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# taz.de -- DDR-Architektur und Nachwende-Rekonstruktion: Eine Geschichte, die …
> Der Architekturstreit über die Berliner Fischerinsel in der DDR gibt
> wichtige Anregungen für die aktuelle Rekonstruktionsdebatte.
Bild: Der „sozialistischen Umgestaltung“ fielen die Häuser der Fischerinse…
Der Fischerkiez liegt auf der Südspitze der Spreeinsel im Herzen Berlins.
Sechs Hochhaussolitäre bilden mit einigen Flachbauten in der begrünten
Fläche die Bebauung. Die Fischerinsel erregt wenig Aufmerksamkeit. Dabei
handelt es sich um ein wegweisendes stadtplanerisches Bauprojekt der DDR.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sah man sich mit der Frage konfrontiert: Sollte
man den alten Baubestand rekonstruieren, die Stadt so wiederaufbauen, wie
sie vor dem Krieg aussah? Oder sollte man die zerstörte Bausubstanz
abreißen und eine radikale Neugestaltung wagen? Der Fischerkiez wurde zum
Austragungsort dieser Debatte im Spannungsfeld von Stadtplanung,
Kunstgeschichte und Politik.
In Alt-Cölln, an der Südspitze der Spreeinsel, liegt einer der Ursprünge
Berlins. Hier siedelten um 1150 die ersten Bewohner. Anfang des 20.
Jahrhunderts empfahl der Baedeker den verwinkelten Kiez mit seinen Kneipen.
Im Zweiten Weltkrieg trafen die Bombardements auch den Fischerkiez,
zerstört wurde er nicht: 1945 gilt über die Hälfte des Viertels als
aufbaufähig. Doch die Politik zögert.
Hermann Henselmann, Chefarchitekt des Ostberliner Magistrats, spricht sich
für den Erhalt des Fischerkiezes aus. Gleichzeitig legt der Architekt Hans
Schmidt Pläne für eine „Reorganisation“ des Viertels vor, bei der einzelne
„schützenswerte“ Gebäude neben neuen Wohnhochhäusern erhalten bleiben
sollen.
## Generalplan zur sozialistischen Umgestaltung
Die beiden Architekten nehmen in der Diskussion exemplarisch die sich
gegenüberstehenden Positionen ein: Henselmann fordert Rekonstruktion,
Schmidt den radikalen Neubau von typisierten Hochhäusern mit der Erhaltung
weniger Baudenkmäler. Beide Architekten legen später umfangreiche Pläne
vor, werden aber nicht mit der Umsetzung beauftragt.
Dem neuen „Generalplan der sozialistischen Umgestaltung“, der den Neubau
auch auf Kosten historischer Bausubstanz vorsieht, wird nun alles
untergeordnet. Eine „Neugestaltung des aus Ruinen und stark überalterten
Gebäuden“ bestehenden Gebietes sei „unumgänglich“.
## Die Gefahr der historischen Verfälschung
Die Kahlschlagsanierung wird ab 1964 vollzogen. Der gesamte Fischerkiez,
darunter 33 Baudenkmale, wird abgerissen. Stattdessen werden bis 1973 sechs
21-stöckige Hochhäuser mit je 240 Wohnungen gebaut. Der neu ernannte
Chefarchitekt des Magistrats, Joachim Näther, begründet die Vorgehensweise
nicht nur aus ökonomischen Gesichtspunkten: „Der historisierende Aufbau
wurde untersucht, er birgt jedoch die Gefahr der historischen Verfälschung,
die nicht im Interesse denkmalpflegerischer Arbeit liegen kann.“ Eine
progressive Entscheidung, die Henselmann kritisiert. Er weist darauf hin,
dass „in der Bevölkerung die Sehnsucht nach dem Fischerkiez“ fortbesteht�…
Die Neugestaltung beinhaltet dringend benötigten modernen Wohnraum. Das
städtebauliche Ensemble im Fischerkiez wird zum Symboldes aufstrebenden
Ostberlin. Mit ihrer Höhe von 65 Metern senden die Wohntürme ein Signal
über die Mauer und weisen siegesgewiss in die sozialistische Zukunft.
