| # taz.de -- Friedliche Wende in der DDR: Warum kein Schuss fiel | |
| > Wie führende SED-Mitglieder im Oktober 1989 dafür sorgten, dass die | |
| > Proteste gegen das Regime nicht in einem Blutbad von Polizeikugeln | |
| > endeten. | |
| Bild: Eskalation in Berlin: Die Polizei geht am 7. Oktober 1989 gegen Oppositio… | |
| Dresden/Leipzig taz | Die SED-Führung in Berlin provoziert selbst die | |
| Eskalation. Am Dienstag, dem 3. Oktober, setzt sie den pass- und visafreien | |
| Verkehr in die benachbarte Tschechoslowakei aus. Menschen, die dem Staat | |
| den Rücken kehren wollen, ist damit die Flucht über die offene ungarische | |
| Grenze oder in die Prager BRD-Botschaft versperrt. Von Prag aus fährt schon | |
| am 1. Oktober heimlich ein Zug mit DDR-Flüchtlingen in den Westen. Am 4. | |
| Oktober sollen ihm 3 von insgesamt 14 weiteren Zügen folgen, die auf | |
| Beschluss der DDR-Führung über Dresden und nicht direkt nach Bayern | |
| geleitet werden. | |
| Aus der ganzen Republik pilgern daraufhin Fluchtwillige nach Dresden in der | |
| Hoffnung, auf einen der Züge aufspringen zu können. Nach einer ersten | |
| Straßenschlacht zwischen ihnen und der Polizei am 3. Oktober versuchen am | |
| Abend des folgenden Tages mindestens 5.000 DDR-Bürger den Hauptbahnhof zu | |
| stürmen. Kaum eine Glasscheibe bleibt heil, Kioske werden zerstört, ein | |
| Polizeiauto gerät in Brand, Demonstranten und Polizisten werden verletzt. | |
| Die Eskalation ist da. | |
| Die Reden 30 Jahre nach dem friedlichen Umbruch in der DDR preisen die | |
| Helden der Straße. Aber kaum jemand stellt die Frage, warum es bei | |
| Verhaftungen und Polizeiprügeln blieb, warum kein Schuss fiel, nicht die | |
| „chinesische Lösung“ des Massakers am Tiananmenplatz im gleichen Jahr | |
| durchgesetzt wurde. Was geschah in den Oktobertagen 1989 hinter den | |
| Kulissen auf verschiedenen Leitungsebenen der Staatspartei SED? | |
| Ganz oben im fünften Stock des Liebknecht-Hauses der Linken in Berlin | |
| trifft man 30 Jahre später den Vorsitzenden des Ältestenrats der Partei in | |
| einem schmucklosen Büro. 91 Jahre zählt Hans Modrow, der Ischias plagt ihn, | |
| und er wirkt nicht mehr ganz so drahtig wie einst. Aber die Erinnerung an | |
| jene entscheidenden Tage des Herbstes 1989 funktioniert stundengenau. | |
| ## Hans Modrow: „Wir hatten ja wohl keinen Ernstfall“ | |
| Erst am Vormittag dieses 4. Oktober, einem Mittwoch, habe ihn ein Telegramm | |
| aus Berlin über die Zugfahrten informiert, berichtet Modrow, immer noch | |
| verärgert wirkend. Um 17 Uhr rief ihn der hilflose DDR-Verkehrsministers | |
| Otto Arndt an. Die Transportpolizei sei mit dem Andrang der Fluchtwilligen | |
| überfordert, die Bereitschaftspolizei bereits komplett mobilisiert. Den | |
| Einsatz der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, paramilitärischer | |
| Streitkräfte aus den Betrieben, lehnte Modrow, der als als Erster Sekretär | |
| der SED-Bezirksleitung eine Schlüsselstellung einnahm, ab. Auch die | |
| Bezirkseinsatzleitung habe er in diesen und den folgenden Tagen nicht | |
| zusammengerufen. „Wir hatten ja wohl keinen Ernstfall mit Krieg“, | |
| bekräftigt Modrow seine damalige Haltung. | |
| Wohl aber greift er das Ansinnen von Volkspolizei und Staatssicherheit auf, | |
| die Nationale Volksarmee um Hilfe zu bitten, und wendet sich damit an | |
| Armeegeneral Heinz Kessler. Tatsächlich werden Soldaten zur Sicherung der | |
| Gleisanlagen eingesetzt, allerdings nicht gegen Demonstranten. „Es durfte | |
| nicht zur Katastrophe, etwa durch Unfälle, kommen“, sagt Modrow heute wie | |
| damals. „Die überfüllten Züge mussten auf jeden Fall durchfahren!“ | |
| In den folgenden Tagen steht in Dresden der Ausgang der allabendlichen | |
| Proteste auf der Kippe. Völlig ungewohnt ist den Protestierenden das | |
| Erscheinungsbild der Bereitschaftspolizisten mit Visierhelmen, | |
