| # taz.de -- Rückblick auf 40 Jahre taz Berlin (II): Die goldenen 90er | |
| > Der Fall der Mauer öffnete Kreativen einen Spielplatz der Möglichkeiten | |
| > in Ostberlin. Doch die Stadt und ihre Bewohner hatten ein Geldproblem. | |
| Bild: Im Techno-Club Tresor konnte man in den ehemaligen Tresorräumen hinter G… | |
| Die taz Berlin wird 40 Jahre alt. Dies ist der zweite von vier Texten, in | |
| denen wir auf die Entwicklung der Stadt und der Zeitung zurückblicken. Und | |
| fragen: Was bleibt? Der erste Text steht [1][hier]. | |
| Berlin taz | Es gibt einen Film, der das Lebensgefühl im Berlin der 90er | |
| auf eine Weise auf den Punkt bringt, die ziemlich selten ist. Der Film | |
| heißt „Das Leben ist eine Baustelle“, stammt aus dem Jahr 1997, und | |
| Regisseur Wolfgang Becker wurde sechs Jahre später viel mehr für seinen | |
| Film „Good Bye, Lenin!“ gefeiert. | |
| „Das Leben ist eine Baustelle“ erzählt eine Liebesgeschichte zwischen einem | |
| jungen Berliner und einer jungen Zugereisten. Er (Jürgen Vogel) trägt | |
| Jeansjacke mit Lammfellimitat und hält sich mit Jobs in Schlachthof und | |
| Supermarkt über Wasser. Sie (Christiane Paul) trägt lange Schals und | |
| Baskenmütze, macht experimentelles Theater und stellt die Nahrungsaufnahme | |
| sicher, indem sie sich selbst zu Büffets von irgendwelchen Kongressen | |
| einlädt. | |
| Sie haben unheimlich viel gemein, diese zwei, und doch trennt sie sehr | |
| viel. Aber das hat mit dem Mauerfall schon damals nur noch herzlich wenig | |
| zu tun. Eigentlich fragt man sich während des Films kaum, ob die Figuren | |
| aus dem Osten oder aus dem Westen kommen. Man fragt sich eher, welches | |
| Verhältnis die beiden eigentlich zum Geld haben, das ständig fehlt. Für | |
| sie, die Bohemienne, scheint es einfach kein Thema zu sein. Er dagegen, das | |
| Arbeiterkind, weiß, dass Geldmangel keine gute Idee ist, wenn man so wenig | |
| wie möglich mit Geld am Hut haben will. | |
| Berlin war nach dem Mauerfall für viele junge Leute ein Abenteuerspielplatz | |
| mit gigantischer Anziehungskraft – und zwar egal, ob man aus der DDR oder | |
| BRD kam. Plötzlich gab es in Ostberlin derart viele Brachen, leer stehende | |
| Gebäude, Ruinen, dass sich, wie der Berliner Fotograf Martin Eberle einmal | |
| sagte, jeder „einfach irgendwo ein Loch suchen und da seine Musik anmachen | |
| konnte“. | |
| Man musste nur eine Woche lang nicht im Berliner Stadtteil Mitte unterwegs | |
| gewesen sein, und schon war in irgendeinem Keller, in einer Garage oder | |
| einem ehemaligen Bunker eine neue Bar, Galerie oder Kneipe mit ulkigem | |
| Namen wie Dienstagsbar, Bügelbar oder Im Eimer entstanden. | |
| Es war die große Zeit der Improvisation und des Selberbastelns. In manchen | |
| Läden kostete der Caipirinha 2 Mark – und es kam trotzdem niemand. Andere | |
| hat so mancher oft besucht und nie von innen gesehen, weil es immer zu voll | |
| war und der beste Teil der Party, so beschloss man es dann halt, vor der | |
| Tür stattfand. Zum Beispiel war das so in der Galerie Berlintokyo in einem | |
| Hinterhof der Rosenthaler Straße. Der Club wurde 1996 von Designer, | |
| Unternehmer und Autor Rafael Horzon gegründet, um Werke angeblich | |
| unbekannter japanischer Künstler auszustellen, die in Wirklichkeit gar | |
| nicht existierten. | |
| Überall herrschte chaotische Zwischennutzung und nebensächliche Nische; | |
| stets ging es ziemlich unsortiert zu. Berlin war viel mehr als die | |
| Hauptstadt der großen Techno-Schiffe E-Werk, Tresor und Loveparade – der | |
| coolen Läden wie Tacheles, WMF und Friseur, die in allen möglichen Büchern, | |
| Texten und Filmen sehr schön und treffend beschrieben worden sind, unter | |
| anderem von taz-Kollegen Ulrich Gutmair, unter anderem auf der Kulturseite | |
| des Berlinteils der taz. | |
| Allein schon, wie es damals zuging: Auch als gänzlich unerfahrene freie | |
| Autorin bekam man dort fast jede Lesung, jeden Ort und jedes Phänomen | |
