# taz.de -- Literarische Wiederentdeckung: „Kommt alle her und schaut mich an… | |
> Lothar Walsdorf war Museumsgehilfe, Hilfsrestaurator, Wasseruhrenableser, | |
> Fensterputzer. Und ein Dichter in der DDR, den es wiederzuentdecken gilt. | |
Bild: Jesus-Darsteller war er trotzdem nie: der Dichter Lothar Walsdorf fotogra… | |
Im März 1979 zeichnet der Dichter Lothar Walsdorf mit Bleistift sein | |
Selbstportrait. Es zeigt einen Langhaarigen, einen Hippie, wie er so bis | |
weit in die achtziger Jahre in den Zügen der Deutschen Reichsbahn, auf den | |
Landstraßen der DDR und den Blueskonzerten in den Landgasthäusern | |
anzutreffen ist. | |
Lothar Walsdorf kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Veröffentlichung | |
vorweisen, dabei hat er wenige Wochen vorher über sich Auskunft gegeben: | |
„Ich bin 27 Jahre und schreibe seit meinem 10. Lebensjahr. Inzwischen habe | |
ich etwas über dreitausend Gedichte in 40 handgeschriebenen Büchern im | |
Schrank.“ | |
Der Brief ist aus Bautzen an einen gegangen, der Ende der 70-er Jahre als | |
gestandener Schriftsteller gelten darf, der sich allerdings mit guten | |
Gründen aus der offiziellen DDR-Kulturpolitik zurückgezogen hat und zu | |
einem unsicheren Kantonisten geworden ist, der sich den Mythen und der | |
Romantik zugewandt hat: [1][Franz Fühmann.] | |
Walsdorf sendet ihm auch das Selbstbildnis als Tramp, Fühmann antwortet ihm | |
aus Märkisch-Buchholz: „Lieber Lothar Walsdorf, schönen Dank für Ihre | |
Zeilen und das kleine Blatt, nun weiß ich, wie sie ausschauen, ich habe mir | |
sie so ähnlich vorgestellt.“ | |
## Sein Protegé ist ein gebranntes Kind | |
Es wird noch einige Briefe dauern, bis Fühmann zum „Du“ übergeht und sich | |
von Walsdorf mit einem maschinengeschriebenen „Händedruck“ verabschiedet. | |
Walsdorf bleibt bei „Lieber Herr Fühmann“. Der wird zum Förderer des | |
Jüngeren, von dem er sagt, Walsdorf sei „endlich einer mit eignem Ton“. Er | |
wird aber auch erfahren, dass es sich bei seinem Protegé um ein gebranntes | |
Kind handelt. | |
Der in Zittau geborene Walsdorf ist Halbwaise, mit Mutter und Großmutter in | |
einem Dorf bei Bautzen aufgewachsen. Sein erstes Gedicht ist auf den | |
November 1961 datiert und formuliert einen Berufswunsch: „Gagarin und | |
Titow/ das ist mein Fall,/ die flogen durchs Weltenall.“ Walsdorf | |
verspricht zu lernen, denn er möchte nicht weniger als den Kosmos besiegen. | |
„Wenn ich einmal groß bin“ ist bereits im Kinderheim entstanden, in das | |
Walsdorf gekommen ist, als die erblindete Mutter in Pflege musste. Zwanzig | |
Jahre später schickt er die Zeilen an Franz Fühmann. | |
Die Texte, die Lothar Walsdorf nach Fühmanns Vermittlung an die | |
Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ und den Aufbau-Verlag dort | |
veröffentlicht, sind andere. In seinem 1981 erschienenen Lyrikband „Der | |
Wind ist auch ein Haus“ heißt es unter der Titel „Synonym“: „man sieht… | |
die katze an/ diese krallen an den händen/ und das grüne im blick/ dieses | |
gefauchegebuckele/ dieses aalglatte gerutsche/ und dieses | |
zärtlichseinwollenverlangen …/ man sieht mir die katze an/ (die nachtkatze | |
die regenkatze)/ diese kleine großäugige/ schmale öläugige gefürchtete/ | |