| Gummiknüppeln und Schilden, auf die sie wie römische Legionäre vor einem | |
| Angriff rhythmisch schlagen. Wer nicht schnell genug rennt, gerät in | |
| Gefahr, brutal verhaftet zu werden. | |
| Spätestens jetzt fühlt die gesamte DDR, dass [1][der 40. Geburtstag der | |
| Republik] am Samstag, dem 7. Oktober, zu einem Kulminations- und | |
| Entscheidungstag werden könnte. Im vogtländischen Plauen werden an diesem | |
| Tag etwa 15.000 Demonstranten durch Wasserwerfer der Feuerwehr | |
| auseinandergetrieben. „Wir hatten wirklich Angst, auch vor Kampfgruppen und | |
| Militär“, erinnert sich der spätere Landessprecher der sächsischen | |
| Bündnisgrünen, Volkmar Zschocke. an die Demonstration von 800 Bürgern in | |
| Karl-Marx-Stadt. Die Polizei löst die Demo auf. Vor allem aber werden die | |
| gespenstischen Jahrestagsfeiern in Berlin von heftigen Protesten begleitet. | |
| Massenfestnahmen folgen. | |
| ## Egon Krenz: „Politische Probleme politisch lösen“ | |
| 30 Jahre später ist ein 82-Jähriger ein viel gefragter Interviewpartner. | |
| Das sprichwörtliche Grinsen sucht man heute vergeblich an Egon Krenz, der | |
| am 18. Oktober 1989 Staats- und Parteichef Erich Honecker nachfolgte. Nach | |
| seinen Erinnerungen könnte eine Besprechung bei Staatssicherheitsminister | |
| Erich Mielke am Sonntag, dem 8. Oktober, unter Politbüromitgliedern und | |
| Generälen die Weichen für einen friedlichen Verlauf der Umwälzungen | |
| gestellt haben. Erst einen Tag zuvor war Krenz ein Schreiben Erich | |
| Honeckers an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen bekannt geworden. Darin | |
| verlangte er, dass „feindliche Aktionen im Keim erstickt werden müssen“. | |
| An diesem Vormittag sitzt den führenden Genossen noch die Blamage der | |
| Berliner Proteste in den Knochen. Am Ende der Beratung zieht Krenz nach | |
| eigener Aussage eine mit wenigen anderen abgestimmte Erklärung für das | |
| Politbüro der SED aus der Tasche. Tenor: „Politische Probleme müssen auch | |
| mit politischen Mitteln gelöst werden!“ Applaus, ein Affront gegen | |
| Honecker. „Von diesem Moment an wird es keine gewaltsamen | |
| Auseinandersetzungen mehr geben“, schreibt Krenz in seinem Buch „Herbst | |
| 89“. | |
| Im Gespräch behauptet er, neben entsprechenden Anweisungen an alle | |
| Stasi-Bezirksverwaltungen habe auch der damals schon recht senile Mielke | |
| den Leipziger Stasi-Bezirkschef Manfred Hummitzsch kontaktiert, um am 9. | |
| Oktober ein Blutvergießen zu vermeiden. | |
| Vor Leipzig aber geht die SED in Dresden noch einen Schritt weiter und | |
| ermöglicht erstmals den Dialog zwischen dem Volk und seinen angeblichen | |
| Vertretern. Mit der Einkesselung von etwa 4.000 Demonstranten droht dort am | |
| Abend des 8. Oktober eine weitere Eskalation. Der damalige Kaplan an der | |
| Katholischen Hofkirche, Frank Richter, und ein evangelischer Amtskollege | |
| vermitteln zwischen den Demonstranten und aufgeschlossenen Polizisten. | |
| Spontan und zufällig wird die „Gruppe der 20“ ausgewählt, um am nächsten | |
| Morgen mit dem Dresdner Oberbürgermeister zu sprechen. | |
| ## Berghofer: Reden mit der Oppostion | |
| Der heißt zu dieser Zeit Wolfgang Berghofer, wird zuweilen „Bergatschow“ | |
| genannt und gilt als Reformer in der SED. Heute arbeitet der 76-Jährige als | |
| Unternehmensberater in Berlin. Bei ihm sind an diesem Sonntagabend 1989 | |
| Landesbischof Johannes Hempel, Oberlandeskirchenrat Reinhold Fritz und | |
| Superintendent Christof Ziemer erschienen. Sie bitten um genau jene | |
| Deeskalation, die sich basisdemokratisch gerade auf der Prager Straße | |
| vollzieht. Später dürfen sie per Megafon zu Polizei und Bürgern sprechen. | |
| Berghofer stimmt sich pflichtgemäß im Nachhinein mit SED-Bezirkschef Hans | |
| Modrow ab, nachdem dieser eine „Fidelio“-Inszenierung an der Semperoper | |
