# taz.de -- Kreuzberger Opfer der Berliner Mauer: Fünf tote Kinder zuviel | |
> Çetin Mert war 1975 das letzte von fünf Kindern, die in der Spree | |
> ertranken. Hätte der Senat eher handeln können? Die Kritik hält bis heute | |
> an. | |
Bild: Das Gröbenufer aus der Perspektive des gegenüberliegenden Ufers | |
Berlin taz | Das erste Kind in Westberlin, das in der zu Ostberlin | |
gehörenden Spree ertrank, war sechs Jahre alt. Am Vormittag des 13. | |
September 1966 wurde Andreas Senk von einem gleichaltrigen Spielgefährten | |
in die Spree gestoßen. | |
Der Sturz am Kreuzberger Gröbenufer wurde zunächst nicht bemerkt, der | |
gleichaltrige Junge war davongelaufen. Erst Stunden später war die | |
Feuerwehr vor Ort. „Am westlichen Ufer begannen Feuerwehrleute mit langen | |
Stangen die Spree abzusuchen“, [1][hieß es in einer operativen Tagesmeldung | |
der Nationalen Volksarmee NVA]. | |
Zwei NVA-Boote hatten das Geschehen laut Westberliner Polizei aus einer | |
Entfernung von 80 Metern beobachtet. Die Rettungsversuche hätten sie nicht | |
behindert. Allerdings seien sie auch der Aufforderung nicht nachgekommen, | |
selbst bei der Rettung zu helfen. Unmittelbar ans Kreuzberger Ufer zu | |
fahren, war ihnen nicht erlaubt. So sollte das Desertieren von | |
Grenzsoldaten verhindert werden. | |
## Ein Fall schlägt Wellen | |
Der Fall schlug Wellen. „Sechsjähriger ertrank vor den Augen der Grepos“, | |
titelt am darauffolgenden Tag Springers Boulevardblatt B. Z. Die Berliner | |
CDU, damals in der Opposition, verlangte, „unverzüglich ein Verfahren gegen | |
die Zonen-Grenzposten einzuleiten, die sich an dem Tod des Sechsjährigen | |
mitschuldig gemacht haben.“ | |
War Andreas Senk ein Maueropfer? | |
Nach einem Sturz ins Wasser, schrieb der Tagesspiegel damals, hätten | |
Rettungskräfte etwa acht Minuten, um einen Menschen zu retten. Im Falle von | |
Andreas Senk wäre also jede Hilfe zu spät gekommen. Als Feuerwehr und NVA | |
an der Unfallstelle waren, war er bereits ertrunken. | |
Was aber, wenn es jemanden gegeben hätte, der den Jungen hätte retten | |
können? Auf die politische Dimension der Spree als Grenze wies damals | |
Günther Matthes in einem Kommentar im Tagesspiegel hin: „Am Berliner | |
Todesstreifen fehlt es an Passanten, die schnell zu Rettern werden | |
könnten“, schrieb Matthes. „Und wenn sie da gewesen wären, mussten sie | |
nicht damit rechnen, bei einem Sprung in Ost-Berliner Gewässer erschossen | |
zu werden?“ | |
„Das ist die Rhetorik des Kalten Krieges“, sagt Gerhard Sälter zu | |
Zeitungsberichten wie diesem. Der Leiter Forschung und Dokumentation der | |
[2][Stiftung Berliner Mauer] gibt zu bedenken, dass es nicht erwiesen sei, | |
dass die Grenzbeamten der DDR in so einem Fall tatsächlich geschossen | |
hätten. „Aber die Westberliner Medien haben das immer wieder geschrieben, | |
sodass es die Leute geglaubt haben.“ | |
Sechs Jahre später wird sich diese Frage in ihrer ganzen Dramatik stellen. | |
Am 30. Oktober 1972 war der achtjährige Cengaver Katrancı beim Spielen in | |
die Spree gefallen. Von Cengavers Freund wurde ein Angler auf die Situation | |
aufmerksam gemacht. Der Angler rannte zur Unfallstelle. „Als er schon | |
begonnen hat, sich zu entkleiden, wird ihm bewusst, dass die Spree hier in | |
ganzer Breite zu Ost-Berlin gehört, und dass er riskiert, bei einem | |
