsprojekt in | |
Erfurt führen, höre ich immer mal Sätze wie: „Dann habe ich wohl in einer | |
anderen DDR gelebt als Sie.“ Ich sage mittlerweile: „Ja, das war wohl so.“ | |
Und dann setzt das eigentliche Erstaunen erst ein. Viele Leute können sich | |
schwer vorstellen, dass Menschen an anderen Orten mit anderen Erfahrungen | |
andere Geschichten über die gleiche Zeit zu erzählen haben. Das geht über | |
die Frage von Fremdheit oder Rassismus hinaus. Soziale und auch kulturelle | |
Differenz galten in der DDR insgesamt als problematisch. Ob es sich nun um | |
Jugendrebellion handelte, bestimmte Lebensformen oder die Frage, wer | |
arbeitsfähig war und wer nicht – wer anders war, wurde vom SED-Staat sehr | |
rabiat behandelt oder auch bekämpft, und das oft mit der Zustimmung der | |
Mehrheitsbevölkerung. | |
Diese Vereinheitlichung in der DDR romantisieren Leute in und aus | |
Ostdeutschland gerne mit „Wir waren alle gleich“. Wie kann man über die | |
Differenz in Austausch kommen? | |
Die Erinnerungskultur in Deutschland läuft ja nicht erst seit 1945 auf | |
Homogenisierung hinaus. Das hat sehr viel mit der Meistererzählung des | |
deutschen Nationalismus zu tun. Deshalb ist es nicht verwunderlich, | |
[1][dass auch viele Ostdeutsche auf so eine vereinheitlichende Erzählung | |
zurückgreifen]. Davon gilt es sich zu verabschieden und auch von der | |
Vorstellung, dass Differenz und Streit darum etwas Schlechtes wären. | |
Insbesondere in der Geschichtswissenschaft – meiner Disziplin – sollten | |
eher Konfliktgeschichten erzählt werden statt harmonisierende Aufstiegs-, | |
Fortschritts- oder Integrationsgeschichten. Es muss Beachtung finden, unter | |
welchen Bedingungen, um welchen Preis und auch mit welchen Verlusten die | |
deutsche Gesellschaft an den Punkt gekommen ist, an dem sie sich heute | |
befindet. | |
Bei der letzten Bundestagswahl bekam die AfD in Sachsen 24,6 Prozent, in | |
Thüringen 24 Prozent der Zweitstimmen. Würden Sie wie der bisherige | |
[2][Ost-Beauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz] sagen: Wer jetzt | |
noch AfD wählt, nach allem, was wir von der Partei wissen, ist für die | |
Demokratie verloren? | |
Das glaube ich, ja. Die AfD ist eine demokratiefeindliche Partei in ihrem | |
Zusammenspiel zwischen parlamentarischem Populismus und | |
außerparlamentarischem Rassismus. Und für mich ist klar: Die AfD ist in den | |
Bundesländern am stärksten geworden, wo ihr über Jahre am weitesten | |
entgegengekommen wurde. Und interessant ist ja, wie mit Wanderwitz in der | |
CDU Sachsen umgegangen wird. Da redet jemand endlich Tacheles über die | |
Gefahren für die Demokratie in Ostdeutschland und dann wird der Mann derart | |
angegangen und abserviert. Das erklärt für mich anschaulich, warum es in | |
Sachsen so ist, wie es ist. | |
In Sachsen gab es viel Aufregung um Wanderwitz. Dabei könnte man als | |
eine*r von 75 Prozent, die nicht AfD gewählt haben, auch sagen: | |
interessante These. Aber viele haben das Gesagte persönlich genommen und | |
sich angegriffen fühlt. Wo kommt diese Empörung her? | |
Die Empörung ist Teil des ostdeutschen Diskurses und hat mit einer | |
bestimmten Haltung zu tun: „Ich bin nicht deiner Meinung und deshalb hast | |
du kein Recht, in der Öffentlichkeit so zu reden.“ Diese Haltung hat sich | |
verfestigt und da sind wir meines Erachtens auch bei den rassistischen | |
Übergriffen der 90er Jahre. Die vorherrschende Diskussion ging immer in die | |
Richtung, dass man die virulente Gewalt nicht überbetonen dürfe. Das ist | |
aber genau der Modus, in dem jetzt mit den Aussagen von Wanderwitz | |
umgegangen wird. Man setzt sich nicht mit den Aussagen selbst auseinander, | |
