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# taz.de -- Berliner Stadtgeschichte: Die Ohren auf dem Lüftungsgitter
> Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Bis in die Musik
> hinein hat die Teilung Berlins die Stadt geprägt.
Bild: Am Checkpoint Charlie, 2021
Das Tor zum Balkan steht in der Leipziger Straße. Es ist eine bronzebraune
Doppeltür, in deren Flügel ein Bergrelief gearbeitet ist. An die Hänge
schmiegen sich knapp zwei Handvoll Zeltdachhäuser, und wenn das wie ein
südosteuropäisches Postkartenmotiv wirkt, täuscht der Eindruck nicht: Das
Tor gehört zur bulgarischen Botschaft in Berlin.
Ihre Vorderfront mit den hellbraun-orange verspiegelten Fenstern weist auf
die Leipziger Straße, das Gebäude selbst, es wurde in den achtziger Jahren
erbaut und sieht auch so aus, erstreckt sich um die Ecke bis in die
Mauerstraße. Die heißt nicht etwa nach der Berliner Mauer, mit deren Bau
vor sechzig Jahren, [1][in der Nacht zum 13. August 1961], begonnen wurde,
sondern nach Plänen aus dem 18. Jahrhundert.
Damals sollte die historische Friedrichstadt, heute Teil der Bezirke Mitte
und Kreuzberg, mit einer Mauer umgeben werden. Das Vorhaben wurde nicht
umgesetzt, die Mauerstraße jedoch bildete bis 1734 den Endpunkt der
größeren Leipziger Straße, deren Geschichte sich bis in das späte 17.
Jahrhundert verfolgen lässt.
## Musikgeschichte in der Leipziger Straße
Dazu gehört gleich an ihrem Anfang, kurz vor der bulgarischen Botschaft,
unmittelbar gegenüber der 2014 eröffneten Mall of Berlin, das
Bundesratsgebäude. Mitte des 18. Jahrhunderts saß hier eine
Seidenmanufaktur, in ihrer Nachbarschaft entstand die Königliche
Porzellan-Manufaktur Berlin. Von 1825 bis 1851 gehörte die Adresse zur
Familie Mendelssohn Bartholdy, die es in ein repräsentatives Wohngebäude
umbauen ließ. In ihrem Adelspalais soll der romantische Komponist Felix
Mendelssohn Bartholdy seine Musik zu William Shakespeares
„Sommernachtstraum“ geschrieben haben.
Die Leipziger Straße sollte noch mehrmals ein Ort der Musikgeschichte
werden. Aber nicht nur der: Mitte des 19. Jahrhunderts erwarb Preußen das
Gebäude der Mendelssohns, es entstand das Preußische Herrenhaus, von 1921
bis 1933 Sitz des Preußischen Staatsrats und 1928 Gründungsort des Bundes
der Freunde der Sowjetunion. [2][1934 zog Hermann Göring ein]. Die Folgen
seiner Residenz waren noch lange zu sehen, nachdem er sie 1945 am
Geburtstag seines Führers aufgegeben hatte. Am Tag darauf war die Rote
Armee nach Berlin gekommen.
Schräg gegenüber, in der Leipziger Straße 126–130, befand sich eines der
drei [3][Berliner Warenhäuser des Wertheim-Konzerns.] Das in fünf
Bauabschnitten von 1896 bis 1926 entstandene Kaufhaus wurde zum größten
Europas. 1933 bliesen die Nazis zum Boykott und enteigneten 1937 den
gesamten Konzern. 1944 fiel das Haus in der Leipziger Straße den Bomben des
Weltkriegs zum Opfer, der auf das Konto von Göring und seinen
Parteigenossen ging. Es hätte nach der Befreiung wieder aufgebaut werden
können, aber die Ruine wurde Mitte der 50er Jahre abgerissen.
## Vertriebener Techno-Club
Als Berlin die Jahre erlebte, die der Stadt nach dem Mauerfall einen
schönen und problematischen Mythos verschafften, zog in die ehemaligen
Tresor- und Erdgeschossräume des Wertheim-Kaufhauses ein aus dem alten
Westberlin vertriebener Techno-Club ein: Aus dem Ufo-Club wurde der Tresor
und schrieb ab 1991 Geschichte.
Die [4][Musik im Tresor] ging mit auf eine Band zurück, die zehn Jahre
zuvor drei Straßenzüge weiter eines ihrer bekanntesten Fotoshootings hatte:
Das englische [5][Industrial-Quartett Throbbing Gristle] war im November
1980 im Kreuzberger SO36 aufgetreten und hatte sich an einem Tag, der so
komplett grau gewesen sein muss wie der Himmel über Berlin auf dem
entstandenen Foto, zum Checkpoint Charlie begeben. Zu dem Grenzübergang an
der Friedrichstraße, hinter der Leipziger zwischen Zimmer- und Kochstraße,
an dem sich im Herbst 1961 sowjetische und amerikanische Panzer
gefechtsbereit gegenübergestanden hatten und in dessen unmittelbarer Nähe
im August 1962 Peter Fechter bei einem Fluchtversuch angeschossen wurde und
verblutete.
Throbbing Gristle sind dafür bekannt geworden, sich mit einer Kühle, die
nicht mit Teilnahmslosigkeit verwechselt werden sollte, den Traumata des
20. Jahrhunderts zu Leibe zu rücken. Der Ort für das Foto war gut gewählt.
Auf der Leipziger Straße beginnt nach dem Checkpoint Charlie weiter
ostwärts das Architekturensemble, welches ikonografisch für die gesamte
Straße steht: der Komplex Leipziger Straße zwischen der Charlottenstraße
und dem Spittelmarkt, von dem aus der Weg in Richtung Alexanderplatz geht.