Rettungsversuch von den DDR-Grenzposten erschossen zu werden“, [3][schreibt | |
Udo Baron in „Chronik der Mauer“]. „Er springt dem ertrinkenden Kind nicht | |
hinterher.“ | |
Hätte dieses Unglück vermieden werden können? Und wenn ja, mit welchen | |
Maßnahmen? | |
„Schon nach dem ersten toten Kind hätten der Senat oder auch die | |
Bundesregierung eine Lösung finden müssen“, sagt Safter Çinar vom | |
Türkischen Bund Berlin Brandenburg TBB. „Politik und Ideologie dürfen in so | |
einem Fall keine Rolle spielen. Hier ging es um Menschenleben.“ | |
Andere stellen, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, die Frage, ob der | |
Senat ebenso untätig geblieben wäre, hätte es sich nicht um Kreuzberger, | |
sondern um Zehlendorfer Kinder gehandelt. | |
## Es wird verhandelt | |
Erst als im Mai 1973 [4][der fünfjährige Siegfried Kroboth] mit einem | |
Freund nahe der Brommybrücke beim Spielen in die Spree fiel und ertrank, | |
kam Bewegung in die Sache. Der Westberliner Senat und die DDR-Behörden | |
begannen mit Gesprächen über ein Abkommen und mögliche Rettungsmaßnahmen. | |
Bei Kroboth hatten Westberliner Polizei und Feuerwehr mit zusehen müssen, | |
wie der Junge ertrank. Ein DDR-Grenzboot hatte nicht auf Aufforderungen | |
reagiert, den Jungen zu retten. Der Westberliner Feuerwehrmann Klaus | |
Abraham, damals Rettungstaucher, jetzt Zeitzeuge der Stiftung Berliner | |
Mauer, erinnert sich noch sehr gut an das Gefühl, zeitig vor Ort gewesen zu | |
sein, aber aufgrund der Grenzsituation nicht helfen zu können. | |
Zum Westberliner Unterhändler wurde Heinz Annußek ernannt, damals als | |
Unterabteilungsleiter der Innenverwaltung zuständig für Polizei und | |
Feuerwehr. Sein Verhandlungspartner auf Ostberliner Seite war der Leiter | |
der „Westberlin-Abteilung“ des DDR-Außenministeriums, Joachim Mitdank. | |
Trotz des Viermächteabkommens 1971 und des Grundlagenvertrags 1972 | |
gestalteten sich die Gespräche schwierig. „Das lag vor allem an der | |
Forderung der DDR, die Sektorengrenze als Staatsgrenze anzuerkennen“, sagt | |
der Politikwissenschaftler Eckart Stratenschulte. | |
Aber auch die DDR, seit 1973 Mitglied der UNO, stand unter Druck. Nach dem | |
Tod von Çetin Mert am 11. Mai 1975 war es zu wütenden Proteste seitens der | |
türkischen Community in Kreuzberg gekommen. Bis zu 2.000 Demonstranten | |
versammelten sich am Gröbenufer. Sie riefen „Mörder, Mörder, Kindermörder… | |
und verteilen Flugblätter mit Aufschriften wie „Nieder mit der Schandmauer | |
– Nieder mit dem Mörderkommunismus“. Bilder, die unangenehm für das | |
SED-Regime waren, obwohl sie im Neuen Deutschland nicht zu sehen waren. | |
Nach zwei Jahren kam es schließlich am 29. Oktober 1975 zu einer Einigung. | |
Nicht in Form eines Abkommens, sondern eines Austauschs, eines | |
Notenwechsels. Der sah vor, dass Notrufsäulen errichtet werden, von denen | |
aus die DDR-Grenzer über ein Unglück unterrichtet werden können. | |
Anschließend hätten Feuerwehr und Polizei Verunglückte auch in der Spree | |
retten können. | |
War es diese Einigung, die dazu führte, dass nach Çetin Mert kein weiteres | |
Kind in der Spree ertrank? Oder war es der Zaun, der inzwischen aufgestellt | |
worden war? Diese Frage ist bis heute offen. | |
Wenige Tage nachdem Çetin Mert am 11. Mai 1975 gestorben war, ließ der | |
Senat Warnhinweisschilder in deutscher und türkischer Sprache aufstellen. | |
