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# taz.de -- 30 Jahre nach dem Mauerfall: Echo an den Mauern in den Köpfen
> Denkmuster des Kalten Krieges sind auch 30 Jahre nach der
> Wiedervereinigung noch weit verbreitet. Das fängt im Schulunterricht an.
Bild: Mauern im Kopf: Kann man sie überwinden?
Eigentlich war mit dem Fall der Mauer auch die Hoffnung verbunden,
Gegensätze zwischen Ost und West fänden ein Ende. Zunächst schien die
Freude groß über die Wiedervereinigung Deutschlands und das Zusammenwachsen
Europas. Doch die Neugier auf den Osten hat sich vielerorts wieder
verflüchtigt. Wem die Klischees und Vorurteile aus dem Kalten Krieg noch in
den Ohren klingen, der glaubt heute ein zunehmend lautes Echo zu hören, als
sei die Mauer in den Köpfen stehen geblieben.
Während in Gender- oder Migrationsfragen heute ganz selbstverständlich
Debatten darüber geführt werden, welche Worte vielleicht angemessener sein
könnten als die, die bislang benutzt werden, fehlt merkwürdigerweise eine
Diskussion darüber, ob wir nicht mehr als 30 Jahre nach Ende des Kalten
Krieges dessen Denkmuster endlich ablegen sollten.
Vor allem als moralische Kategorie sollte die Beschwörung des „Westens“
eigentlich längst ausgedient haben, spätestens seit dem Einzug von
US-Präsident Donald Trump in das Weiße Haus. Das Wort „Osteuropa“ taugt n…
noch wenig, zumal die meisten Staaten des ehemaligen Ostblocks seit 2004
Mitglied der Europäischen Union sind, aber keineswegs eine einheitliche
Gruppe bilden.
Mit Blick auf das Gebiet der früheren DDR stellt sich längst die Frage, wen
wir heute eigentlich meinen, wenn von „Ossis“ oder „Ostdeutschen“ die R…
ist. Sind es diejenigen, die nach dem Ende der DDR in ihrer Region
geblieben sind? Ist damit nur die Generation gemeint, die 1990 volljährig
war, oder auch deren Nachkommen? Was ist mit Menschen, die schon seit
Jahrzehnten in den alten Bundesländern leben, aber davor in der DDR
sozialisiert wurden? Wen zählen wir dazu und wen rechnen wir raus?
## Die Zeit richtet es nicht
Leute aus dem Westen seien nie sehr vertraut mit der Geschichte der
Menschen im Osten gewesen, sagt der Osteuropa-Historiker [1][Karl
Schlögel.] „Es hat einen gewissen ausgleichenden Fortschritt in den letzten
30 Jahren gegeben, aber der generelle Mangel, das Fehlen von Kenntnissen,
der Mangel an Einfühlung ist geblieben.“ Um diese Asymmetrie zu überwinden,
brauche es eben Zeit, meint Schlögel mit Blick auf die östliche Hälfte
Europas.
Doch Zeit allein wird es nicht richten – im Gegenteil. Nach der Finanzkrise
2008 und der Flüchtlingskrise 2015 scheinen sich Gegensätze und
Missverständnisse wieder zu vertiefen. Auch aktuelle Ereignisse, [2][so
jüngst in Thüringen], legen offen, wie gering das Verständnis für regionale
Vorgänge ist, wenn sie sich im Osten Deutschlands ereignen. Da stilisieren
zahlreiche Kommentatoren Thüringen – und damit verbunden oft gleich den
ganzen deutschen „Osten“ – zur ständigen Problemzone einer ansonsten
funktionierenden Demokratie.
