# taz.de -- DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz gestorben: Ein fantasievoller Pra… | |
> Der frühere DDR-Bürgerrechtler und langjährige Grünen-Abgeordnete Werner | |
> Schulz ist tot. Deutschland verliert mit ihm eine wache, kritische | |
> Stimme. | |
Bild: Werner Schulz, vor der Presse 2005 | |
DRESDEN taz | Wenn Werner Schulz seinen eigenen plötzlichen Tod hätte | |
kommentieren müssen, hätte er ihn vielleicht mit einem lakonisch-ironischen | |
„Es geht alles seinen Gang“ begonnen, in Anspielung auf eine gängige Formel | |
in der DDR, die „Geht alles seinen sozialistischen Gang“ lautete. Dieser | |
Volkswitz war Werner Schulz zu eigen, er konnte glänzend pointieren. Was | |
der 1950 geborene Zwickauer besser konnte als die meisten Sachsen, war die | |
Gabe, Verhältnisse klar zu analysieren. Insofern war er wirklich ein | |
politisches Talent und auch sich selbst gegenüber kompromisslos, so | |
kumpelhaft es sich andererseits mit ihm plaudern ließ. | |
Dass er ausgerechnet am Mittwoch, dem 9. November, weit vor seiner | |
statistischen Lebenserwartung sterben musste, mag wie eine Ironie des | |
Schicksals erscheinen. Denn der Mauerdurchbruch 1989 war auch indirekt eine | |
Folge seines [1][bürgerschaftlichen Engagements in der DDR] und zugleich | |
Ausgangspunkt seiner öffentlichen politischen Laufbahn, zunächst in der | |
Noch-DDR, dann im vereinigten Deutschland und in Europa. | |
In diesem Milieu, am Rande einer Veranstaltung des Bundespräsidenten zu | |
diesem ambivalenten Datum deutscher Geschichte, brach Werner Schulz vor | |
seiner geplanten Rede zusammen. Der Arzt Josef Schuster, Präsident des | |
Zentralrats der Juden, bemühte sich vergeblich um ihn. | |
Es wäre mit Gewissheit eine gehaltvolle Rede gewesen. Denn Fensterreden | |
liebte der fantasievolle Pragmatiker nicht. Sein Abiturjahr 1968 war | |
zugleich das der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings durch die | |
Rote Armee und mag den Beginn seiner bewussten Werteorientierung markieren. | |
Die führte ihn in die vor allem kirchlich geprägte Friedens-, | |
Menschenrechts- und Umweltbewegung. | |
## Ein scharfer Kritiker des russischen Imperialismus | |
Dafür zahlte auch er damals einen Preis. Nach Wehrersatzdienst als | |
Bausoldat, seinem Einsatz für den ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann | |
1976 und öffentlichem Protest gegen den sowjetischen Truppeneinmarsch in | |
Afghanistan wurde ihm 1980 die Stelle an der Berliner Humboldt-Universität | |
gekündigt. Dort wollte der studierte Lebensmitteltechnologe promovieren. | |
Am Mauerfalltag des 9. November 1989 wirkte er bereits als Kontaktperson | |
des Neuen Forums in Sachsen, das später im Bündnis 90 aufging. Sein waches, | |
kritisches Bewusstsein verließ ihn mit der deutschen Vereinigung | |
keineswegs. So hätte er sich lieber eine gemeinsame neue Verfassung | |
gewünscht. | |
Werner Schulz darf als Motor der Vereinigung mit den westdeutschen Grünen | |
1993 gelten. Von 1990 bis 2005 saß er im Bundestag und scheute keinen | |
Dissens mit seiner Partei. So plädierte er früh für offene Bündnisoptionen | |
oder verweigerte während der ersten Regierungsbeteiligung der Grünen den | |
Hartz-IV-Gesetzen seine Zustimmung. Die Partei „bedankte“ sich 2005 mit | |
einem aussichtslosen Listenplatz. 2009 bis 2014 [2][wirkte er im | |
Europaparlament.] | |
In seinem Sterbejahr aber war Werner Schulz in seiner beinahe schon | |
ätzenden [3][Verurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine] wieder | |
„ganz auf Linie“. Für seine Verdienste wurde er mehrfach geehrt, unter | |
anderem zweimal mit dem Bundesverdienstkreuz. Seine unbestechliche und gar | |
nicht ostalgische Ost-Stimme wird fehlen. | |
9 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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