| # taz.de -- Dokument der Wende: The Revolution Has Been Televised | |
| > Aram Radomski war 1989 zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Ohne ihn | |
| > hätte es die Bilder von den Montagsdemos in Leipzig vielleicht nie | |
| > gegeben. | |
| Bild: Aram Radomskis Blick auf die Montagsdemonstraton am 9. Oktober 1989 | |
| Ginge es nach Aram Radomski, würde er seinen Bambi abgeben. Er würde ihn | |
| den Menschen aus seinem Film schenken: den Zehntausenden, die am 9. Oktober | |
| 1989 bei der ersten der großen Leipziger Montagsdemonstrationen [1][das | |
| Ende der SED-Herrschaft] forderten. Über ihnen, auf dem Turm der | |
| Reformierten Kirche, stand Radomski und filmte das Geschehen mit seiner | |
| VHS-Kamera. | |
| Fragt man Aram Radomski nach seinen Gedanken in dieser Nacht, antwortet er: | |
| „Ich dachte, wenn wir die Einzigen sind, die das hier filmen, haben wir | |
| Urheberrechte bis zum Rest unseres Lebens.“ Die Hoffnung wurde zur | |
| Realität. 2009 wird Radomski für seine „wertvollen Filmdokumentationen der | |
| deutschen Geschichte“ – so die Jury – mit dem Film- und Fernsehpreis Bambi | |
| ausgezeichnet. „Dabei habe ich nur die Kamera draufgehalten“, wehrt er ab. | |
| Ohne die Aufnahmen Radomskis wäre die Demonstration, auf die weitere, | |
| größere folgten, vielleicht nicht als einer der Höhepunkte der Friedlichen | |
| Revolution in die Geschichte eingegangen. Doch Radomski gehört nicht zu den | |
| Leuten, denen man im öffentlichen Gedenken begegnet, nicht zu den | |
| Bürgerrechtler*innen und Oppositionellen, deren Gesichter rund um die | |
| Jahrestage zu Wiedervereinigung und Mauerfall immer wieder gezeigt werden. | |
| Radomski ist damals wie heute eher stiller Zuhörer. Dabei ist seine | |
| Geschichte eine der absurderen der DDR. | |
| In wetterfester Kleidung sitzt er an einem kühlen Nachmittag am Ufer des | |
| Tollensesees in Neubrandenburg. Der Wind weht ihm um die Ohren, Radomski | |
| ist gern draußen in der Natur. Nach fast vier Jahrzehnten in der Hauptstadt | |
| ist er gerade wieder in seine Heimat gezogen, den Berliner Dialekt hat er | |
| mitgenommen. Nur zur Arbeit pendelt er noch regelmäßig, er ist | |
| Geschäftsführer einer Firma, die Tapeten für Innenarchitekten, Galeristen, | |
| für Filme und Bühnen produziert. Der heute 58-Jährige gibt ein | |
| kontrastreiches Bild ab zum jungen Radomski: Heute ganz in Schwarz | |
| gekleidet, trug er in den 1980ern kinnlange Haare zur senfgelben Jacke. | |
| ## Frühe Begegnung mit der Staatssicherheit | |
| Als 15-Jähriger begegnete Radomski der Staatssicherheit zum ersten Mal: Er | |
| habe seinen Vater, einen systemkritischen Schriftsteller, bespitzeln | |
| sollen. Radomski lehnte ab. Er spricht abfällig über die Stasi, belustigt, | |
| als könne er die Absurdität mancher Geschichte selbst nicht fassen. Zum | |
| Beispiel das, was ein paar Jahre später passierte. Am 12. Februar 1982, an | |
| das Datum erinnert er sich mühelos, feierte er in einem Jugendclub, als ihn | |
| zwei Männer hinauauszerrten und verprügelten. Statt der Männer aber brachte | |
| die Polizei Radomski in Knebelketten aufs Revier. „Ich habe mich gewehrt | |
| und versucht zu entkommen.“ Wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ | |
| wurde er zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt. | |
