# taz.de -- Über den Wochenmarkt in Friedenau: Knochenjob mit familiären Ambi… | |
> Seit über 100 Jahren gibt es einen Markt in Friedenau. In einem Buch wird | |
> die Geschichte des ältesten Wochenmarkts in Berlin anschaulich gemacht. | |
Bild: Hat zwei Weltkriege, mehrere Regime und Währungen überdauert: Der Woche… | |
BERLIN taz | Ob es stürmt oder schneit oder ob die Sonne scheint – die | |
wetterfesten Markthändler von Friedenau sind immer auf Posten. Drei Mal in | |
der Woche bauen sie auf dem Breslauer Platz die Holztische auf oder fahren | |
mit ihren rollenden Verkaufsständen vor. | |
Immer für einen halben Tag nimmt der Freilufthandel den sonst öden Platz | |
vor dem früheren Rathaus in Beschlag. Seit weit über hundert Jahren geht | |
das so. In einem Buch – „Markttage in Friedenau“ – kann man sich genauer | |
mit der wechselhaften Geschichte des ältesten Wochenmarktes in Berlin | |
beschäftigen. | |
Es war im Mai 1881, als die Kommunalpolitiker der damals eigenständigen | |
Landgemeinde Friedenau, die zum Landkreis Teltow gehörte, die Einrichtung | |
eines Wochenmarktes beschlossen. Mittwoch und Sonnabend waren die | |
Verkaufstage, und so ist es bis heute geblieben. Nur der Donnerstag ist als | |
dritter Markttag noch dazugekommen. | |
Die Zahlungskraft der Kundschaft gibt es her. „Das Selbstbewusstsein der | |
Bewohner dieses besonderen Friedenauer Gemeinwesens überdauerte die Zeiten, | |
und die Tradition des eigenen Wochenmarktes gehört bis heute dazu“, notiert | |
die Kiezchronistin Evelyn Weissberg in ihrer Markthistorie. | |
## Der Markt, der zwei Weltkriege überstanden hat | |
Nach ihrer Recherche existiert in Friedenau „der älteste, auch während der | |
beiden Weltkriege durchgängig betriebene Markt von ganz Berlin“. Die | |
Regimes wechselten und auch die Zahlungsmittel, aber die Waren und das | |
Handelsgeschäft blieben weitgehend gleich. | |
[1][Die Bauern aus Brandenburg bringen ihr Obst und Gemüse] , andere | |
Händler – Metzger, Imker, Floristen – ergänzen das Angebot. Zum | |
Basisangebot an Lebensmitteln kommen in der wärmeren Jahreszeit auch | |
Textilien und markttypische „Kurzwaren“ hinzu. Auf der Marktfläche haben 30 | |
bis 35 Stände Platz. | |
„Wir haben an diesem Markt eine hohe Qualität“, sagt Andreas König. Er ist | |
seit 2015 der Marktmeister und zuständig für insgesamt sieben Märkte in | |
Schöneberg. Als offizieller Vertreter des Bezirksamtes ist er zuständig für | |
den technischen Betrieb, den Strom- und Wasseranschluss der Stände, ihre | |
Positionierung und auch die Aufnahme neuer Anbieter unter dem Gesichtspunkt | |
einer guten Mischung– die angenommen wird: „An guten Tagen haben wir an die | |
1.000 Kunden auf dem Markt.“ | |
## Nicht immer ging alles mit rechten Dingen zu | |
Für Anziehung sorgen nicht nur die Waren allein, es ist auch der Flair des | |
Ortes oder das Schwätzchen mit den Händlern. Zuweilen aber geht es auch in | |
Friedenau nicht ganz einwandfrei zu mit Händlern, die ihre Waren falsch | |
deklarieren. Etwa, wenn die Äpfel gar nicht aus dem Brandenburger Umland | |
stammen, sondern von den Plantagen im Alten Land vor Hamburg oder aus | |
Südtirol. Die Lebensmittelkontrolle hat hier nur beschränkte | |
Eingriffsmöglichkeiten. | |
Ein krasser Fall ist aus der Kaiserzeit dokumentiert. Im Buch von Evelyn | |