Das berichtete die Berliner Morgenpost am 15. Mai. Gleichzeitig wurden die | |
vier Durchgänge zur Uferböschung zugeschweißt. Vor der Kaimauer wurde ein | |
Maschendrahtzaun aufgestellt. | |
Für Gülşah Stapel kam das viel zu spät. „Viel zu lange wurde gesagt, ein | |
Zaun wäre eine Art Gegenmauer, mit der Westberlin die Grenze anerkennen | |
würde“, sagt sie. „Warum hat man da nicht viel eher nach einer | |
pragmatischen Lösung gesucht? Die Kinder würden dann vielleicht noch | |
leben.“ | |
Stapel arbeitet für die Stiftung Berliner Mauer in der | |
historisch-politischen Bildung. Zum Gedenktag des Mauerfalls am 9. November | |
bietet sie auch eine türkischsprachige Führung zur Mauer an. Sie ist Teil | |
des Projekts [5][„Berliner Mauer goes … türkçe“]. | |
„Bei einer Probeführung“, sagt Stapel, „war eine Frau dabei, die auch die | |
Demos nach dem Tod von Çetin Mert miterlebt hat“. Dominiert wurden die | |
Proteste damals von nationalistischen und islamistischen Kreisen. „Der Tod | |
des Jungen wurde instrumentalisiert“, sagt Stapel. „Die antikommunistischen | |
Proteste kamen dem Senat nicht unrecht.“ | |
Die Familie von Çetin Mert hat Berlin bald darauf verlassen und ist in die | |
Türkei zurückgekehrt, sagt Stapel. „Auf seinem Grabstein haben sie | |
eingraviert, dass ihr Sohn nicht ertrunken sei, sondern ein Todesopfer der | |
Mauer war.“ | |
Zur Traumatisierung der Familie hat offenbar auch die Überführung des | |
Leichnams beigetragen. Das berichtete der jüngere Bruder von Çetin Mert im | |
Jahr 2000 in einem [6][Interview mit der Berliner Zeitung]. 10.000 Mark, | |
sagt Yasar Mert, habe die Familie an die DDR bezahlen müssen, um die Leiche | |
des Jungen Tage später zurück zu bekommen. Eine Entschädigung hätten sie | |
bis heute nicht erhalten. | |
Für den 50. Todestag im kommenden Jahr will Gülşah Stapel ein würdiges | |
Gedenken organisieren. Und immer auch wieder neue Fragen stellen. „Die | |
Geschichten, die wir hier erzählen, sind vielleicht ambivalenter, als wir | |
denken“, sagt sie und berichtet davon, dass in den Stasiakten auch von | |
einem Provokateur zu lesen war, der in die Spree gesprungen sei. „Der wurde | |
nicht erschossen.“ | |
Zu einer Neubewertung der Ereignisse in Kreuzberg gehört nicht zuletzt die | |
Frage, ob die Grenzer der DDR die Kinder wissentlich oder gar vorsätzlich | |
haben ertrinken lassen. „Dafür gibt es keine Hinweise“, sagt Gerhard Sält… | |
von der Stiftung Berliner Mauer. „Es war wohl eher ein systemisches | |
Versagen, also die Unfähigkeit der Offiziere, vor Ort selbst Entscheidungen | |
zu treffen, ohne sich vorher drei Etagen weiter oben eine Bestätigung zu | |
holen.“ | |
8 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/171382/senk-andreas?letter=&… | |
[2] https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de | |
[3] https://www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/171345/katranc-cengaver?letter=… | |
[4] https://www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/171342/kroboth-siegfried?letter… | |
[5] https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/gedenkstaette-berliner-mauer/besu… | |
[6] https://www.berliner-zeitung.de/archiv/vor-25-jahren-ertrank-ein-kind-aus-k… | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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