sondern versucht sie irgendwie abzudrängen. Das muss sich ändern. Die | |
weitere Demokratisierung des Ostens erfordert mehr als allein die | |
Angleichung von Löhnen und Renten. | |
Inwiefern? | |
Niemand wird ein rassistischer Straftäter, weil er oder auch sie arbeitslos | |
wurde. Und umgekehrt werden Rassist*innen nicht damit aufhören, welche | |
zu sein, weil sie in Arbeit kamen oder sind. Auch die Kriminalstatistiken | |
bestätigen diese simple Annahme nicht. Wir müssen vielmehr aufhören, rechte | |
Straftäter*innen und Aktivist*innen ständig zu ermutigen. Das | |
geschieht aber, wenn im Umgang mit diesen Leuten die Position „Eigentlich | |
habt ihr recht, Jungs, aber das ist jetzt ein bisschen eklig“ offen oder | |
unterschwellig gezeigt wird. Das ist die Art, wie rassistische Angriffe | |
seit 30 Jahren kommentiert werden. Leute, die kritisiert werden wegen | |
menschenfeindlicher Ansichten oder Taten, sind nicht die Opfer des | |
„Mainstream“. | |
Im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP steht: „Auch mehr als 30 Jahre | |
nach der friedlichen Revolution bleibt es unverändert Aufgabe, die innere | |
Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden.“ Wie soll das gehen? | |
Ich habe keine Ahnung – und nach drei Jahrzehnten „Aufbau Ost“ halte ich | |
das für eine Leerformel. Ökonomische Unterschiede hat es in der | |
Bundesrepublik immer gegeben. Bremen, Gelsenkirchen oder Saarbrücken sind | |
halt nicht Hamburg, Stuttgart oder München. Der reiche „Westen“ versus der | |
arme „Osten“ ist eine wirklichkeitsferne Betrachtungsweise der | |
Verhältnisse. So werden Illusionen geschürt, die diejenigen stärken, die | |
ein autoritäres, chauvinistisches und rassistisches Angebot machen. Die | |
politische Rechte hat ziemlich gut erkannt, dass Ostdeutschland für sie das | |
Feld wird, in dem sie sich tief eingraben können. | |
Was sollte die neue Regierung tun? | |
Neben einer auf Ausgleich ausgerichteten Sozialpolitik muss eine | |
Auseinandersetzung geführt werden um die in der Verfassung | |
niedergeschriebenen Grundwerte. In diesem Zusammenhang würde ich mir | |
wünschen, dass die Bundeszentrale für politische Bildung vom | |
Bundesinnenministerium gelöst wird. Es macht einen Unterschied, ob für eine | |
demokratische Kultur gestritten werden soll oder ob Ruhe und Ordnung das | |
übergeordnete Ziel ist. Auch sollte darüber nachgedacht werden, wie die | |
staatlichen Institutionen in Ostdeutschland weiter demokratisiert werden | |
und dafür der notwendige Nachwuchs auch vor Ort ausgebildet wird. Für diese | |
Aufgabe sind die ostdeutschen Universitäten aber überwiegend | |
unterfinanziert. Ob es dafür alte und teure Ideen für neue Symbolorte oder | |
ein außeruniversitäres Institut für Transformationsforschung braucht – das | |
bezweifle ich. | |
Was braucht es stattdessen? | |
Eine anspruchsvolle Ausbildung von zukünftigen Lehrer*innen, | |
Jurist*innen und anderem Personal des öffentlichen Dienstes basiert auf | |
Hochschulen, die eine gesicherte Ausstattung besitzen und hochqualifizierte | |
Forschung, gerade in den Geisteswissenschaften, ermöglichen. Das kostet | |
Geld. Geld, das nicht allein vom Bund kommen kann, sondern auch von den | |
Ländern kommen muss. Ich habe aber den Eindruck gewonnen, dass die | |
Ost-West-Debatte den Verantwortlichen in Ostdeutschland sehr entgegenkommt, | |
weil so nämlich über konkrete Zuständigkeiten nicht geredet werden muss, | |
sondern über die „bösen Westdeutschen“. Wie soll die virulente | |
Wissenschaftsfeindlichkeit, die in der Pandemie überdeutlich wurde, | |
überwunden werden, wenn die Orte der Wissenschaft in Ostdeutschland selbst | |
