| # taz.de -- taz-Serie zum Mauerbau (3): Die Frage seines Lebens | |
| > Der 13. August 1961 trennt einen Jungen von seinen Eltern. Der Junge will | |
| > lieber im Westen bei der Oma bleiben, doch die Stasi zwingt ihn zurück. | |
| > Für ihn brach da eine Welt zusammen, erinnert sich Peter Bobrowski. | |
| Bild: Manche mussten rüber: Kinder an der Berliner Mauer 1961 | |
| Vielleicht wäre Peter Bobrowski Maler geworden. Oder Biologe. Nach dem 13. | |
| August 1961 mögen sich viele in der DDR gefragt haben, wie das eigene Leben | |
| wohl auf der anderen Seite der Mauer verlaufen wäre. Doch kaum einer war | |
| diesem Vielleicht so nah wie Peter Bobrowski. An dem Tag, an dem der | |
| Mauerbau Berlin in zwei Teile schnitt, saß der Neunjährige auf dem | |
| westlichen Puzzlestück und seine Eltern auf dem anderen. Der Junge war bei | |
| der Oma in den Ferien. "Und ich wollte unbedingt bleiben", erzählt | |
| Bobrowski heute. Doch die Stasi zwang ihn zurück, Grenzer schoben ihn an | |
| der Oberbaumbrücke auf das "richtige" Puzzlestück. An diesem Tag bekam | |
| Peter Bobrowskis Gedächtnis einen Riss und die Frage nach dem Vielleicht | |
| wurde zur Frage seines Lebens. | |
| Die Geschichte von Peter Bobrowski beginnt lange vor dem 13. August 1961, | |
| in einem Mehrfamilienhaus auf der Halbinsel Stralau im Osten Berlins. In | |
| diesem Haus lebte seit den 1920ern Bobrowskis Oma, später auch die Mutter | |
| mit ihrem Mann. Bobrowski ist das erste Kind der Kindergärtnerin und des | |
| Kranführers. Die frühen Jahre verbrachte er fast ausschließlich bei der Oma | |
| eine Treppe tiefer. Als er in die Schule kam, war er ein Einzelgänger, der | |
| zuvor kaum Kontakt zu Gleichaltrigen hatte. Der gern malte und las und den | |
| ein Rückenleiden bei körperlichen Aktivitäten zurückfallen ließ. Der Vater | |
| sei "ein autoritärer Säufer" gewesen, erinnert sich Bobrowski nur ungern. | |
| Einer, der sich einen echten Kerl gewünscht hatte und der den empfindsamen | |
| Jungen nicht verstehen konnte. | |
| So war Peter am liebsten bei den Großeltern. Doch Mitte der 1950er | |
| verließen die das Haus in Stralau und zogen in den Westteil Berlins. Nicht | |
| schlimm, denn der Westen war nur ein paar U-Bahn-Minuten entfernt und die | |
| Schulferien verbrachte Peter immer bei der Oma. So auch im Sommer 1961, da | |
| war der Junge neun. Die Eltern bereiteten in dieser Zeit die Übersiedlung | |
| in den Westen Berlins vor. Die Geschichte von Peter Bobrowski ist auch die | |
| seiner Mutter Erika Jakob. Die kleine Frau mit der weißen Dauerwelle wohnt | |
| noch heute in dem Haus in Stralau, in dem schon ihre Mutter aufgewachsen | |
| ist. Sie sitzt im Wohnzimmer und schlägt ein Schulheft auf. Die ersten | |
| Seiten sind mit dünner enger Schrift gefüllt. "So kann ich mich besser | |
| erinnern", sagt die 79-Jährige. Anfang August 1961 wollten sie diese | |
| Wohnung verlassen, so steht es in dem kleinen Heft. "Mein Mann hatte so | |
| eine Vorahnung, dass irgendetwas passiert." In Taschen und Beuteln fuhren | |
| sie Kindersachen und Bettzeug mit der U-Bahn zur Oma nach Mariendorf. | |
| Doch Erika Jakob haderte. Die Schrankwand, die Couch, die schöne Wohnung - | |
| alles war so schwer erarbeitet in den harten Nachkriegsjahren. Wenigstens | |
| ihren 29. Geburtstag wollte sie noch in Ruhe feiern, bevor es dann am 13. | |
| August wirklich rübergehen sollte. Nur die Nachbarn waren eingeweiht, denn | |
| die Stasi hatte die Jakobs nach der Übersiedlung der Großeltern schon im | |
| Visier. Genau diese Nachbarn klingelten sie am Morgen des 13. August aus | |
| dem Bett: "Kinder, ihr kommt ja gar nicht mehr rüber." | |