| unter, solange die Redakteurin oder der Redakteur noch nichts davon gehört | |
| hatte. Der 2007 verstorbene Redakteur Harald Fricke erzählte eigentlich | |
| allen, die es hören wollten, Journalistenschüler seien in dieser Redaktion | |
| nicht so gern gesehen: Sie seien einfach zu aufgeräumt, zu routiniert. | |
| Ziemlich zusammengewürfelt standen skurrile Alltagsbeschreibungen neben | |
| Porträts von temporären Bands und Künstlern, die beispielsweise Teppiche | |
| aus Socken webten. Aus taz-Perspektive könnte man sagen, dass die | |
| Einführung der „Berliner Szenen“ im März 2000, einer Rubrik mit | |
| Alltagsbeobachtungen, das Ende der 90er in Berlin einläutete – denn nun war | |
| eine Hierarchie gefunden. Das Unwichtige durfte nur noch am Rand passieren. | |
| Das vermeintlich Bedeutsame rutschte nach oben. | |
| Aber hat die taz auch berichtet, was außerhalb der Kulturszene in den 90ern | |
| passierte? Dimitri Hegemann, der Erfinder des Tresors, hat einmal gesagt: | |
| „Geld war damals kein Thema – man machte einfach. Man hat das überhaupt | |
| nicht so wirtschaftlich berechnet.“ Aber so ging es natürlich nicht jedem, | |
| wie der Film „Das Leben ist eine Baustelle“ eben zeigt: Während das | |
| Mädchen, so sympathisch sie auch rüberkommen mag, mit der ökonomischen Not | |
| spielt, muss der Junge ackern und buckeln, um wenigstens etwas zu beißen zu | |
| haben. | |
| In den Jahren 1991 bis 2003 verschwanden in Berlin 300.000 | |
| Industriearbeitsplätze. Der Abbau der Doppelverwaltung binnen kürzester | |
| Zeit hat noch mal viele Stellen gekostet. Die Arbeitslosigkeit stieg | |
| kontinuierlich an und [2][erreichte 2005 mit über 19 Prozent ihren | |
| Höchststand]. In Ostberlin wurde die Industrie fast restlos zerschlagen, | |
| Betriebsschließungen und Massenentlassungen gehörten zum Alltag. | |
| Und im Westteil zogen viele Betriebe weg, weil die Berlinzulage als | |
| Ausgleich für die Inselsituation obsolet geworden war. Die Verschuldung der | |
| Stadt stieg von 5,5 Milliarden Euro im Jahr 1989 auf erschreckende 38 | |
| Milliarden Euro im Jahr 2001. Noch 2004 war das Bruttoinlandsprodukt der | |
| Stadt sogar niedriger als 1991. | |
| Vielen war lange nicht bewusst, dass die Menschen nicht nur in Ostberlin um | |
| ihren Platz in der Stadt rangen. Die türkischen Einwanderer, die sich in | |
| der Mauerstadt vergleichsweise gut eingerichtet hatten, wurden plötzlich in | |
| großer Zahl arbeitslos und hatten mit neuem Rassismus zu kämpfen. | |
| Während sich viele Ostdeutsche, die an die sozialistische Kollektivvorsorge | |
| gewöhnt waren, für ihre Arbeitslosigkeit persönlich verantwortlich fühlten, | |
| wurden viele Türkischstämmige nicht mehr eingestellt, weil den deutschen | |
| Arbeitssuchenden der Vorrang gegeben wurde. | |
| Erst vor Kurzem, am 30. Jahrestag der deutschen Einheit, [3][berichteten | |
| die taz-Kolleginnen Manuela Heim und Alke Wierth] im taz-Berlinteil, dass | |
| die Stadt vielleicht heute weniger in Sachen Habitus und Verständnis | |
| zusammengewachsen ist als in Sachen Armut. Denn die Armut hat sich in | |
| Berlin auch wegen der verrotteten Schulen verfestigt. Laut Armutsbericht | |
| des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 2019 gehört Berlin mit Bremen, | |
| Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zu den vier Bundesländern mit den | |
| höchsten Armutsquoten in der Bundesrepublik. | |
| Aber natürlich war die die Armut, die damals entstand, auch schon in den | |
| 90ern Teil der Berichterstattung im Berlinteil der taz. Im Archiv finden | |
| sich zahlreiche Texte über die größer werdende Einkommensschere, den | |
| Anstieg von Kinderarmut und Verelendung in den Innenstädten, über die | |
| Forderung nach kleinen Schulklassen in Problembezirken, zunehmende | |
| Frauenarbeitslosigkeit, Suchtambulanzen, Obdachlosenzahlen. | |
| Ein paar der schönsten Artikel sind im Rahmen der kleinen Serie „Sind Sie | |
| beschäftigt?“ im Sommer 1998 erschienen. Darin ließ die 2018 verstorbene | |