taubenschreckliche …/ man sieht mir die katze an/ und redet menschlich mit | |
mir.“ | |
Sechs Jahre darauf, im dritten Gedichtband „Über Berge kam ich“, ist es ein | |
„Altes Selbstporträt“, in dem zu erfahren ist: „Ich bin der Ur-sprung/ I… | |
war vor dem Urei schon da./ Aus mir wurden Menschen aller Farben und | |
Sorten/ und Männer wie Frauen gleichermaßen und in großer/ Zahl./ Die einen | |
wurden gut, die andern böse, die nächsten/ dumm,/ diese schäbig, jene | |
lustig, manche traurig,/ einzelne/ fleißig,/ zufällige heiter, nicht | |
zufällige vorlaut./ Und der Rest schließlich wurde zu ganz kleinen/ | |
Kindern,/ denen das Erwachsenwerden noch immer droht.“ | |
## Dem Erwachsenwerden nicht entkommen | |
Lothar Walsdorf ist dem Erwachsenwerden nicht entgangen, auch wenn sich | |
seine überlieferte Biographie wie die eines Hakenschlagens liest. Aus dem | |
[2][Kinderheim ist er ausgerissen und in eines für Schwererziehbare] | |
gekommen, bis 1967 hat der Waldjunge Walsdorf mehrere Heime durchlaufen. | |
Rastlosigkeit wird Grundzug nicht nur seiner Texte bleiben. | |
Zu ihr gehört, dass Walsdorf Fühmann in den vier Jahren ihrer Korrespondenz | |
von drei Adressen schreibt: aus der Messergasse in Bautzen, der Swinemünder | |
Straße in Berlin und vom Leninring in Königs Wusterhausen. Zu den Briefen | |
und Osterpostkarten kommt ein Gruß aus Budapest, eine Reise, die Walsdorf | |
sehr beeindruckt haben muss. | |
Zurück in der DDR schreibt er im Gedicht „Ankunft II“: „hier trägt man | |
wieder bhs/ und enge hosen/ und karierte blusen/ den kragen auf sturm/ hier | |
geht man wieder strenger/ mit dem wort ins gericht/ hier spielt keine | |
harmonika / für die nichtige rede/ hier sind wir zu hause/ mein | |
weitgereister kamm/ und ich.“ Was der Reisende unterwegs sucht, darauf gibt | |
Walsdorf einen Hinweis, den man sich merken sollte. In „Tramper abends“ | |
sagt er: „kommt alle her/ und schaut mich an …/ hier steht einer/ der hält | |
autos an/ hier steht einer/ der winkt bis er müde wird / hier steht einer/ | |
der will fahren in die finsternis.“ | |
Wovon lebt so einer? Interessant sind die Berufe, die in diesen Gedichten | |
und ihrem Nachfolger, dem 1982 erschienenen Kinderbuch „Grün weht der Lärm | |
ins Land“ auftauchen. Es sind: der Schneidermeister, die Näherin, der | |
Grünwarenhändler, die Verkäuferin, der Glaser, der Fensterputzer, die | |
Tapezierer, die Waldarbeiter. Das Buch, freigegeben ab 8 Jahre, taugt nur | |
bedingt zur anständigen Berufswahl und Lebensplanung. Später treten auf: | |
der Polizist, die Bettlerin, die Spitzenhändlerin, der Straßenfeger, die | |
Lehrlinge. | |
## Befähigt zu einer amtlichen Bohème-Laufbahn | |
Lothar Walsdorf selbst hat eine erste Ausbildung in der Landwirtschaft | |
ausgeschlagen und Chemiefacharbeiter gelernt. Der Henschel-Verlag, der für | |
Walsdorfs Theater- und Hörspieltexte zuständig ist, listet an Berufen, die | |
sein Autor ausgeübt hat, auf: Beifahrer, Museumsgehilfe, Hilfsrestaurator, | |
Wasseruhrenableser, Fensterputzer, Bühnentechniker. Tätigkeiten, die in der | |
DDR zu einer amtlichen Boheme-Laufbahn befähigen. | |
„Lothar Walsdorf wollte immer ein großes Fest“, erinnert sich die | |