## Das Haus steht der Umgestaltung im Weg
Sinnbildlich für die Zerrissenheit der damaligen Diskussion steht die
Biografie des Ermelerhauses. Das Patrizierhaus mit seinen prunkvollen Sälen
und der klassischen Fassade stammt aus dem 16. Jahrhundert. Während des
Krieges wird das Gebäude von mehreren Bomben getroffen, die Prunksäle im
Vorderhaus kommen aber glimpflich davon. Der Besitz des Ermelerhauses geht
nach 1945 an den Magistrat der DDR, der den Erhalt des Gebäudes als
„wünschenswert“ einstuft. Große Teile des Hauses werden restauriert, ehe …
Sitz der Ratsbibliothek und des Stadtarchivs wird.
Doch das Ermelerhaus steht der „sozialistischen Umgestaltung“ buchstäblich
im Weg. Trotz der Proteste seitens der Bevölkerung und der Denkmalpflege
muss das Ermelerhaus einer Magistrale weichen. Vollkommen verschwinden soll
es aber nicht: Die Verschiebung der originalen Bausubstanz durch
„Verrollung“ über Gleitbahnen wird in Betracht gezogen, es kann aber kein
geeigneter Standort gefunden werden. Man beschließt, das Ermelerhaus und
einige andere im Viertel verteilte Gebäude ab- und an anderer Stelle
wiederaufzubauen.
## Traditionszeile und Hochhäuser
So entsteht ab 1967 die „Traditionszeile Friedrichsgracht“ am Märkischen
Ufer. Bei den Bauten kann man nicht von einer „Translozierung“, also einem
präzisen Aufbau mit der originalen Bausubstanz, sprechen. Angesichts des
Einsatzes von Beton, der Zerstückelung der historischen Elemente und
anderer Eingriffe kann allenfalls von einer historisierenden
Neuinterpretation die Rede sein. Bis heute stehen sich, vom Spreekanal
getrennt, Traditionszeile und Hochhäuser gegenüber.
Nur 500 Meter Luftlinie vom Fischerkiez entfernt findet derzeit der
Neuaufbau des Berliner Stadtschlosses statt. Drei Barockfassaden und die
Kuppel werden dabei exakt rekonstruiert, die Sichtbetonfassade zur Spree
setzt sich in zeitgenössischer Gestaltung ab. Mit der Reanimierung
historisch dahingeschiedener Bausubstanz ist Berlin nicht allein.
## Rekonstruktionswelle nach der Wende
In nahezu jeder deutschen Stadt lassen sich Beispiele finden: In Potsdam
wird an einer Rekonstruktion der Garnisonkirche gearbeitet. In Frankfurt
wurde vor einem Jahr [1][die Fertigstellung der Rekonstruktion der
Altstadt gefeiert]. 2007 vollendete man die Rekonstruktion des
Braunschweiger Schlosses, kurz nachdem 2005 der Wiederaufbau der Dresdner
Frauenkirche die neue Rekonstruktionswelle nach der Wende eingeläutet
hatte.
Der Versuch im Fischerkiez, sozialistische Neugestaltung und den Erhalt
historisch wertvoller Bausubstanz in Einklang zu bringen, kann für die
aktuelle Debatte Anregung sein. Die Neubebauung des Kiezes sollte „die
Gefahr der historischen Verfälschung“ bannen. Sie schuf innovative Akzente
für die sozialistische Umgestaltung, ohne dabei den Krieg und seine
Folgen zu vertuschen. Ob man die Hochhäuser heute als ästhetisch
ansprechend oder gar als schön bewerten möchte, ist zweitrangig. Wichtiger
ist, sie als authentische Produkte ihrer Zeit zu begreifen.
## „Träger einer belasteten Gesellschaft“
Die Wohntürme gingen auf die realen Bedürfnisse der damaligen Gesellschaft
ein: Sie boten großen, höchst modernen und komfortablen Wohnraum, nutzten
die neuesten technischen Möglichkeiten und passten sich in die Ideologie
der autogerechten Stadtplanung ein. Heute sind sie ein historisches Zeugnis
der Nachkriegs-DDR und deren Haltung zu Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft.
