| # taz.de -- Potsdam bekommt keine Förderung mehr: Es liegt nicht mehr im Osten | |
| > Weil sich Potsdam wirtschaftlich zu gut entwickelt, soll es künftig | |
| > weniger Fördergeld geben. Das hat teure Nebenwirkungen für die Stadt. | |
| Bild: Die Geschäfte laufen in Potsdam – für manche sogar etwas zu gut | |
| Berlin taz | Erfolg kann gelegentlich zu ungeahnten Problemen führen, oder | |
| zumindest zu solchen, die man vorher nicht sehen wollte. So ist es | |
| anscheinend der Brandenburger Landeshauptstadt Potsdam ergangen: Sie hat | |
| sich seit Jahren wirtschaftlich so gut entwickelt, dass sie nun aus einem | |
| der wichtigsten Wirtschaftsförderprogramme Deutschlands herausgefallen ist. | |
| Die Stadt hat es sozusagen amtlich bescheinigt bekommen, dass sie 31 Jahre | |
| nach der Wiedervereinigung wirtschaftlich in der Bundesrepublik angekommen | |
| ist – und zwar als einzige Kommune in den fünf nicht mehr so neuen Ländern. | |
| Kein Leipzig, kein Dresden oder Jena kann da mithalten. Potsdam hat sie | |
| alle abgehängt und einige Dutzend Kreise und Städte im Westen gleich mit. | |
| Konkret geht es um das Förderprogramm mit dem eingängigen Titel | |
| [1][„Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“] | |
| (GRW), dessen Fördergebiet regelmäßig neu abgesteckt wird. So wolle es die | |
| EU-Kommission, heißt es zur Erklärung aus dem Bundeswirtschaftsministerium. | |
| 2022 ist es wieder so weit: „Die zuständigen Fachminister von Bund und | |
| Ländern haben im Juni 2021 einvernehmlich den Entwurf der künftigen | |
| Regionalfördergebietskarte beschlossen“, so eine Sprecherin. Nun muss die | |
| EU-Kommission noch zustimmen. | |
| Es geht um viel Geld. Für GRW sind im Bundeshaushalt im vergangenen Jahr | |
| 850 Millionen Euro und in diesem Jahr 918 Millionen Euro eingestellt | |
| worden. 250 Millionen davon kommen aus dem Corona-Konjunkturpaket. „Mit den | |
| GRW-Bundesmitteln werden Ausgaben der Länder in gleicher Höhe | |
| kofinanziert“, heißt es weiter. | |
| ## Irritiert und gekränkt an der Havel | |
| Insgesamt können strukturschwache Regionen in diesem Jahr damit mit rund | |
| 1,8 Milliarden Euro unterstützt werden. Gefördert werden Investitionen | |
| gewerblicher Wirtschaft, die Vernetzung und Kooperation regionaler Akteure | |
| sowie der Ausbau wirtschaftsnaher Infrastruktur. | |
| Unterstützt werden dabei sowohl direkt Unternehmen als auch die Kommunen | |
| durch Zuschüsse sowie weiterführende Finanzierungsinstrumente. GRW gilt als | |
| das zentrale Wirtschaftsförderinstrument für besonders vom Strukturwandel | |
| betroffene Regionen. In allen Bundesländern außer Baden-Württemberg und | |
| Hamburg gibt es geförderte Kommunen. | |
| Doch statt die Sektkorken knallen zu lassen, ist man an der Havel irritiert | |
| und gekränkt. Die Nachricht aus dem Berliner Ministerium hat die | |
| Verantwortlichen im Rathaus kalt erwischt. „Über den Ausschluss Potsdams | |
| aus der neuen GRW-Gebietskulisse waren wir vollkommen überrascht“, | |
| verkündete der Wirtschaftsbeigeordnete Bernd Rubelt (parteilos). Politische | |
| Entscheidungen müssten transparent, berechenbar und umsetzbar sein. „Das | |
| ist hier leider nicht der Fall.“ | |
| ## Gefährdete Projekte | |
| In Potsdam sieht man nämlich die Realisierung oder Fortsetzung wichtiger | |
| Projekte gefährdet. So soll eigentlich die Erweiterung des sogenannten | |
| Science Parks neben dem [2][Universitätsstandort in Golm] auch mit den | |
| GRW-Mitteln unterstützt werden. Bisher hat die Stadt dort schon zwei | |
| Gründerzentren errichtet, damit sich junge Unternehmen von | |
| Absolvent:innen der örtlichen Universität auch gleich vor Ort ansiedeln | |
| – und nicht etwa in Berlin. Nun fordert Potsdam von der Landesregierung | |
| Übergangslösungen für geplante und begonnene Projekte. | |
| Offenbar hatte es zuvor zwischen dem SPD-geführten Brandenburger | |
| Wirtschaftsministerium, das die Entscheidung mitgetragen hat, und dem | |
| SPD-geführten Potsdamer Rathaus Funkstille gegeben. Dieses Geld sei dazu | |
| da, Regionen den Anschluss an stärkere Gebiete in der Bundesrepublik zu | |
| verschaffen, sagte Landesminister Jörg Steinbach im rbb: „Wenn man diesen | |
