# taz.de -- Gärtnern ist Gentrifizierung: Tante Erna, der Garten und ich | |
> Rasenkante mit dem Lineal gezogen auf der einen Seite. Auf der anderen | |
> eine Ratte, die hinter der Regentonne wohnt. Übers Gärtnern – und das | |
> Leben. | |
Bild: Könnte man im Garten beobachten: eine Amsel füttert ihr Junges (rechts) | |
Solange ich denken kann, wollte Tante Erna einen Garten. „Ach“, seufzte | |
sie, „wenn ich einen Garten hätte, dann wär mein Leben schön. So ’n | |
bisschen umgraben, Blümchen gießen, Unkraut zupfen. Und abends läg ich im | |
Liegestuhl und betrachtete, was ich geschaffen hätte.“ | |
Seit zwei Jahren haben wir einen Garten, und Tante Erna hört nicht auf zu | |
klagen. | |
„Scheiß Natur! Jetzt haben die Schnecken wieder eine Blume zerfressen, das | |
war meine Lieblingsblume, die Regentonne ist kaputt und der Nachbar hat | |
auch schon wieder geschimpft, weil unsere Hecke zu hoch ist!“ | |
Die Parzelle unseres Nachbarn zur Linken sieht aus, als wäre sie aus einem | |
Garten-Internetspiel in die Wirklichkeit gebeamt worden. Rasenkante mit dem | |
Lineal gezogen, kein Unkraut, keine Schnecken, kein welkes Blatt, nirgends. | |
Er hat sogar ein Vogelhäuschen, wo die zierlichsten Vögelein ein und aus | |
fliegen. Bei uns wohnt eine Ratte hinter der Regentonne (vermutlich ist sie | |
deshalb kaputt). Und Tante Erna jammert: „Der Garten frisst mich auf.“ | |
## Alles ist Pflicht, nichts mehr Freude | |
Es ist nicht so einfach mit meiner Tante momentan. Sie ist seit einem Jahr | |
in Rente und kommt nicht zur Ruhe. Die zehn Jahre alten, angebrochenen | |
Scheuermittelflaschen müssen weggeräumt werden, die Wohnung aufgeräumt, der | |
Kaffee gekocht. Alles ist Pflicht, nichts mehr Freude. | |
Letzten Montag wurde die Tante meiner Tante zu Grabe getragen. Sie war fast | |
hundert Jahre alt. In der Trauerrede fanden der Bruder der Verstorbenen, | |
ihr Gatte und Martin Luther Erwähnung. Sonst niemand. Alle drei Männer | |
hatte sie lange überlebt. Alles kann, nichts muss, lautet das | |
althergebrachte Motto frivoler Lustbarkeiten. Der Leitspruch meiner Familie | |
lautet eher: Alles ein Muss, bis keiner mehr kann. Puristischer | |
Protestantismus gepaart mit jüdischer Leidenskultur. Wundervolle Mischung. | |
Ich hab wegen Corona wieder mit Therapie begonnen. Der Lockdown hatte mich | |
mit mir selbst, meinen Neurosen und meiner Familie eingesperrt, da bekam | |
ich Panikattacken und deswegen Schuldgefühle usw. | |
Ich dachte ja, die Psychotherapeuten wären total überrannt, weil es allen | |
so geht wie mir, aber meine Therapeutin meinte: Noch sind die Leute wütend, | |
die Depression kommt später. | |
Der Garten hört nie auf. Er wächst, bis er stirbt und verrottet. Der Garten | |
sagt nie Danke. Und manchmal denkst du, er will dich verarschen. | |
## Mensch gegen Natur | |
Meine Tante sieht den Garten als Kampf. Mensch gegen Natur. Ich denke, | |
gärtnern ist Gentrifizierung. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins | |
Kröpfchen. | |
Die Tante pflanzt, der Garten wächst, ich schneide ab. So ist die | |
Arbeitsteilung. | |
Letzte Woche hab ich meine erste Hecke geschnitten. Mit der Heckenschere | |
auf der Haushaltsleiter. Ich musste die ganze Zeit an Cluedo denken. Das | |
Brettspiel. Und ob der Internet-Rasenkanten-Nachbar mir wohl zu Hilfe eilen | |
würde, wenn ich das Gleichgewicht verlöre und von der Leiter hinab | |
bäuchlings in das Mordwerkzeug stürzte. Bauchwunde. Nicht gut. | |
Als ich Pause machte, um Kaffee zu trinken, entdeckte ich das Amselnest. | |
Drei Amselküken reckten die Hälse, Vater Vogel brachte Würmer, und Mutter | |
Vogel breitete schützend die Fittiche. | |
Familie. Kommste nicht gegen an. Ich hab an dem Tag nichts mehr gearbeitet. | |
26 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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