| Dass die Stasi dahintersteckte, war Radomski klar. Aber lange dachte er, | |
| dass der Angriff seinen Vater einschüchtern sollte. „Es gibt Dinge im | |
| Leben, mit denen beschäftigt man sich erst später wieder“, sagt er. Erst | |
| 2019 reimte er sich anhand seiner Stasi-Akte den wirklichen Grund seiner | |
| Verhaftung zusammen: „Meine damalige Freundin kam aus der Mongolei und war | |
| für das Studium nach Plauen gekommen, wo ich zu der Zeit lebte und als | |
| Heizer arbeitete“, erinnert sich Radomski. Sie verliebten sich, doch ihre | |
| Eltern, die in der Mongolei hoch angesehen waren, erfuhren von der | |
| Beziehung. Was Radomski nicht wusste: Seine Freundin war bereits | |
| verheiratet. Die Hochschulleitung legte dem Paar nahe, sich zu trennen. | |
| „Wenn Sie es nicht machen, machen das andere Leute“, habe man ihnen damals | |
| gesagt. Vier Wochen später sei es zu dem Vorfall im Jugendclub gekommen. | |
| Seine Freundin sah er nach der Haft nur einmal wieder, in der Straßenbahn. | |
| „Wir haben uns kurz verabschiedet. Mehr haben wir uns nicht getraut“, | |
| erzählt er mit einem traurigen Lächeln. Aber es schwingt kein Bedauern in | |
| seinen Worten mit, auch keine Wut. Es scheint, als hätte er sich damit | |
| abgefunden, jetzt, wo er versteht, was damals passiert ist. | |
| ## Erste Filmarbeiten | |
| Frust und Demütigung, die er im Gefängnis erlebte, wandelte [2][Aram | |
| Radomski] in Mut um. 1987, er beschäftigte sich inzwischen mit Fotografie, | |
| fragte ihn Siegbert Schefke, ob sie gemeinsam Reportagen über die DDR für | |
| den Westen drehen wollten. Schefke arbeitete als Reporter für verschiedene | |
| Medien in Westdeutschland und hatte die nötigen Kontakte. Es sollte um | |
| Themen wie Umweltschäden und Städtezerfall in der DDR gehen. „Wir waren | |
| jung und brauchten das Geld“ sagt Radomski heute lachend. „Und ich war auch | |
| zu jung, um richtig Angst davor zu haben.“ | |
| Kennengelernt hatten sich die beiden in der Umwelt-Bibliothek in Berlin. | |
| Woher Schefke wusste, dass er Radomski vertrauen konnte? „Das ist wie bei | |
| der Partnersuche, manchmal weiß man es einfach“, sagt der 62-jährige | |
| Schefke, der heute freier Journalist ist, ein Buch über sich und Radomski | |
| geschrieben hat und mit seiner Familie in den USA lebt. Gerade ist er zu | |
| Besuch in seiner früheren Leipziger WG und erinnert sich noch genau an | |
| Radomskis Antwort: „Siggi, das ist voll mein Ding.“ Schefkes Schilderungen | |
| ihrer gemeinsamen Zeit könnten auch aus einem Drehbuch stammen: „Wie Pech | |
| und Schwefel“ seien sie beide gewesen, undercover unterwegs in der DDR, | |
| „freie Menschen in einem unfreien Land“. | |
| Dass sie nicht eingesperrt worden seien, grenze an ein Wunder. Wie später | |
| durch Stasi-Akten bekannt wurde, war der Name Aram Radomski dem | |
| [3][DDR-Geheimdienst] sehr wohl geläufig – und das nicht mehr nur im | |
| Zusammenhang mit seinem Vater. Ein Kollege von Schefke und Radomski war | |
| Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi und lieferte dieser über zwei Jahre | |
| lang Berichte über die beiden. | |
| ## Das Umbruchsjahr 1989 | |
| In den Wochen vor der Demonstration am 9. Oktober seien Radomski und | |
| Schefke jeden Montag in Leipzig gewesen. Dann erlebten die beiden am 7. und | |
| 8. Oktober die Demonstrationen in Ost-Berlin, bei denen Sicherheitskräfte | |