Gefangen in der ideologischen Fixierung auf das neue sozialistische Bauen
sowie einer finanziellen Beschränktheit, ging die Neubebauung auf Kosten
des alten Viertels. Motiv war auch die kritische Haltung der DDR zu
historischen Gebäuden als Träger einer belasteten Gesellschaft. Die
Traditionszeile ist als Versuch der Beschwichtigung zu verstehen und sollte
kaschieren, dass der alte Fischerkiez endgültig zerstört wurde.
## Sie täuschen eine Geschichte vor
Diese Zeile aber erlag der Gefahr der historischen Verfälschung. Als
Mischwesen nutzen uns die Gebäude weder als Zeugnisse des 16. noch des 18.
oder des 20. Jahrhunderts. Heute können sie höchstens Zeugnis eines
Versuchs der Präservation von Baudenkmälern sein, die der sozialistischen
Stadtgestaltung untergeordnet war. Sie täuschen aber eine Geschichte vor,
die so nie existierte.
Seit zwei Jahrzehnten nimmt die Sehnsucht nach historischen
Prestigegebäuden zu. Im Streit über den Fischerkiez schrieb die Presse von
einer anhaltenden Sehnsucht der Berliner nach ihrem alten Viertel. Zwischen
den Sehnsüchten von damals und denen von heute muss jedoch unterschieden
werden: Es war damals dieselbe Generation, die die Zerstörung durch den
Krieg miterlebte und sich nach 1945 an der Diskussion über den Wiederaufbau
des Kiezes beteiligte.
## Die Stimmen der Enkelkinder
Die Stimmen, die heute, fast 75 Jahre nach Kriegsende, einen Wiederaufbau
fordern, gehören den Enkelkindern dieser Generation. Sie haben Berlin vor
seiner Zerstörung nicht gekannt und konnten daher auch keine emotionale
Bindung an die Architektur der Vorkriegszeit aufbauen.
Die Art und Ursache der Gefühle, die heute zum Wunsch nach Rekonstruktionen
führen, müssen folglich anderer Natur sein. Die starke Abneigung gegen
„moderne Architektur“, die oft von einer Enttäuschung über den
industriellen Wiederaufbau der Nachkriegszeit herrührt, könnte eine Ursache
sein. Diese Abneigung geht oft mit dem Glauben einher, „gleichsam gefallene
Maschen im Strickmuster des deutschen Geschichtsbildes wieder aufnehmen zu
können“, wie der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Johannes Habich
analysiert.
## Es gilt, die Brüche zu akzeptieren
Ebenjene „Gefahr der historischen Verfälschung“, vor der Joachim Näther
bereits 1967 warnte, ist durch die heutigen Rekonstruktionsprojekte so groß
wie nie. Der Krieg rückt in immer weitere Ferne, es ist daher umso
wichtiger, dass seine Spuren in den Städten für kommende Generationen
sichtbar bleiben. „Indes ist nicht schwer zu erkennen, dass die
Rekonstruktionswelle mit einer von neubürgerlichen Interessen gelenkten
gesellschaftspolitischen Weichenstellung zusammenhängt, die dabei ist,
unsere Erinnerungskultur manipulierbar zu machen. Das verlangt
entschiedenen intellektuellen Widerstand!“, konstatiert daher Johannes
Habich.
Der misslungene Versuch der Traditionszeile sollte nicht in immer größerem
Maßstab wiederholt werden: Mischwesen zu erschaffen, im Krieg zerstörte
Gebäude aus der Versenkung der Geschichte wieder hervorzuzerren ist aus
politischer, kunstgeschichtlicher und denkmalpflegerischer Hinsicht
geschichtsverloren. Es gilt vielmehr, die Brüche zu akzeptieren und zu
thematisieren. Zeitgemäße Wagnisse einzugehen und auf die Bedürfnisse der
heutigen Gesellschaft zu reagieren. So wie es die Neubebauung des
Fischerkiezes vor rund 50 Jahren tat.
23 Aug 2019
## LINKS
[1] /Rechtes-Denken-und-Architektur/!5534282/
## AUTOREN
Marlene Militz
## TAGS
Rekonstruktion
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Holzmarkt
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