| Plötzlich teilte eine Mauer die Stadt und der kleine Peter war noch drüben | |
| bei Oma. Die Großmutter schickte aus Mariendorf ein Telegramm nach Stralau: | |
| "Lasst mir den Peter, so lange kann das nicht dauern." Die Eltern waren | |
| einverstanden, ihr Ältester sollte so lange bleiben, bis die Grenze wieder | |
| offen ist. "Der Peter war nun mal ein Omakind und er konnte doch auch dort | |
| zur Schule gehen", sagt seine Mutter heute. | |
| Ein paar Wochen ging das gut, solange noch Ferien waren und Peter nicht | |
| fehlte. Doch eines Tages standen zwei Herren in grauen Anzügen im Stralauer | |
| Mehrfamilienhaus. "Die konnten nur von der Stasi kommen", sagt Erika Jakob. | |
| Noch zwei Wochen, drohten die Männer, dann müsste der Junge wieder in der | |
| DDR sein. Sonst käme erst der Vater in den Knast und dann die Mutter. "Und | |
| meine Kinder?", fragte Erika Jakob in Angst um ihre Jüngsten. "Ins Heim", | |
| lautete die knappe Antwort der grauen Herren. Wieder wanderten Telegramme | |
| zwischen Mariendorf und Stralau, in denen Eltern und Oma schweren Herzens | |
| die Rückkehr des neunjährigen Peters beschlossen. | |
| "Für mich ist die Welt zusammengebrochen", erinnert sich Peter Bobrowski. | |
| Er weiß noch, wie er mit der Oma zur Oberbaumbrücke ging, bis kurz vor die | |
| Grenze. Dass die Oma keinen Schritt weiter gehen durfte und ihn stattdessen | |
| Grenzsoldaten nach drüben geleiteten. Dass sie seine Taschen durchwühlten, | |
| bevor er seinen Eltern übergeben wurde. Dann setzt seine Erinnerung aus - | |
| für mindestens ein halbes Jahr. | |
| Aus Erzählungen weiß Bobrowski, dass seine Schulnoten schlechter wurden, er | |
| beinahe sitzen geblieben wäre. Dass er immer wieder gefragt hat, warum er | |
| denn nicht bei der Oma und im Westen bleiben durfte. Die Mutter hätte das | |
| wohl traurig gestimmt, wenn sie mit vier Kindern und der Arbeit Zeit für | |
| Traurigkeit gehabt hätte. Doch das Leben musste weitergehen in dem Haus in | |
| Stralau. Irgendwann durfte die Oma wieder zu Besuch kommen. Manchmal | |
| stellte sich Familie Jakob auch ans Ufer der Spree und spähte rüber nach | |
| Kreuzberg. Da standen dann die Oma, der Onkel und die Tante und winkten. | |
| Peter Bobrowski aber litt unter dem autoritären Vater, der ihm das Aquarium | |
| verbot und dem das künstlerische Talent seines Ältesten nichts wert war. | |
| Später hielt er es nie lange in einem Job aus, weil er mit Vorgaben und | |
| Vorgesetzten nicht gut konnte und sich stattdessen immer noch fragte, was | |
| vielleicht aus ihm geworden wäre, wenn er damals in Mariendorf hätte | |
| bleiben können. Es gab den Gedanken an Flucht, "aber die Angst vor | |
| Gefängnis war stärker", sagt er. Als die Mauer nach 28 Jahren endlich fiel, | |
| war Bobrowski Mitte 30. "Zu spät für einen Neuanfang." Sein erster Besuch | |
| im Westen führte ihn zur Oma. | |
| Die Geschichte endet dort, wo sie begonnen hat: in dem Haus auf der | |
| Stralauer Halbinsel. 1994 ist Peter Bobrowski in die Wohnung gezogen, in | |
| die er 1961 nicht zurück wollte und in der er sich immer nach der Oma | |
| sehnte. "Um die bösen Geister zu bannen." Erfolgreich, wie er sagt. Die Oma | |
| ist seit zehn Jahren tot und irgendwann müsse man ja die Sache auch mal | |
| ruhen lassen, findet der 59-Jährige. Seine Mutter ist eine Etage tiefer in | |
| eine kleinere Wohnung gezogen. Ab und an sitzen die beiden auf dem Balkon, | |
| spähen über die Spree und reden bis in die Nacht über die Vergangenheit. | |
| Nur manchmal fällt noch das Wörtchen Vielleicht. | |
| 10 Aug 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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