# taz.de -- 60 Jahre Mauerbau: Mauer in der Stadt, Mauer im Kopf | |
> Die Diskussion „Wir und die Anderen“ bringt Erstaunliches zu Tage. Zum | |
> Beispiel, dass es vorm Mauerfall auch türkische Hausbesetzer*innen | |
> gab. | |
Bild: Diese Mauer ist passé, dafür gibt es in Berlin längst andere | |
BERLIN taz | Es gibt in dieser Stadt Schüler*innen, die an der | |
Undurchlässigkeit des Berliner Bildungssystems scheitern und an eine | |
Brennpunktschule am anderen Ende der Stadt verwiesen werden, weil ihre | |
Noten nicht für die Wunschschule gereicht haben. Menschen können sich die | |
Mieten in ihrem alten Kiez nicht mehr leisten und ziehen an den Stadtrand. | |
Wieder Andere können sich im Alltag nur sehr eingeschränkt bewegen, weil | |
viel zu viele Gebäude nach wie vor nicht barrierefrei sind. Grenzen gibt es | |
viele in der Stadt, auch wenn sich nicht unbedingt sichtbar sind. | |
Insofern ist es eine interessante Frage, die die Leipziger Journalistin | |
Britta Veltzke ziemlich am Ende der Online-Diskussion „Wir und die Anderen. | |
Mauern in der Stadtgesellschaft“ des [1][Berliner Beauftragten zur | |
Aufarbeitung der SED-Diktatur] am Donnerstag stellt. „Ist die Stadt ohne | |
Berliner Mauer die bessere Stadt?“, will sie wissen. „Oder sind die Mauern | |
in den Köpfen heute dicker?“ | |
Die Diskutanten finden, das sei eine schwierige Frage. Denn nach dem, was | |
sie zuvor erzählt habe, waren Menschen vor und nach dem Mauerfall in Berlin | |
einfach nur anderen Formen des Rassismus ausgesetzt – und es ist schwer zu | |
sagen, welche die schlimmeren waren. | |
Der Erfurter Historiker [2][Patrice Poutris], geboren 1961 in Ostberlin als | |
Kind einer weißen Deutschen und eines Mannes aus Sudan, der als Student in | |
die DDR gekommen war, hat diesbezüglich viel Interessantes zu erzählen. Es | |
ist ja bekannt, dass die ausländischen Studierenden und die | |
Vertragsarbeiter*innen in der DDR, die meist aus Vietnam, Kuba, | |
Angola und Mosambique kamen, in Wohnheimen untergebracht waren und wenig | |
bis nichts zu tun haben durften mit der so genannten Mainstreamgesellschaft | |
der DDR. Ähnlich wie die Regierung der BRD ging auch die der DDR fest davon | |
aus, dass diese nach wenigen Jahren wieder zurück gehen würden. | |
Doch Vieles von dem, was Poutris erzählt, wird bislang zu wenig diskutiert. | |
So lag es zum Beispiel nicht nur an der von oben verordneten Abschottung, | |
dass man im Osten wenig mit den Vertragsarbeiter*innen zu tun hatte. | |
Poutris berichtet anschaulich, dass sehr viele regimekritische | |
DDR-Bürger*innen spätestens seit der Ausbürgerung des Lyrikers und | |
Liedermachers Wolf Biermann auf gepackten Koffern saßen, mit dem Land | |
abgeschlossen hatten und es verlassen wollten. | |
Und nun kamen plötzlich auf Anordnung der SED-Regierung Menschen aus | |
„sozialistischen Bruderstaaten“, die offiziell Facharbeiter*innen und | |
Hochschulkader waren. Leute, die damals nichts mehr mit der DDR zu tun | |
haben wollten, muss die medial gefeierte Ankunft der | |
Vertragsarbeier*innen in der DDR viel zu staatstragend erschienen | |
sein. Dass die Leute aus Vietnam oder Angola in sehr vielen Fällen nicht | |
wie offiziell berichtet für eine gute Ausbildung kamen, sondern in Wahrheit | |
als billige Arbeitskräfte ausgebeutet wurden, drang natürlich kaum durch. | |
Den Blick auf die westliche Perspektive, auf die so genannten | |
Gastarbeiter*innen vor dem Mauerfall, liefert dann [3][Stefan | |
Zeppenfeld], der beim Archiv der sozialen Demokratie der | |
Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet. Zeppenfeld hat eine spannende Promotion | |
mit dem Titel „Gast oder Gastwirt?“ über türkische Arbeitswelten in | |
West-Berlin geschrieben – und deshalb interessante Entdeckungen gemacht. So | |
berichtet er, wie der erste türkeistämmige Polizeianwärter Berlins 1979 | |
angefeindet wurde. Auch die Geschichte, wie voreingenommen die ach so linke | |
und aufgeschlossene Kreuzberger Hausbesetzerszene partiell reagierte, als | |
plötzlich auch ein paar türkische Frauen mitmischen wollten. | |
Der Umgang mit den „Vertragsarbeiter*innen“ auf der einen und den | |
„Gastarbeiter*innen“ auf der anderen Seite hat Auswirkungen bis heute, | |
darüber sind sich die Diskutierenden dieser Veranstaltung einig. Denn egal, | |
wie undurchlässig die Grenzen in der Stadt heute sind: Sie haben fast immer | |
mit Rassismus zu tun. | |
19 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Buergerrechtler-ueber-30-Jahre-Mauerfall/!5574138 | |
[2] /Historiker-ueber-32-Jahre-Mauerfall/!5808950 | |
[3] https://www.wallstein-verlag.de/9783835350229-vom-gast-zum-gastwirt.html | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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