Sie sind von Weitem schon zu sehen, zur rechten Straßenseite vier imposante
Hochhauspaare, Wohntürme mit 23 und 25 Stockwerken, zur linken immer noch
14 Stockwerke umfassende Häuserzeilen, die einen durch die Jerusalemer
Straße unterbrochenen Wohngürtel bilden.
Der Bau des Komplexes begann 1969 unter der Leitung zweier
Architektenkollektive um Joachim Näther und Werner Strassenmeier; als die
Arbeiten 1982 abgeschlossen waren, sollte die Berliner Mauer noch sieben
Jahre haben.
## Mauer- oder Vorzeigeschule
Ein beliebtes Kinderspiel war es, die Ohren auf die Lüftungsgitter am
benachbarten U-Bahnhof Stadtmitte zu legen. Darunter fuhren die Züge über
den Geisterbahnsteig der Linie C, der heutigen U6, in Richtung Westberlin;
sie klangen wie Throbbing Gristle.
Für diese Kinder, ob sie nun aus Funktionärs-, Diplomaten- oder
kinderreichen Familien kamen, gab es auf der parallel zur Leipziger Straße
verlaufenden Krausenstraße zwei Schulen. Wer sie bis 1989 besuchte, sagt
Mauer- oder Vorzeigeschule. Beides stimmt, und so, wie es die Attribute
vermuten lassen, ging es dort zu. Die 18. Polytechnische Oberschule trug
den Namen Reinhold Huhns, eines Gefreiten der DDR-Grenztruppen, der im Juni
1962 in der nahegelegenen Zimmerstraße von dem Fluchthelfer Rudolf Müller
erschossen worden war.
Die 19. Polytechnische Oberschule trug den Namen Theodor Winters, eines
kommunistischen Widerstandskämpfers gegen den Nationalsozialismus. Winter
wurde von der Gestapo verhaftet, in das Konzentrationslager Sachsenhausen
verschleppt und 1944 oder 1945 ermordet. Ihnen wurde gedacht, nicht nur mit
der Namensgebung der beiden Schulen. Wieviel das Gedenken erreicht hat, ist
fraglich. Die Bücher, die im Unterricht verwendet wurden, kamen aus einem
Verlag, dessen Gebäude selber in das Grenzgebiet hineinragte und nicht
komplett genutzt werden konnte.
## Der Wohngebietsclub
Weiterführenden Unterricht gab es am Ende der Leipziger Straße. Auf ihrer
linken Seite befand sich ein Wohngebietsklub, in der DDR-Sprache meinte das
einen staatlich gestützten Ort für Kulturveranstaltungen. Stützen hieß auch
steuern, aber in der Leipziger Straße müssen die Zügel zum Schluss hin
lockerer gewesen sein. Im Klub der Leipziger Straße trat die
[6][Fun-Punk-Band Feeling B], aus der Rammstein hervorgegangen sind, ebenso
auf wie die Dresdner Impro-Jazz-Band Musikbrigade, die dort einen
aberwitzigen Mix aus Geräuschattacken, Tape-Einspielungen und filigraner
Perkussion spielte. Es gab einen Abend für den expressionistischen Dichter
Georg Heym, dessen Texte recht gut in die Endzeit der DDR passten.
Mit dem Mauerfall wurde aus dem Wohngebietsklub das Checkpoint-Kino. In ihm
gab es weiter Konzerte, so von dem Noise-Duo Tom Terror & Das Beil, die so
klangen, wie sie hießen, also großartig. Der österreichische, seit den
frühen Neunzigern in Berlin lebende Regisseur Carl Andersen zeigte seine
Filme wie „Mondo Weirdo a.k.a. Jungfrau am Abgrund“, auch sie hielten, was
ihre Titel versprachen.
Dass einmal ein mehrstündiger Andy-Warhol-Film zur Hälfte an der Kinodecke
und nicht auf der Leinwand lief, wird allerdings weniger Andersens Aktie
gewesen sein. Auf jeden Fall hat es sich alleine dafür gelohnt, dass der
„Dreckverband“ geplatzt ist, wie Volker Braun nach Wolf Biermann die Mauer
verabschiedete. Auch wenn er daraus keinen Triumphgesang machte und mit der
Zeile schloss: „Wehe, harter Nordost“.
Stichwort Nordost: Am Spittelmarkt, der die Leipziger Straße beschließt,
wurden Szenen von [7][„Die Bourne Verschwörung“] gedreht. In dem
Agententhriller aus dem Jahr 2004 soll der Spittelmarkt mit dem darauf
befindlichen DDR-Wohngebäude Spitteleck einen Ort in Moskau darstellen. Wer
also die Leipziger Straße entlang läuft, kommt auf knapp über einem
Kilometer und innerhalb einer Viertelstunde vom Balkan in die russische
Hauptstadt. Das hätte nicht mal Interflug geschafft.
13 Aug 2021
## LINKS
[1] /60-Jahre-Mauerbau/!5790951
[2] /70-Jahre-Wannsee-Konferenz/!5102751
[3] /Ueber-den-juedischen-Kaufhaus-Erfinder/!5789379
[4] /Rueckblick-auf-40-Jahre-taz-Berlin-II/!5723415
[5] /Archiv-Suche/!496093&s=Industrial+Quartett+Throbbing+Gristle&SuchR…
[6] /Underground-in-der-DDR-und-Polen/!5636526
[7] /Archiv-Suche/!684408&s=Bourne+Verschw%C3%B6rung&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Robert Mießner
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