# taz.de -- 35 Jahre Mauerfall: Fluss ohne Grenzen | |
> Die innerdeutsche Grenze verlief auch durch die Spree. Nach dem 9. | |
> November 1989 wurde sie zu einer der großen Gewinnerinnen des Mauerfalls. | |
Bild: Endlich nutzbar: Die Spree an der Oberbaumbrücke | |
Berlin taz | Es ist sein Geburtstag. Am 11. Mai 1975 geht Çetin Mert zum | |
Spielen ans Kreuzberger Gröbenufer nahe der Oberbaumbrücke. Plötzlich | |
kullert der Ball die Böschung hinab und fällt in die Spree. Der Junge | |
versucht, ihn mit einem Stock aus dem Wasser zu fischen und stürzt. | |
Gegen 12.30 Uhr treffen die Westberliner Polizei und die Feuerwehr ein. Mit | |
Stangen suchen sie das Wasser ab. Zum Tauchen in die Spree dürfen sie | |
nicht. Bis zum Kreuzberger Ufer gehört der Grenzfluss zum Hoheitsgebiet der | |
DDR. | |
Am gegenüberliegenden Ufer beobachten zwei Angehörige der Grenztruppen, wie | |
Çetin Mert in die Spree fällt. Sie greifen zum Fotoapparat und drücken auf | |
den Auslöser. Weil sie keine Funkverbindung haben, erstatten sie erst sehr | |
viel später Meldung. So steht es in den Stasi-Unterlagen. | |
Um 13.10 Uhr trifft schließlich ein Grenzsicherungsboot der DDR am | |
Unfallort ein, [1][heißt es auf der Seite des Projekts „Chronik der | |
Mauer]“. Eine Stunde später bergen DDR-Taucher den Leichnam des Kindes, | |
fünf Meter vom Gröbenufer, heute May-Ayim-Ufer, entfernt. Çetin Mert wurde | |
fünf Jahre alt. | |
## Der unsichtbare Fluss | |
Denkt man an die innerdeutsche Grenze, fallen einem meist andere Orte ein | |
als die Spree. Die Mauer in der Bernauer Straße zum Beispiel, der | |
Checkpoint Charlie oder der Tränenpalast an der Friedrichstraße. Doch auch | |
die Spree war bis zum Mauerfall am 9. November 1989 ein Teil der schwer | |
gesicherten und für viele tödlichen innerdeutschen Grenze. | |
Auf einer Länge von fast drei Kilometern bildete die Spree die [2][Grenze | |
zwischen dem Ostberliner Bezirk Friedrichshain und Kreuzberg im Westteil | |
der Stadt]. Bauliches Relikt dieser Zeit ist der [3][Zollsteg an der | |
Grenzübergangsstelle für Schiffe am Flutgraben.] Er wurde errichtet, | |
nachdem 1962 ein Frachtschiff gekapert wurde und in den zum Westen | |
gehörenden Landwehrkanal fuhr. | |
Am Reichstag lag der zweite Grenzabschnitt der Spree. Unterhalb des | |
ARD-Hauptstadtstudios befand sich östlich der Marschallbrücke Berlins ein | |
Grenzübergang für Binnenschiffe. Kontrolliert wurden unter anderem | |
Frachtschiffe, die mit polnischer Kohle beladen auf dem Weg zum Kraftwerk | |
Reuter in Spandau waren. | |
## Unsichtbarer Fluss | |
Wer zu Mauerzeiten in Westberlin lebte, hatte keinen Blick für die Spree. | |
Sie war ein für viele unsichtbarer Fluss. In Kreuzberg und am Reichstag war | |
sie Grenze, in Moabit und Charlottenburg war sie oft so verbaut, dass ihre | |
Ufer nicht zugänglich waren. Einzig im nördlichen Tiergarten zeigte sie | |
sich ein wenig von ihrer hübschen Seite. Viel attraktiver war in Kreuzberg | |
damals der Landwehrkanal. | |
Aber auch im Ostteil der Stadt hatten die Menschen nicht viel von der | |
Spree. In Friedrichshain versperrte die Hinterlandmauer, heute | |
East-Side-Gallery, die Sicht auf den Fluss und das gegenüberliegende | |
Kreuzberger Ufer. | |
Schon als die Mauer gebaut wurde, war der Leumund der Spree nicht der | |
Beste. Als provinziell galt sie, kein Vergleich zur Themse in London, zur | |
Donau in Wien oder zur Seine in Paris. „In Paris sagt man von einem | |
