| # taz.de -- Virus schlägt Mauerfall: Hegemoniale Denkmuster | |
| > Mein unpassendes Betroffenheitsding: Weil jenseits des Ost-West-Kosmos | |
| > sei das Virus einschneidender als der Mauerfall – und betreffe mehr | |
| > Menschen. | |
| Bild: Ein medial vermittelter Mauerfall, nicht so bedeuted | |
| Relativ zu Anfang dieser Dreckspandemie hörte ich bei der Verrichtung | |
| unbezahlter Carearbeit (Mittagessenkochen) Küchenradio. Das Kind war | |
| vermutlich in väterlicher Begleitung Steine sortieren auf der Straße (oder | |
| was wir sonst so gespielt haben, als die Spielplätze zu waren). Da erklärte | |
| im Deutschlandfunk ein Historiker, Corona sei historisch ein größerer | |
| Einschnitt als der Mauerfall, den hätten „die meisten Menschen“ ja nur „… | |
| den Medien erfahren“. | |
| Ich war so empört/ perplex darüber, von jemandem, dessen Beruf es ist, | |
| Erfahrungen und Ereignisse zu gewichten, aufzuzeichnen und in die | |
| Bibliothek unseres kulturellen Gedächtnisses einzuordnen, aus einer | |
| Mehrheit, zu der ich mich ganz selbstverständlich zugehörig gefühlt hatte, | |
| ausgeschlossen zu werden, dass ich einen Tweet absetzte, der mit dem Ausruf | |
| endete: „Endlich mal wieder in einem Leitmedium als Mensch zweiter Klasse | |
| bezeichnet. Hach!“ Woraufhin ein befreundeter Kollege antwortete, er fände | |
| mein Betroffenheitsding gerade unpassend, jenseits des Ost-West-Kosmos sei | |
| das Virus einschneidender als der Mauerfall – und betreffe mehr Menschen. | |
| Abgesehen davon, dass 1989 nicht nur die Berliner Mauer gefallen, sondern | |
| ganz nebenbei eine Weltordnung zusammengebrochen ist, hieß das im Klartext: | |
| Nu hab dich mal nicht so! In der Krise können wir uns den Luxus nicht | |
| leisten, andere Lebenserfahrungen in Betracht zu ziehen, als die eine, die | |
| hierzulange als Maß und Normalität gilt. „Nee, hast recht“, schrieb ich | |
| zurück, „jetzt ist echt nicht die Zeit, auf hegemoniale Denkmuster | |
| hinzuweisen. Jetzt sollte einfach ganz klar das Recht des Stärkeren gelten. | |
| Vielleicht kannst du mir das ja bei Gelegenheit noch mal erklären?“ | |
| Die kollektive Erfahrung der Ostdeutschen ist offenbar auch nach dem | |
| Mauerfall-Jubiläumsjahr nur eine Randerzählung. | |
| ## Ohne Nachttopfzwang | |
| In Interviews zu meinem neuen Buch „Hufeland, Ecke Bötzow“ (ein Wenderoman | |
| aus Kinderperspektive) wurde ich oft gefragt, wie es sein könne, dass diese | |
| Kindheit, die dort beschrieben wird, so normal sei, idyllisch geradezu und | |
| gar nicht gezeichnet von Kaltem Krieg, Stasiknast und Nachttopfzwang. Ich | |
| habe die Frage anfangs nicht verstanden. Mir war die Irritation so fremd, | |
| die dahintersteht. Die Irritation derjenigen, für die ein Leben in einer | |
| gesellschaftlichen Realität, die sich von der ihren unterscheidet, immer | |
| nur als Abweichung von der Norm vorstellbar ist, und zwar zum Schlechteren. | |
| Das Bild der DDR ist heutzutage geprägt von ZDF-Fernsehproduktionen, an | |
| denen meist ausschließlich Westdeutsche mitgewirkt haben. DDR-Bürger sind | |
| darin entweder Stasiopfer oder Stasispitzel, wie sich die Darstellung des | |
| NS zunehmend auf KZ-Häftlinge und SS-Offiziere reduziert. | |
| Die Darstellung beider Epochen liegt in der Unterhaltungsindustrie auch oft | |
| irritierend nah beieinander. DDR-Straßenszenen ähneln denen von jüdischen | |
| Gettos, 1.-Mai-Demonstrationen sehen aus wie Reichsparteitage. Alltag und | |
| Langeweile haben in diesen Erzählungen keinen Platz. Denn Alltag darf es | |
| nur in der Sicherheit der eigenen Gegenwart geben, in dem, womit der Leser | |
| und die Zuschauerin sich auskennen. | |
| „Das Wichtigste ist, dass du immer sagst, dass es schlimm war und wie froh | |
| du über die Wiedervereinigung bist“, erklärte mir meine Tante Erna. | |
| Und ich erklärte den Interviewern, dass es eben eine Kindheit war wie jede | |
| andere auch, wo die wichtigsten Parameter Eltern, Freunde und Schule sind, | |
| die einen zuverlässigen Rahmen schaffen, der dem Kind Spielraum bietet. | |
| ## Das Brennglas Schule | |
| Schule ist das Brennglas, durch das jede Gesellschaft ihre Normen an die | |
| nächste Generation weitergibt. In der Schule werden die Grundlagen | |
| vermittelt. Was aber als Grundlagen angesehen wird, gibt Auskunft über die | |
| Welt außerhalb der Bildungseinrichtung. | |
| Vielleicht staunen wir in 50 Jahren darüber, was wir den Kindern heute in | |
| der Schule beibringen. Wenn sie irgendwann mal wieder hingehen dürfen. | |
| Ist die Wende 1989/90 im Lehrplan eigentlich immer noch fakultativer | |
| Schulstoff? | |
| 27 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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