| verlassen hat. Der hält ihm zu dieser Zeit den Rücken frei. „Wir schätzen | |
| die Lage ein und fragen nicht in Berlin nach“, begründet Modrow heute seine | |
| Alleingänge. Das heißt nicht, dass er plötzlich vom Glauben an den | |
| Sozialismus abgefallen wäre. In der Nacht erarbeiten er und sein | |
| Mitarbeiter Werner Kaulfuß eine Handreichung für Berghofers Begegnung mit | |
| der Gruppe der 20 am Folgetag. An die hält sich der Oberbürgermeister aber | |
| nur bedingt, obschon er bereits morgens um 6 Uhr bei der Bezirksleitung | |
| antanzen muss. Ab 9 Uhr reden dann erstmals Vertreter der Straßenproteste | |
| und Berghofer als Vertreter der Staatsmacht miteinander. | |
| In Leipzig weiß man noch nichts von der Dresdner Wendung. Seit Wochen | |
| finden dort die Montagsdemonstrationen immer mehr Zuspruch. Pfarrer | |
| Christoph Wonneberger hat wegen der zu erwarteten Rekordteilnehmerzahlen | |
| einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit verbreitet. Ungleich größere Wirkung | |
| erreicht aber ein Aufruf der schon länger agierenden Gruppe der sechs, den | |
| Gewandhauskapellmeister Kurt Masur über den Sender Leipzig und den | |
| Stadtfunk vorträgt. Friedlich und unbehelligt stellen am Montag, dem 9. | |
| Oktober, 70.000 Bürger die Weichen für die Unumkehrbarkeit des Aufbruchs in | |
| der DDR. | |
| ## Kurt Meyer: „Das kann man nicht zulassen!“ | |
| Drei Akteure dieser Sechsergruppe waren Sekretäre der SED-Bezirksleitung. | |
| Als Kopf galt der für Kultur zuständige Kurt Meyer. 30 Jahre später | |
| schildern er und sein damaliger Genosse Roland Wötzel die Ratlosigkeit des | |
| amtierenden ersten Sekretärs der Bezirksleitung, Helmut Hackenberg. Der | |
| versucht per Telefon von Egon Krenz Handlungsanweisungen aus Berlin zu | |
| bekommen. Aber Krenz lässt ihn hängen, während ihn die Sekretäre drängen, | |
| alle Einsatzfahrzeuge zurückzuziehen. Mehr als 1.000 Unteroffiziersschüler, | |
| die nach Leipzig mobilisiert werden sollen, verweigern ihren Einsatz. | |
| Achselzuckend resigniert Hackenberg. | |
| Doch die drei SED-Aufsässigen werden am nächsten Tag im Gebäude der | |
| Bezirksleitung unter Hausarrest gestellt. Meyer erhält vom sowjetischen | |
| Generalkonsul das Angebot politischen Asyls in der Sowjetunion. Tatsächlich | |
| fliegt er mit seiner Frau nach Kiew aus, wo er ohnehin eine | |
| Leipzig-Ausstellung eröffnen wollte. | |
| Auf verschiedenen Ebenen haben verantwortungsbewusste SED-Funktionäre die | |
| Vermeidung eines Blutbads über den unbedingten Machterhalt gestellt. 2019 | |
| spricht sogar der damalige Kaplan Frank Richter bei einer Begegnung mit | |
| Egon Krenz anerkennend von der „politischen Intelligenz und Friedfertigkeit | |
| derer, die damals auf der anderen Seite standen“. | |
| Diese Entscheidungen in der ersten Oktoberdekade 1989 hatten natürlich | |
| ihren Vorlauf in den wachsenden Zweifeln an der realen Umsetzung | |
| sozialistischer Ideale auch unter den 2,3 Millionen Mitgliedern der SED. | |
| Das „Durcheinander in Berlin“, wie es Hans Modrow nennt, der Abriss der | |
| Befehlsketten in den Oktobertagen, zeigte die Erosion innerhalb der Partei. | |
| Das Eingreifen sowjetischer Panzer musste nach der Sitzung des Politischen | |
| Beratenden Ausschusses der Warschauer Vertragsstaaten vom Juli 1989 in | |
| Bukarest nicht mehr befürchtet werden, davon war Modrow überzeugt. | |
| KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow verzichtete auf Interventionen. | |
| In Leipzig resümiert der 83-jährige Kurt Meyer: „Wir pochen nicht darauf, | |
| dass wir die friedliche Entwicklung gesichert haben. Wir sagen nur, dass | |
| wir damals unserem Gewissen gefolgt sind, unseren Erfahrungen, unserem | |
| Lebensstil und gesagt haben: Das kann man nicht zulassen!“ | |
| 8 Oct 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Bartsch | |
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