| # taz.de -- Die Mauer vom Osten aus gesehen: Irgendetwas musste damals passieren | |
| > Die Mauer war weder Zufall noch Irrtum. Für die Kommunisten war sie ein | |
| > Überlebensbauwerk. Sie führte dazu, dass Westberlin im Osten verklärt | |
| > wurde. | |
| Bild: Mauerbau 18.8.1961: Seit der Berlin-Blockade 1948/49 war für Berliner un… | |
| Gegenwärtig können wir tagtäglich erleben, wie der 50. Jahrestag des | |
| Mauerbaus 1961 erinnert wird: Ausstellungen, Radiofeatures, | |
| Fernsehdokumentationen und -spielfilme, zahllose Zeitungsberichte, | |
| Broschüren und nicht zuletzt neue dicke Bücher beleuchten den Mauerbau. | |
| Wir wissen jetzt noch genauer, wann der sowjetische Parteichef | |
| Chruschtschow baden ging, wann sein Ostberliner Statthalter Walter Ulbricht | |
| seine Mahlzeiten einnahm, welche Obstsorten US-Präsident John F. Kennedy | |
| zum Nachtisch bevorzugte, wann der Regierende Bürgermeister Willy Brandt | |
| Nachtruhe hielt. Unser Wissen ist gewaltig. Es mehrt und mehrt sich, aber | |
| Neues kam auf eine geradezu eigentümliche Weise nicht hinzu. | |
| Noch merkwürdiger freilich schien, dass über die Ursachen, die zum Mauerbau | |
| führten, damals wie heute ebenso nur am Rande geredet wird wie über die | |
| Folgen. Natürlich, die Massenflucht wurde erwähnt, auch dass im Sommer 1961 | |
| tagtäglich zwischen 1.000 und 2.000 Menschen nach Westberlin flohen. Aber | |
| warum eigentlich? Und warum mussten die Kommunisten in Ostberlin und Moskau | |
| eigentlich handeln? Nicht nur, weil die DDR kurz vor dem Zusammenbruch | |
| stand, sondern auch weil ähnlich wie im Juni 1953 ein neuer Aufstand | |
| drohte. Das war 1961 den meisten Menschen klar, deshalb warteten ja auch | |
| viele darauf, dass etwas geschehe. | |
| Nicht nur stramme Kommunisten hatten Verständnis für Ulbrichts Bauwerk. | |
| Nicht wenige Menschen meinten, "irgendetwas" müsse passieren. Eine Mauer | |
| lag nicht außerhalb der Vorstellungswelt. Seit der Berlin-Blockade 1948/49, | |
| der eigentlichen Geburtsstunde Westberlins, war für Berliner und | |
| Berlinerinnen eigentlich alles denkbar. Als dann aber der Mauerbau am 13. | |
| August 1961 begann, war es dennoch für viele ein Schock. Noch drei Jahre | |
| lang flüchteten durchschnittlich täglich 50 Menschen in den Westen, erst | |
| allmählich erwuchs aus dem Drahtzaun und den Straßensperren jenes | |
| Mauersystem, das immer unüberwindbarer wurde. | |
| Historisch liegt die eigentliche Überraschung aber eher darin, dass die | |
| Mauer erst 1961 gebaut wurde. Das ganze Sowjetreich mitsamt den | |
| osteuropäischen Satrapien war eingemauert, mit Stacheldraht umgeben, | |
| militärisch bewacht. Allein an der tschechisch-österreichischen Grenze | |
| kamen rund 1.000 Tschechen und Slowaken ums Leben. Man mag gar nicht | |
| hochrechnen, wie viele Tote es an der gesamten, zehntausende Kilometer | |
| umfassenden Außengrenze des Sowjetreiches gegeben hat. Zwar war auch seit | |
| 1952 die innerdeutsche Grenze ziemlich dicht, aber Berlin als Schlupfloch | |
| war offen geblieben. Noch erstaunliche neun Jahre lang. Natürlich, die | |
| Kommunisten hatten immer wieder gehofft, Westberlin zu tilgen, zu | |
| übernehmen. | |
| Dies ist ihnen übrigens erst Ende der achtziger Jahre gelungen - nur | |
| virtuell. In der S-Bahn Ostberlins hingen Streckenpläne, in denen der weiße | |