Weissberg ist so die Geschichte von einer Briefschreiberin Elisabeth zu | |
lesen. Sie schildert im März 1899 im Friedenauer Lokalanzeiger, wie gern | |
sie auf dem Markt eine bestimmte Wurst von einer jungen Frau gekauft habe: | |
„Oft habe ich davon pfundweise genommen, weil sie schmackhaft und billig | |
war.“ Doch eines Tages war die beliebte Wurstlieferantin verschwunden. | |
Was war der Grund, fragte sie die Standnachbarin? „Na, sind Se man blos | |
froh, Madamken, det Se von det freche Weib keene Ware mehr kriegen“, | |
antwortete die in breitem Berlinerisch. „Die hat ja Pferdefleisch in ihre | |
Wurst drinne gehabt – nu is ihr die Polizei uff en Kopp gekommen.“ | |
Mit den Zeiten wandeln sich auch die Geschmäcker. Berlin als eine | |
[2][Hochburg der veganen, fleischlosen Ernährung] macht sich auch auf dem | |
Wochenmarkt bemerkbar: „Die Kundschaft ist gegenüber früher jünger | |
geworden“, hat Marktmeister König festgestellt. | |
## Corona steigert Qualitätsbewusstsein der Kunden | |
Auch die [3][Corona-Auflagen mit Abstandsgebot und Maskenpflicht] haben für | |
keinen Umsatzeinbruch gesorgt. Im Gegenteil: Der Trend zum eigenen Kochen | |
in den Monaten der Lockdowns hat die Nachfrage nach Marktgemüse verstärkt. | |
Das kann auch Rainer Olwig für sein Produkt bestätigen: Käse, den er in 170 | |
Varianten jeden Sonnabend anbietet. „Durch Corona habe ich bis zu 50 | |
Prozent mehr Umsatz gemacht“, sagt der Käsemann, der seit 2004 auf dem | |
Friedenauer Markt verkauft. Auch Olwig unterstreicht das erhöhte | |
Qualitätsbewusstsein der Käufer, das Ausdruck einer gehobenen | |
Sozialstruktur des Viertels ist, das auch eine immense Nobelpreisdichte | |
hat. Literatur-Nobelpreistträger Günter Grass wohnte hier und kaufte auf | |
dem Markt ein und seine [4][Preis-Nachfolgerin Herta Müller] ebenso. | |
Rainer Olwig schätzt das „familiäre Ambiente“ des Marktes. Die Händler | |
kennen sich untereinander, empfinden sich wie eine zweite Familie, so | |
beschreibt er es. Auch mit seiner Stammkundschaft ist er eng zusammen. „Ich | |
habe die Namen von 80 Kunden im Kopf“, sagt Olwig. Das sei hier eben nicht | |
so seelenlos wie im Supermarkt. | |
## Die Marktlogistik ist ein Knochenjob | |
Für den Biotrend auf dem Markt steht Susanne Petersen. Seit 1999 betreibt | |
sie mit Kolleginnen ihren Stand „frisch&frei“ mit Naturkost und | |
Biodelikatessen von verschiedenen Bauernhöfen aus dem Umland. | |
Im [5][Buch von Evelyn Weissberg] schildert sie anschaulich, welcher | |
Knochenjob an jedem Sonnabend dahinter steckt. Aufstehen um Mitternacht, 75 | |
Kilometer Fahrt nach Berlin, Aufbau des Standes: „Schirmständer stellen, | |
sechs große Schirme spannen, mit schweren Gewichten gegen Wind sichern, | |
Tische, Böcke, Kisten, Tücher, Lampen, Tüten … Alles hat seinen Platz und | |
seine Art und Weise, wie es steht“, beschreibt Petersen die Marktlogistik | |
im Hintergrund, von der die Kundschaft kaum etwas erfährt. | |
Nach acht Stunden Vorbereitung folgen acht Stunden Verkauf und wieder | |
Abbau. So läuft es heute, so lief es damals. Der Wochenmarkt in Friedenau | |
ist beides: Wandel und Kreislauf. | |
17 Feb 2022 | |
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[5] https://www.friedenauer-bruecke.de/ | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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