| massiv gegen die Demonstrant*innen vorgingen und über 1.000 Menschen | |
| inhaftierten. Bis dahin, erinnert sich Radomski, seien es aber gerade mal | |
| ein paar hundert Leute gewesen, die protestierten. | |
| Um unbehelligt aus Berlin zu entkommen, simulierte eine Zeitschaltuhr in | |
| Schefkes Wohnung Leben. Unterdessen war er über die Dachluke ausgestiegen | |
| und war mit Radomski auf dem Weg nach Leipzig, zweimaliges Autowechseln | |
| inbegriffen. | |
| Nachdem sie kurz vor Leipzig eine Kolonne Militärautos überholt hatten, | |
| suchten sie in der Stadt einen Ort, von dem aus sie das Geschehen | |
| überblicken konnten. Die Bilder, die wenige Stunden später im BRD-Fernsehen | |
| laufen sollten, filmte Radomski schließlich vom Turm der Reformierten | |
| Kirche. | |
| Schefke und Radomski haben keine Reden auf Montagsdemonstrationen | |
| geschwungen, engagierten sich nicht im Neuen Forum. Sie operierten | |
| gewissermaßen aus dem Maschinenraum der Revolution heraus. „Wir haben, ohne | |
| es zu wissen, den Niedergang der DDR gefilmt“, sagt Radomski. Er spricht | |
| ganz sachlich, ruhig, in seiner Stimme liegt kein Stolz und er macht keine | |
| bedeutungsschwangeren Pausen. Fast klingt es, als erzähle er die Geschichte | |
| eines anderen. | |
| Erst als es um technische Innovationen geht, fällt er in einen begeisterten | |
| Ton. Er fachsimpelt vom Unterschied zwischen 8- und 16-Millimeter-Filmen | |
| und schwärmt von VHS-Rekordern. Angesprochen darauf, dass neben den | |
| technischen Voraussetzungen auch eine Menge Mut zu dieser Aktion notwendig | |
| gewesen sein müsse, winkt er ab: „Ich glaube, wir waren nicht ganz dicht.“ | |
| An die gesellschaftliche Anerkennung scheint er sich mittlerweile trotzdem | |
| gewöhnt zu haben. Und den Bambi, den hat er dann doch behalten: „Meine | |
| Mutter findet das gut.“ | |
| 8 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Leipziger-Pfarrer-geht-in-Rente/!5184397 | |
| [2] /Masse-Medium-und-Museum/!5612614 | |
| [3] /Kommentar-Stasiakten-ins-Bundesarchiv/!5291893 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophie Goldau | |
| ## TAGS | |
| Mauerfall | |
| Leipzig | |
| Montagsdemonstration | |
| Dokumentation | |
| Bambi | |
| 30 Jahre friedliche Revolution | |
| Deutsche Einheit | |
| Kolumne Immer bereit | |
| Mauerfall | |
| Stasi | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Historiker über 32 Jahre Mauerfall: „Nicht nur friedlich“ | |
| Der Historiker Patrice Poutrus plädiert dafür, die Konfliktgeschichten zu | |
| erzählen. Und heutige Probleme in Ostdeutschland klar zu benennen. | |
| Virus schlägt Mauerfall: Hegemoniale Denkmuster | |
| Mein unpassendes Betroffenheitsding: Weil jenseits des Ost-West-Kosmos sei | |
| das Virus einschneidender als der Mauerfall – und betreffe mehr Menschen. | |
| 30 Jahre nach dem Mauerfall: Echo an den Mauern in den Köpfen | |
| Denkmuster des Kalten Krieges sind auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung | |
| noch weit verbreitet. Das fängt im Schulunterricht an. | |
| Stasi-Historiker Kowalczuk im Interview: „Ich hatte immer ’ne große Fresse… | |
| Ilko-Sascha Kowalczuk legte sich als 14-Jähriger mit den DDR-Institutionen | |
| an. Heute arbeitet er bei der Stasiunterlagenbehörde. Der Fall Holm ging | |
| ihm nahe. |