| Fleck, der seit einigen Jahren West-Berlin "markierte", verschwunden war. | |
| Ostberlin grenzte nunmehr direkt an Potsdam. | |
| ## | |
| Die Mauer war für die Kommunisten ein Überlebensbauwerk. Sie musste | |
| errichtet werden, um die DDR zu retten. Als die Mauer fiel, war die größte | |
| DDR der Welt auch dahin. | |
| Aber nicht nur die DDR. Auch Westberlin, über das heute kaum noch geredet | |
| wird, war zu Ende. Geboren 1948 als Frontstadtkind, stabilisiert und zum | |
| Mythos gemacht 1961, sang- und klanglos verstorben in einer Novembernacht | |
| 1989. | |
| Die Geschichte Westberlins war von Zufälligkeiten und Irrtümern | |
| gekennzeichnet. Wäre es nach US-Präsident Franklin D. Roosevelt gegangen, | |
| hätte es die Insel Westberlin nie gegeben. Er hatte im November 1943 | |
| überlegt, die künftigen Grenzen des besetzten Deutschlands so zu legen, | |
| dass Berlin genau auf jener Grenze zwischen sowjetischer und | |
| britisch-amerikanischer Zone liege. Die Reichshauptstadt wäre auch geteilt | |
| worden, aber das Hinterland Westberlins wäre die spätere Bundesrepublik | |
| geblieben. | |
| Westberlin entstand also zufällig. Es ging genauso zufällig unter. | |
| Schabowskis Pressekonferenz am frühen Abend des 9. November 1989 hatte | |
| nicht zum Ziel, die Mauer einzustürzen. Es ging darum, einige | |
| Hunderttausend Menschen aus der DDR abziehen zu lassen, um so Druck aus dem | |
| Kessel zu lassen. Anschließend sollten die Tore wieder geschlossen werden, | |
| um im Prinzip weiterzumachen wie bisher. Die Menschen im Osten und die | |
| Westmedien hatten dies - zum Glück - nicht so verstanden und rissen | |
| wortreich und mit ihren Körpern die Mauer ein. Kaum jemand sah, dass sie | |
| damit auch Westberlins historische Sonderrolle beendeten. | |
| 28 Jahre stand die Mauer. Die Mauer war schlimm, noch viel schlimmer | |
| allerdings war für die Kommunisten die Existenz Westberlins. Ulbricht hatte | |
| dies als Erster erkannt und wollte deshalb Westberlin in sein kleines Reich | |
| eingliedern. Er ahnte und wusste wohl auch, dass Westberlin als | |
| Schaufenster des Westens, als Konsumtempel, als Lustoase, als | |
| Freiheitsinsel, als Leucht- und Sendeturm immer stärker und bunter strahlen | |
| würde als die eigenen, meist unerfüllten Versprechungen vom nahenden | |
| kommunistischen Paradies. | |
| Westberlin symbolisierte nicht nur für Ostberliner, sondern auch für | |
| Mecklenburger, Brandenburger, Sachsen und Thüringer all das, was sie in den | |
| eigenen vier Mauern vermissten: Freiheit, Bücher, Bananen, Mars, Coca-Cola, | |
| schnelle Autos, Drogen, Prostituierte oder Pornos. Rias und SFB strahlten | |
| ununterbrochen aus, was im Osten unterdrückt wurde. Wollte man wissen, was | |
| in Ostberlin, Rostock oder Suhl wirklich los war, musste man einen | |
| Westberliner Radiosender hören. Es gab nur wenige tausend Ostmenschen, die | |
| das nicht taten. Ohne die Westberliner Radio- und Fernsehprogramme hätte | |
| die Mauer vielleicht noch ein paar Jahre länger gestanden. | |
| Allerdings führte das dazu, dass Westberlin millionenfach im Osten verklärt | |
| wurde. In Westberlin hatte man solche Probleme mit dem Osten nicht. Der war | |
| nicht nur grau, langweilig, unfreundlich, irgendwie bekloppt, ekelerregend | |