keine hinreichende Wertschätzung erfahren? Wir müssen eine politische | |
Kultur entwickeln, die sich von der unterscheidet, die die Rechten | |
präferieren, nämlich autoritär und homogenisierend. | |
Innerhalb der Linken gibt es auch immer wieder den Wunsch nach mehr | |
Homogenität, weil aus dem gegenseitigen Kritisieren keine breite | |
gesellschaftliche Kraft entstehen könne. | |
Es muss diese linke Kritik aber geben. Auch in antirassistischen Bewegungen | |
gibt es autoritäre Tendenzen nach dem Motto: Wir sind die Hegemonen von | |
morgen. Davon verspreche ich mir überhaupt nichts. Ich finde es wichtiger, | |
Konflikte offenzulegen. Vom Nichtstreiten profitieren nur diejenigen, die | |
ohnehin in starken Positionen sind. Dass gesellschaftliche Veränderung zu | |
einem Abschluss kommen könne und dann ist alles gut – daran glaube ich | |
nicht. | |
Dazu fällt mir der Begriff Plateauillusion ein: die Idee, dass man in | |
Veränderungsprozessen irgendwann irgendwo ankommt, wo man sich ausruhen | |
kann. Aber dieses Plateau gibt es nicht. | |
Ja genau. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich mittlerweile ein alter | |
Sack bin, aber die Vorstellung, dass man gesellschaftlich so eine Art | |
Urlaubsstadium erreichen könnte, ist Quatsch. | |
9 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-30-Jahre-deutsche-Einheit/!5714410 | |
[2] /Ost-CDU-vor-der-Sachsen-Anhalt-Wahl/!5772802 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gottschalk | |
## TAGS | |
Deutsche Einheit | |
Mauerfall | |
Schwerpunkt Neues Deutschland | |
Wende | |
DDR | |
IG | |
GNS | |
DDR | |
DDR | |
DDR | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Potsdam | |
Mauerfall | |
Mauerfall | |
30 Jahre friedliche Revolution | |
Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz gestorben: Ein fantasievoller Pragmatiker | |
Der frühere DDR-Bürgerrechtler und langjährige Grünen-Abgeordnete Werner | |
Schulz ist tot. Deutschland verliert mit ihm eine wache, kritische Stimme. | |
Ehemaliger DDR-Bürgerrechtler: Werner Schulz gestorben | |
Schulz prägte die Oppositionsbewegung der DDR, später saß er für die Grünen | |
im Bundestag. Am Mittwoch starb er während einer Veranstaltung im Schloss | |
Bellevue. | |
DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam: Urlaub mit bösen Folgen | |
Seit mehr als dreißig Jahren lebt und arbeitet Pham Phi Son in Sachsen. | |
Chemnitz will den ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter abschieben. Warum? | |
Neuer Ostbeauftragter Carsten Schneider: Verlorenes Vertrauen | |
Durch die Pandemie schrumpft das Vertrauen in Politik, Medien und | |
Wissenschaft. In Ost- und Westdeutschland. | |
Potsdam bekommt keine Förderung mehr: Es liegt nicht mehr im Osten | |
Weil sich Potsdam wirtschaftlich zu gut entwickelt, soll es künftig weniger | |
Fördergeld geben. Das hat teure Nebenwirkungen für die Stadt. | |
60 Jahre Mauerbau: Mauer in der Stadt, Mauer im Kopf | |
Die Diskussion „Wir und die Anderen“ bringt Erstaunliches zu Tage. Zum | |
Beispiel, dass es vorm Mauerfall auch türkische Hausbesetzer*innen gab. | |
Dokument der Wende: The Revolution Has Been Televised | |
Aram Radomski war 1989 zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Ohne ihn hätte | |
es die Bilder von den Montagsdemos in Leipzig vielleicht nie gegeben. | |
Forschungsprojekt zu DDR-Unrecht: Leid, das bis heute anhält | |
Welche Langzeitfolgen hatten Überwachung, Verhöre und Zersetzung in der | |
DDR? Ein Forschungsverbund will dies nun untersuchen. | |
Berliner Stadtgeschichte: Die Ohren auf dem Lüftungsgitter | |
Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Bis in die Musik | |
hinein hat die Teilung Berlins die Stadt geprägt. |