# taz.de -- 63 Jahre Mauerbau: Das Erbe der Mauer | |
> Vor 63 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. Wie die Vergangenheit | |
> heute noch in der jungen Generation nachwirkt. | |
Bild: Ein Stück der Mauer bleibt immer | |
Auf den Fahrten zu meiner Oma fingen meine Eltern jedes Mal an zu erzählen. | |
Kaum kamen wir an der [1][Transitstelle Helmstedt/Marienborn] vorbei, gab | |
es eine neue Geschichte aus der Zeit, als die Mauer in Berlin noch stand. | |
Es waren kurze Momente, wo ich mitgenommen wurde in eine Realität, die ich | |
nicht kenne. Ich hörte interessiert zu, doch irgendwie blieb eine Distanz. | |
Ich kann mich nicht mehr in die Beklommenheit einfühlen, von der mein Vater | |
erzählt, wenn er bei [2][Grenzkontrollen] seinen Reisepass auf das mehrere | |
Meter langen Förderband legte. Das war wohl so lang, damit die zwei | |
Grenzbeamten sich nicht absprechen konnten. Ich kann auch die Angst nicht | |
mehr spüren, für eine stundenlange Befragung durch die Grenzer rausgezogen | |
zu werden. | |
Aber obwohl meine Freunde und ich – wir leben in Prenzlauer Berg – kaum | |
über die Berliner Mauer reden, wissen wir alle, woher die jeweiligen Eltern | |
kommen, aus dem [3][Osten oder dem Westen]. Irgendwie kommt das Thema oft | |
auf, spätestens nach dem zweiten gemeinsamen Bier. Dabei spürt man vor | |
allem einen letzten Rest Ostpatriotismus, den wir als Kinder von | |
größtenteils Ostberliner Eltern bis heute bei manchen Themen haben. Doch | |
der Bezug zur Mauer fehlt. Bei uns allen. | |
## Die Distanz bleibt bestehen | |
Wir hören Geschichten von Fluchtversuchen, Verhaftungen, verlorenen | |
Familien und sind geschockt über die Brutalität. Aber diese Erzählungen | |
bleiben für uns ein Stück Geschichte unserer Eltern, die zwar irgendwie mit | |
uns verbunden ist, aber doch nicht greifbar. | |
Wir können in die Friedrichstraße fahren, ohne einen Pass vorzeigen zu | |
müssen. Wir spazieren über die Oberbaumbrücke und denken an die Clubs und | |
Cafés in Kreuzberg – und nicht an die Mauer. Wir lesen Bücher und besuchen | |
mit der Schule die Gedenkstätte an der Bernauer Straße. Aber dabei ist und | |
bleibt die Mauer ein Relikt aus einer Vergangenheit. Warum sollte es auch | |
anders sein? | |
Doch manchmal, wenn mir meine Eltern diese Geschichten erzählen, wird die | |
Distanz für eine kurze Zeit kleiner und mir wird bewusst, wie fragil die | |
Freiheit ist, die wir in unserer Jugend in Berlin spüren. Wir nehmen die | |
Geschichten auf, die sie uns erzählen, aber wir leben sie nicht. Wir | |
respektieren das, was unsere Eltern durchgemacht haben, aber es ist nicht | |
unser eigenes Leben. | |
Die Mauer ist für uns nicht mehr der Stacheldraht und Beton, der Familien | |
teilte, sondern eher ein Gedankenkonstrukt, das uns daran erinnern soll, | |
wie schnell sich die Welt verändern kann. Es ist eine Mahnung, dass wir die | |
Freiheit, die wir genießen, nicht als selbstverständlich hinnehmen sollten. | |
Und vielleicht kann uns dieser [4][Tag daran erinnern]: dass wir unser | |
eigenes Verständnis von Freiheit entwickeln müssen. | |
Emma Doermann ist 15 Jahre nach dem Mauerfall geboren. | |
13 Aug 2024 | |
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[2] /Deutsche-Teilung-in-Berlin/!5882824 | |
[3] /Die-Mauer-vom-Osten-aus-gesehen/!5114312 | |
[4] /Gedenken-an-Mauerbau-vor-60-Jahren/!5793665 | |
## AUTOREN | |
Emma Doermann | |
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