Stadtteil, einer Straße, einem Hause, sie lägen rechts oder links von der | |
Seine“, schrieb der Feuilletonist Karl Scheffler 1910 in seinem Buch | |
„Berlin. Ein Stadtschicksal“. „In Berlin wird der Fluss in diesem Sinne | |
aber niemals zu einem Grenz- oder Orientierungsbegriff. Er verbindet nicht, | |
er trennt nicht; er ist einfach ein Wasserlauf, über den man sich Gedanken | |
nicht macht.“ | |
Und dann ist da noch Fontane. Über die Spree schrieb er in seinen | |
„Wanderungen“: „Vergeblich fließt sie in blauer Stattlichkeit am Stralau… | |
Kirchturm vorbei, vergeblich reiht sie – ähnlich wie ihre glücklichere | |
Schwester, die Havel – See um See an ihrem Bande auf, sie bleibt, was sie | |
war, ein Gegenstand des Spotts, und wenig deutsche Dichter (…) hat es | |
gegeben, die nicht schwach genug gewesen wären, an der ohnehin gedrückten | |
Existenz der Armen ihr Mütchen zu kühlen.“ | |
## Karriere nach dem Mauerfall | |
Der Mauerbau hat 1961 also einen Fluss geteilt, der bereits am Straucheln | |
war. Umso erstaunlicher ist die Karriere der Spree nach dem Fall der Mauer. | |
Zuerst wurde die ehemalige Grenzspree zwischen Kreuzberg und Friedrichshain | |
zur Partymeile, überall schossen Clubs und Beachbars aus dem Boden. Es war, | |
als würde man den Schrecken, der dort noch bis vor Kurzem herrschte, | |
wegtanzen wollen. | |
Nach dem Umzug von Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree | |
entstanden neue Promenaden vom Reichstag bis in den Tiergarten. Das | |
Regierungsviertel sollte als [4][„Band des Bundes“] nicht nur die Spree | |
überqueren, sondern auch die Teilung der Stadt überwinden. | |
Sogar Staat lässt sich seitdem machen mit der Spree. Die Kamera im Studio A | |
des ARD-Hauptstadtstudios nimmt nicht nur den Reichstag in den Blick, | |
sondern auch die Spree. Aus dem unsichtbaren Fluss wurde hier der | |
Regierungsfluss. | |
So sehr die Spree die Gewinnerin des Mauerfalls ist, so ungleich ist der | |
Gewinn verteilt. Denn die Partymeile Spree ist inzwischen selbst | |
größtenteils Geschichte. Der Wiederentdeckung der Ufer durch Clubs folgte | |
die Inbesitznahme durch Investoren und die Verdrängung der Pioniere. Ein | |
Fluss ohne Grenzen ist die Spree eben auch für das Immobilienkapital. Damit | |
steht Berlin allerdings nicht alleine da. Auch in anderen europäischen | |
Metropolen tobt inzwischen der Kampf darum, wem die Flussufer gehören. | |
Einer vormaligen Grenzlage bedarf es da nicht. | |
Gleichwohl ist die Spreegrenze bis heute in den Köpfen vieler Berlinerinnen | |
und Berliner präsent. Als das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg dazu | |
aufrief, einen Namen für einen neu gestalteten Park an der Ecke | |
Mariannenstraße und Skalitzer Straße zu finden, fiel die Wahl auf Çetin | |
Mert. Eingeweiht wurde der [5][Çetin-Mert-Park] am 11. Mai 2024. Es war der | |
Tag, an dem er 54 Jahre alt geworden wäre. | |
8 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/171336/mert-cetin?letter=&t… | |
[2] https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/east-side-gallery/historischer-or… | |
[3] https://www.mauer-fotos.de/fotos/f-021041/ | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Band_des_Bundes | |
[5] https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/east-side-gallery/besuch/programm… | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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