Dabei war es doch vor allem die Bundes-CDU in Berlin, die diese Krise
entfachte und den Erfurter Parteifreunden verordnen wollte, wie sie sich zu
verhalten hätten. Auch die AfD ist keinesfalls eine ostdeutsche Partei,
zumal ihre Parteispitze und prominente Politiker wie Alexander Gauland und
Björn Höcke überwiegend aus dem Westen kommen. Dennoch tragen die meist
westdeutsch geprägten Journalisten und Medien dazu bei, ein Bild zu
zeichnen, als liefe allein im Osten einiges schief. Den trauriger Höhepunkt
lieferte das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit seinem
provozierenden Titel „So isser, der Ossi“, der im Sommer 2019 vielleicht
die Gefühlslage vieler kopfschüttelnder westdeutscher Leser traf, aber in
Kauf zu nehmen zu schien, ostdeutsche Leser abzuschrecken.
Dabei wäre für das Zusammenwachsen der deutschen Gesellschaft genau das
Gegenteil wichtig: Mehr Interesse und Neugier, aber auch
Gesprächsbereitschaft und Verständnis für unterschiedliche Lebenswege und
Befindlichkeiten – nicht nur für das Gebiet der früheren DDR, sondern der
Blick sollte sich im gemeinsamen Europa auch in Richtung Ostmittel- und
Südosteuropa viel stärker erweitern.
## Doppelte Transformation
Gerade im Vergleich Ostdeutschlands mit anderen Teilen des früheren
Ostblocks werden Unterschiede und Ähnlichkeiten der Erfahrungen oftmals
deutlicher. Denn einerseits war die ostdeutsche Entwicklung kein
Sonderfall, sondern ist in weiten Teilen vergleichbar mit dem, was auch
Ungarn, Polen oder Tschechen und Slowaken nach den Wendezeiten
durchgestanden haben. Auch dort erlebten die Menschen eine doppelte
Transformation von der kommunistischen Diktatur zur parlamentarischen
Demokratie und von der Plan- zur Marktwirtschaft. Für einige Menschen
bedeutete das neue Chancen, für andere Orientierungslosigkeit und den
Verlust des Arbeitsplatzes.
Ein gängiges Interpretationsmuster lautet, die DDR-Bürger hätten es im
Vergleich zu den Menschen in Ostmitteleuropa sehr viel leichter gehabt,
weil die Bundesrepublik mit ihrer D-Mark bereitstand und das Gebiet in ihr
Wirtschaftssystem integrierte. Wahr ist aber auch, dass die als
Vorzeigewirtschaft im Ostblock geltende DDR-Wirtschaft 1990 mit der
Wirtschafts- und Währungsunion eine radikale Schocktherapie erlebte. Zwar
ermöglichte der Umtausch in D-Mark ebenso wie die Übertragung der Renten
eine gewisse Abfederung, aber das Ausmaß und die Schnelligkeit der
Deindustrialisierung weiter Teile Ostdeutschlands und die Rolle der
Treuhand stürzten viele Menschen ins Unglück.
Hinzu kommt, dass diese Entwicklung von einer massiven Entwertung des
bisherigen früheren Lebens begleitet wurde, die sich in vielen Biografien
tief eingegraben hat. Sichtbar eroberten westdeutsche Eliten die
Schlüsselstellungen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft auf dem Gebiet
der früheren DDR. Viele Ostdeutsche versprachen sich von der Übersiedlung
in den Westen des Landes bessere Möglichkeiten und wagten dort einen
Neuanfang – allerdings oft eher am unteren Ende der Karriereleiter. Nach
der Wiedervereinigung hat fast ein Viertel der Bevölkerung Ostdeutschland
verlassen. Der Zuzug aus der anderen Richtung hat den Niedergang vieler
Dörfer und kleinerer Städte kaum aufhalten können.
Während es für viele Menschen in den anstrengenden Nachwendejahren weder
Zeit noch Kraft gegeben hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen, scheint
heute die Frage der eigenen Identität umso drängender. Viele Menschen im
Osten beginnen erst jetzt damit, ihre eigenen Lebensgeschichten in die
Betrachtung der „Wendejahre“ stärker einzubringen, neu zu bewerten und zu
diskutieren. Dabei stellen sie fest, dass die ostdeutsche Geschichte nach
wie vor in der gesamtdeutschen Geschichte wenig vorkommt und zwischen dem
gängigen Narrativ und dem eigenen Erleben große Lücken klaffen. Die im
Oktober 2019 gegründete Initiative „Wir sind der Osten“ versucht nicht nur
dem Klischee des „rechten Jammer-Ossis“ etwas entgegenzusetzen, sondern
Ostdeutsche bewusst sichtbarer zu machen, die ihre Zukunft in diesem Land
positiv gestalten.