| und abstoßend. Der war auf eine eigentümliche Weise immer mehr aus dem | |
| Blick geraten. Kreative Freizeitmaler bepinselten die Mauer mit lustigen | |
| Bildchen, während auf der anderen, nicht einsehbaren Seite Menschen | |
| erschossen wurden, weil sie die Mauer von der lustigen Seite sehen wollten. | |
| Darauf muss man erst einmal kommen - eine in Betrieb befindliche | |
| öffentliche Hinrichtungsstätte zu bemalen. Heute glauben die meisten | |
| Touristen beim Betrachten der East Side Gallery, die sah auf der Ostseite | |
| auch vor 1990 schon so aus. | |
| Westberlin genügte sich selbst. Kreuzberg wurde zum Mythos im Mythos, | |
| ebenso wie die Wilmersdorfer Witwen. Überhaupt, fast nichts in Westberlin | |
| blieb mythenfrei, nichts war normal, alles ganz außergewöhnlich - so | |
| jedenfalls die meisten Insulaner. Erst der Mauerfall legte offen, wie schön | |
| provinziell Westberlin in all den Jahren der scheinbar grenzenlosen | |
| Freiheit geworden war. Das war eine sehr gute Voraussetzung, um | |
| einigermaßen problemlos und in Harmonie mit dem Kaff Ostberlin | |
| zusammenwachsen zu können. | |
| Nun leben wir in einer Weltstadt. Voraussetzung dafür war auch, dass Berlin | |
| wie viele andere Weltstädte blieb, was es immer gewesen war: eine mehr oder | |
| weniger zufällige Ansammlung von mehr oder weniger großen Dörfern, die sich | |
| zusammen Stadt nannten. Dorfbewohnern wirft fast niemand vor, wenn sie ihr | |
| Dorf nicht verlassen. In einer Stadt zu leben, aber das eigene Dorf und den | |
| eigenen Kiez nicht zu verlassen, kommt manchem Stadtsoziologen und | |
| Kommunalpolitiker wie ein mittelschweres Verbrechen vor. Dabei ist das eine | |
| Vorbedingung, um überhaupt Weltstadt werden zu können. Für Berlin war es | |
| sogar überlebensnotwendig nach 1989, denn nur so konnte gewährleistet | |
| werden, dass Glatzköpfe aus dem Osten Kreuzberg, Wedding oder Neukölln | |
| verschonten. | |
| ## | |
| Müssen wir uns eigentlich mit dem Mauerbau und dem Mauerfall beschäftigen? | |
| Natürlich nicht. Wäre ja noch schöner, wenn dies irgendwem vorgeschrieben | |
| würde. Wäre auch so ein später Sieg von Ulbricht. | |
| Und müssen wir uns so mit dem Mauerbau beschäftigen, wie es nun monatelang | |
| öffentlich geschah? Um Himmels willen, erst recht nicht. Ich jedenfalls | |
| habe genug von den Speisekarten in Washington, Moskau, Wien, Berlin und | |
| Bonn gehört und gelesen. Und noch mehr habe ich genug von der unseligen | |
| Geschichtsbetrachtung à la "Große Männer machen Geschichte". | |
| Wie es nicht gemacht werden sollte, haben wir jetzt jedenfalls zur Genüge | |
| erfahren. Beim nächsten Jubiläum sollten wir mal wieder mehr darauf | |
| schauen, was die "normalen" Menschen dachten, wussten, wollten, sahen, wie | |
| sie sich fühlten und liebten, wie sie hassten und klauten, überhaupt | |
| schauen, was Alltagsleben bedeutet, zum Beispiel in einer von einer | |
| todbringenden Mauer geteilten Stadt. | |
| ## ist Historiker und Autor zahlreicher Bücher zur Zeitgeschichte. Zuletzt | |
| erschienen "Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR" und "Die 101 | |
| wichtigsten Fragen: DDR", beides im C. H. Beck Verlag | |
| 13 Aug 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilko-Sascha Kowalczuk | |
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