| taz-Kollegin Barbara Bollwahn Arbeitslose, Unternehmer, Krankenschwestern | |
| und Rentner zu Wort kommen. Sie sprechen sehr eindrücklich über ihre | |
| Arbeit, ihre Arbeitsmoral und die Berliner Arbeitslosenzahlen. | |
| ## Das Land machte Ausverkauf mit seinen Grundstücken | |
| Die unzähligen Freiräume, von denen die Berliner Kreativen so sehr | |
| profitierten, entstanden also nicht nur wegen der ungeklärten | |
| Besitzverhältnisse und des Zusammenbruchs der Verwaltungen in Ostberlin, | |
| sondern auch weil einfach niemand in dieser Stadt Geld in die Hand nehmen | |
| konnte oder wollte. Der Leerstand wurde derart eklatant, dass die Stadt | |
| viele Liegenschaften verkaufte, die sie heute sehr gern zurückhätte. Die | |
| Senatsverwaltung für Stadtentwicklung rief noch 2007 in ihrer Verzweiflung | |
| das Konzept Zwischennutzung zum Gebot der Stunde aus. Damals lagen mehr als | |
| 5.000 Grundstücke brach. | |
| Das zog viele Kulturschaffende in diese Stadt, ohne dass sie diese | |
| Zusammenhänge unbedingt immer erkannt hätten. Wenige von ihnen fragten | |
| danach, ob ihre Freiheit auch die Freiheit der anderen war, also die | |
| Freiheit jener, mit denen man oft nur in Filmen wie „Das Leben ist eine | |
| Baustelle“ in Berührung kam. Anders gesagt: Armut ist nur sexy für jene, | |
| die die Wahl haben, auch wieder aus ihr rauszukommen. | |
| Eine der wenigen, die fragte – wenn auch erst in der Rückschau –, war die | |
| Autorin Anke Stelling, die 1991 nach Berlin gekommen ist. Damals, sagt sie, | |
| habe es selbst noch im gutbürgerlichen Westbezirk Charlottenburg nach | |
| Braunkohle gestunken. | |
| Stelling erzählt [4][in ihrem Buch „Bodentiefe Fenster“] aus dem Jahr 2015 | |
| vordergründig von einer Baugruppe in Prenzlauer Berg, eigentlich aber von | |
| einem großen Berliner Versprechen der 90er: dass nämlich hier, in dieser | |
| tollen Aufbruchzeit voller Leichtigkeit und Unbeschwertheit, alle gleich | |
| waren; dass sich alle gleichermaßen wenig für Finanzielles interessieren | |
| mussten und daher alle die gleichen Möglichkeiten hatten, sich ohne | |
| Rücksicht auf Verluste selbst zu verwirklichen. | |
| Dieses Versprechen enttarnt Anke Stelling als saftige Lüge. Schon Anfang | |
| der 90er machte es einen Riesenunterschied, welchen Hintergrund man hatte, | |
| und zwar auch innerhalb der Szene selbst. Und während die mit dem richtigen | |
| Hintergrund, die mit den schlauen Eltern, die schon vorm Immobilienboom | |
| eine kleine Eigentumswohnung für den Nachwuchs erstanden hatten, darüber | |
| Bescheid wussten, fuhren die mit dem falschen Hintergrund entweder sofort | |
| oder auch erst ein paar Jahre später oft krachend an die Wand. Sie merkten | |
| plötzlich, dass das prekäre Leben mit zunehmendem Alter oder mit Kindern | |
| nicht einmal mehr ansatzweise funktioniert. Viele von ihnen wurden aus der | |
| Stadt verdrängt. | |
| Im Grunde schreibt Anke Stelling, wenn auch natürlich viel komplexer, aus | |
| der Perspektive des Jungen in „Das Leben ist eine Baustelle.“ Für ihn geht | |
| es anders als für das Mädchen mit der Baskenmütze ums Eingemachte. Am Ende | |
| fährt sie zufällig in einer Tram an ihm vorbei. Er rennt ihr in einem | |
| lächerlichen Kükenkostüm hinterher, das er für ein paar Mark die Stunde zur | |
| Neueröffnung einer Parfümerie anziehen sollte, und stellt sie zur Rede, | |
| endlich. „Was willst du eigentlich von mir?“, schreit er sie mitten in der | |
| Tram an, mit seinem gelben Kükenkopf unterm Arm. „Ist das so 'ne Art netter | |
| Spaß für dich?“ | |
| 9 Nov 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rueckblick-auf-40-Jahre-taz-Berlin-I/!5723418 | |
| [2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2519/umfrage/entwicklung-der… | |
| [3] /Deutsche-Einheit-und-Berlin/!5715539/ | |
| [4] /Roman-ueber-enttaeuschende-Baugruppen/!5201633/ | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
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