## Demographische Panik
In der Flüchtlingskrise 2015 schienen die Reaktionen von Ostdeutschen denen
der Ostmitteleuropäer ähnlicher zu sein als der Willkommenskultur vieler
Westdeutscher. Während in der Bundesrepublik über Jahrzehnte Erfahrungen
mit unterschiedlichen Migrationswellen gesammelt wurden, fehlte diese
Erfahrung in der DDR, ebenso wie in [3][Polen, Tschechien oder in Ungarn].
Auch war die Ablehnung von Neuankömmlingen schon deshalb viel stärker, weil
die Beunruhigung wegen der Zuwanderung Regionen befiel, die selbst enorme
Abwanderungswellen erlebt haben. In ihrem Buch „Das Licht, das erlosch“
schreiben die Politologen Ivan Krastev und Stephen Holmes sehr richtig:
„Die demographische Panik in Mittel- und Osteuropa speist sich vermutlich
aus einer Kombination aus alternder Bevölkerung, niedrigen Geburtenraten
und einem endlosen Abwanderungsstrom.“ In Ostdeutschland lag die
Abwanderung zeitlich zwar etwas früher, dürfte aber in vergleichbarer Weise
die Angst vor fremden Zuwanderern mit befördert haben.
Aber nicht nur in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa verfangen illiberale
und rechtspopulistische Strömungen, sondern auch in anderen Ländern wie in
Italien oder in Frankreich. Der Entschluss Großbritanniens, die Europäische
Union zu verlassen, animiert dagegen weder Polen noch Ungarn, dem Brexit
nachzueifern. Auch daran zeigt sich, dass diese Kategorisierung die
Problemlagen nur unzureichend beschreibt.
## Geschichtsunterricht müsste reformiert werden
Krastev und Holmes kommen deshalb zu folgenden Schlüssen: „Das
antiwestliche Ethos, das heute in den postkommunistischen Gesellschaften
herrscht, kann man unserer Meinung nach viel besser mit diesem Mangel an
Alternativen erklären als etwa mit der Anziehungskraft einer autoritären
Vergangenheit oder einer historisch verwurzelten Abneigung gegen den
Liberalismus.“ Schon die arrogante Feststellung, dass es keinen anderen Weg
gebe, habe der Welle aus populistischer Fremdenfeindlichkeit, die sich in
Mittel- und Osteuropa aufschaukelte, ein eigenständiges Motiv gegeben. Wir
müssen also raus aus dieser vermeintlichen Alternativlosigkeit und
gemeinsam nach Lösungen für die Zukunft suchen.
Es ist deshalb wichtig, dass wir uns stärker als ein Gesamtdeutschland und
ein Gesamteuropa begreifen. Dabei wäre es überfällig, die Lehrpläne der
Bundesländer im Fach Geschichte zu reformieren, damit sie sich nicht auf
deutsche Nationalgeschichte und westeuropäische Ereignisse beschränken. Im
Unterricht sollte auch osteuropäische Geschichte als Teil der europäischen
Geschichte viel mehr vorkommen, damit nicht nur die Französische
Revolution, sondern auch die polnischen Teilungen vermittelt werden.
Der Kanon muss auch um die jüngste Zeitgeschichte und die Geschichte der
DDR erweitert werden. Nur so lassen sich Grundlagen für ein tieferes
Verständnis schaffen, bei dem Europa in seiner Vielfalt im Blick ist und
für die Zukunft zusammenhält.
15 Mar 2020
## LINKS
[1] /Auszeichnung-in-Leipzig-fuer-Karl-Schloegel/!5492051
[2] /Thueringen-und-die-Berliner-CDU/!5658310
[3] /Kommentar-Visegrad-Staaten/!5605346
## AUTOREN
Gemma Pörzgen
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