Dramaturgin Elisabeth Panknin, die an Walsdorfs Hörspiel „Hochzeit | |
vorübergehend“ gearbeitet hat. [3][Es sind die Hörspiele, die dem Autor | |
nach der Wende 1989 zur Einnahmequelle werden,] und Panknin gehört zu dem | |
Quartett, das Lothar Walsdorf, als es ihm wirklich schlecht geht, in und | |
über die 90er-Jahre helfen: Da sind die Henschel-Verlagslektorin Andrea | |
Czesienski, der Rundfunkregisseur Wolfgang Rindfleisch und der | |
Hörspieldramaturg und Autor Matthias Thalheim. | |
Thalheim ist es auch, der von Walsdorf als „einem jener Ausnahmetalente, | |
„die man nicht nach dem Knigge-Maßstab messen kann“, spricht. Kaum hat | |
Walsdorf das Geld vom Radio in der Tasche, zieht es ihn fort. Walsdorf muss | |
nicht mehr trampen, er fliegt nach Mexiko oder Kurdistan. In einem der | |
Texte im Nachlass in der Akademie der Künste Berlin heißt es „Antalya 2:30. | |
Mein DDR-Pass ist hier unbekannt.“ Das könnte Walsdorf gefallen haben, | |
Matthias Thalheim übrigens fügt an: „Der hat von der DDR enorm profitiert.�… | |
In der Akademie der Künste liegt ein unveröffentlichtes Manuskript | |
Walsdorfs, das 1989 abgeschlossen und fertig lektoriert war: „Zwischen | |
Ostermontag und Himmelfahrt“. Lyrik, Prosa, Texte, Erinnerungen: | |
Traumnotizen, so eindringlich und genau wie die Beschreibungen des | |
DDR-Alltags der späten 80er-Jahre, der „Neubaunachbarin“ oder der „müden | |
Verkäuferin, Freitag 19:30“. | |
Mitte Januar 2022 wird der 100. Geburtstag von Lothar Walsdorfs Förderer | |
Franz Fühmann begangen werden. Walsdorfs 70. Geburtstag wäre im Oktober | |
2021 gewesen. Im Frühjahr haben der Dramaturg Hermann Wündrich und der | |
Regisseur Manfred Karge in ihrem im Ventil erschienenen Buch zum | |
DDR-Theater „Erstürmt die Höhen der Kultur!“ auch an Lothar Walsdorf, der | |
2004 tot in seiner Wohnung in einem Berliner Vorort gefunden wurde, | |
erinnert. Es sollte nicht noch dreißig Jahre dauern, bis „Zwischen | |
Ostermontag und Himmelsfahrt“ erschienen sein wird. | |
28 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /extra/tipp/!5205139 | |
[2] /Heime-in-der-DDR/!5092588 | |
[3] /Archiv-Suche/!1626901&s=Lothar+Walsdorf&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
## TAGS | |
deutsche Literatur | |
DDR | |
Dichter | |
Hörspiel | |
taz Plan | |
Jazz | |
Berlin | |
Fußballlyrik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theatervorschau für Berlin: Die Britney in uns allen | |
Überall Abhängigkeiten: das DT zeigt Tolstois „Auferstehung“, das | |
Schlossparktheater „Rent a Friend“. Pop und Macht mit „It’s Britney, Bi… | |
am BE. | |
Geschichte des Jazz: Schroffes aus der stillen DDR | |
Jazz blühte im Ostdeutschland vor der Wende in den Nischen. Die Szene war | |
klein, aber renommiert. Ihre Geschichte ist teils vergessen. | |
Berliner Stadtgeschichte: Die Ohren auf dem Lüftungsgitter | |
Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Bis in die Musik | |
hinein hat die Teilung Berlins die Stadt geprägt. | |
Ausstellung rund um Fußballmusik: Der Sound des Fußballs | |
Im Rathaus Köpenick kommen in einer neuen Ausstellung Fußballfans mit | |
musikalischen Anekdoten und Raritäten auf ihre Kosten. |