| Zustand erreicht hat, ist das eigentlich ein Ritterschlag, dass man diesen | |
| Anschluss an strukturstärkere Gebiete geschafft hat. Insofern kann man zu | |
| dieser erfolgreichen Politik der Stadt Potsdam nur gratulieren.“ | |
| Ein paar Wochen später musste er bei einem Auftritt vor Potsdamer | |
| Stadtverordneten Versäumnisse einräumen. Es wäre besser gewesen, wenn er | |
| die Stadtverwaltung vorher über die anstehende Entscheidung informiert | |
| hätte, zitieren ihn die Potsdamer Neuesten Nachrichten. Fragen nach | |
| möglichen Kompensationen beantwortet das Ministerium derzeit nicht. Bis zur | |
| endgültigen Entscheidung der EU-Kommission werde man keine weiteren | |
| Auskünfte erteilen, hieß es auf taz-Anfrage. | |
| Für Potsdam steht viel auf dem Spiel. Aus der GRW-Förderung habe | |
| Brandenburg im Zeitraum 2016 bis 2020 insgesamt 15,1 Millionen Euro für | |
| insgesamt 46 Investitionsvorhaben der gewerblichen Wirtschaft in Potsdam | |
| bewilligt, so das Bundeswirtschaftsministerium. Daneben seien im gleichen | |
| Zeitraum elf Vorhaben zum Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur in | |
| Potsdam mit einem GRW-Zuschuss von zusammen 11,2 Millionen Euro genehmigt | |
| worden. | |
| ## Der Preis des Wachstums | |
| Besonders der Verlust der Zuschüsse für kommunale Investitionen dürfte die | |
| Stadt treffen. Denn bereits durch Änderungen beim Finanzausgleich innerhalb | |
| des Landes Brandenburg erwartet sie für die Jahre 2022 bis 2024 Einbußen | |
| von mehr als 22 Millionen Euro. Zuletzt erwartete der Kämmerer deshalb für | |
| das nächste Jahr ein Defizit von rund 42 Millionen Euro – dabei hatte er | |
| eigentlich das Ziel ausgegeben, Überschüsse zu erwirtschaften. Den Rotstift | |
| will man im Rathaus einstweilen noch nicht ansetzen. Aus den besseren | |
| Jahren vor der Coronakrise sind noch Rücklagen vorhanden. | |
| Beim Bundeswirtschaftsministerium sieht man die Frage ziemlich kühl: Für | |
| die Abgrenzung des Fördergebietes würden Daten zur regionalen | |
| Produktivität, zur Unterbeschäftigungsquote, zur demografischen | |
| Entwicklung und zur Infrastrukturausstattung erhoben. „Die Analyse der | |
| Strukturindikatoren zeigt, dass sich die regionale Entwicklung insbesondere | |
| in Ostdeutschland zunehmend ausdifferenziert. | |
| Potsdam habe sich wirtschaftlich vergleichsweise gut entwickelt und liege | |
| nach den Strukturdaten deutlich außerhalb des Bereichs für das | |
| GRW-Fördergebiet. Unter anderem verweist das Bundeswirtschaftsministerium | |
| darauf, dass das Pro-Kopf-Einkommen Potsdams höher und die | |
| Arbeitslosenquote niedriger ist als im Bundesdurchschnitt. | |
| Tatsächlich ist Potsdam seit der Jahrtausendwende kontinuierlich in so | |
| ziemlich allen Bereichen gewachsen. Die Schrumpfungsphase nach der | |
| Wiedervereinigung dauerte hier nur kurz. Potsdam ist laut der [3][Studie | |
| „Die demographische Lage der Nation“] eine der deutschen Städte, die auch | |
| künftig am meisten wachsen werden: bis 2035 auf 198.570 Einwohner*innen. | |
| Derzeit sind es rund 182.000. Tausende Wohnungen sind gebaut worden. | |
| Relativ zur Einwohnerzahl wurden deutlich mehr Wohnungen errichtet als in | |
| Berlin. Dennoch gibt es so gut wie keinen Leerstand und die Mieten steigen. | |
| Das Wachstum kostet die Stadt allerdings auch viel Geld. Denn all die neuen | |
| Wohngebiete brauchen Straßen, Versorgungsleitungen, Kitas und Schulen. Laut | |
| dem aktuellen Schulentwicklungsplan sollen allein bis zum Jahr 2030 rund | |
| 280 Millionen Euro in Neubau und Sanierung von Schulen, Kitas und | |
| Sporthallen gesteckt werden. Außerdem braucht der städtische | |
| Verkehrsbetrieb immer mehr Busse und Trams, wenn die neuen Potsdamer nicht | |
| im Auto im Stau stehen sollen. | |
| 20 Nov 2021 | |
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| [1] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Wirtschaft/gemeinschaftsaufgabe-ev… | |
| [2] https://www.uni-potsdam.de/de/ | |
| [3] https://www.berlin-institut.org/studien-analysen/detail/die-demografische-l… | |
| ## AUTOREN | |
| Marco Zschieck | |
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