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# taz.de -- Ein Spaziergang mit Interview: „Das ist mir menschlich sehr fern�…
> Lorenz Just ist in den 1990ern in Mitte aufgewachsen und hat darüber
> seinen ersten Roman geschrieben. Ein Gespräch über Berlin damals und
> heute.
Bild: „Wir wohnten gleich hier um die Ecke“, erzählt Lorenz Just beim Spaz…
taz: Herr Just, Sie sind hier im Stadtteil Mitte, in dem wir gerade
herumspazieren, aufgewachsen. Und jetzt wohnen Sie wieder hier?
Lorenz Just: Insgesamt war ich 15 Jahre weg. Und ja, ironischerweise sind
wir ausgerechnet hier in Mitte in einer bezahlbaren Wohnung untergekommen.
Ich war in der Zwischenzeit aber oft hier. Dafür gab es immer gute Gründe,
und wenn es keine gab, habe ich sie mir organisiert.
Es heißt immer, Berlin sei eine unfertige Stadt. Hier in Mitte sieht sie
aber schon seit Jahren ziemlich fertig aus. Mögen Sie das noch?
Während des Abiturs bin ich immer sehr hektisch durch die Straßen gelaufen,
um mich von all den Leuten, von denen ich überhaupt nicht verstand, was die
hier eigentlich suchten, abzugrenzen. In Halle, wo ich dann studierte,
wurde ich ganz von allein wieder entspannter. Nach vier Jahren in Hannover
wollte ich dann aber unbedingt zurück. Und ich habe mir vorgenommen, mir
dieses neue Berlin nicht mehr so zu Herzen zu nehmen.
Und funktioniert es auch?
David Bowie hat wohl gesagt, dass Berlin die Heimat der Zugezogenen sei.
Vielleicht hat er damit recht.
Hilft es Ihnen, wenn man an einem ex-besetzten Haus wie dem da drüben
vorbeiläuft, das immer noch unsaniert ist und den Geist der Neunziger
atmet?
Natürlich. Auch in dem Haus, in dem ich jetzt wohne, leben Leute, die vor
20 oder 25 Jahren hergezogen sind und sich freuen, sich bis heute in Mitte
halten zu können. Es macht schon einen Unterschied, ob jemand nach Berlin
gekommen ist, weil er sich hier eine Miete oder eben Eigentum leisten
konnte.
Es gibt inzwischen einen ganzen Schrank voller Bücher über die Neunziger in
Berlin. Warum haben Sie mit „Am Rand der Dächer“ noch eins geschrieben?
Die übliche Erzählung handelt ja von jungen Erwachsenen, die im Berlin der
frühen Neunziger ihre Initiationsabenteuer erleben. Diese Phase endet dann
auf natürliche Weise, wenn die Protagonisten allmählich erwachsen werden.
Es harmoniert also mit der Entwicklung der Stadt, in die ja mit dem Ende
der Nachwendezeit auch wieder Ordnung einkehrte. Arm und Reich drifteten
auch räumlich weiter auseinander, das Bildungsbürgertum ging seine
altbekannten Wege und das Prekariat ebenso. Die Ausgangslage meiner
ProtagonistInnen ist aber völlig anders.
Wie denn?
Wir mussten weder gegen die Eltern rebellieren noch die Enge einer
DDR-Jugend abschütteln, da wir in den Umbruchsjahren der Wende sozusagen
unsere ersten eigenständigen Schritte in die Stadt getan haben. Das
Chaotische war für uns eine natürliche Gegebenheit. Es war gefühlt immer
schon da.
Sie beschreiben die Kindheit eines Jungen namens Andrej. Ihr Buch ist
wahrscheinlich sehr autobiografisch inspiriert?
Meine Eltern waren mit uns 1988 nach Berlin gezogen, und wir wohnten gleich
hier um die Ecke. Und wie Andrej habe ich auf dem Fußballplatz zwischen
Linienstraße und Auguststraße gespielt und auch mal bei Blau-Weiß-Berolina
ein Training absolviert. Inspiriert ist sicherlich zu wenig gesagt. Ich
wollte schon ganz konkret von dieser Zeit meines Lebens erzählen.
Das gelbe Haus hier am Ende der Kleinen Hamburger Straße, das im Buch
auftaucht, war wirklich in den Neunzigern besetzt. Stimmt denn auch Ihre
Anekdote mit der vereisten Fassade und den baumdicken Zapfen?
Ja, die Besetzer hatten in einer der kältesten Winternächte Gartenschläuche
aus den Fenstern gehängt und alles vereist. Es sah wunderschön aus. Kurz
darauf wurde es wärmer, die Zapfen fielen ab und rissen die letzten Reste
vom Stuck mit sich.
Aber das ist in Ihrem Roman eher eine Seitengeschichte, oder?
Die Besetzerszene war eher ein Paralleluniversum zum normalen Leben, das ja
immer noch stattfand. Besetzte Häuser waren andere Planeten und sind sehr
wenig aufgegangen im normalen Leben vor Ort.
Wollen wir weitergehen?
Gern. Wir könnten durchs alte Leihamt auf den Spielplatz in der Bergstraße,
da können wir gut in der Sonne sitzen.
Gute Idee. Man muss Ihren Roman nicht wie einen historischen Stadtführer
lesen. Man kann ihn auch als Buch über eine perfekte Kindheit verstehen,
die viele Menschen heute höchstens noch ihren Kindern zugestehen, wenn sie
auf einer autofreien Nordseeinsel leben.
Beim Schreiben dachte ich auch manchmal, dass ich da eine Dorfjugend
beschreibe. Kinder auf dem Dorf leben auf eigene Faust, gehen in den Wald,
in die Felder, bauen Hütten, Baumhäuser …
… und fahren mit dem frisierten Moped 70 Kilometer die Stunde den Berg
runter …
… und finden es gar nicht so besonders, wie ich in meinem Buch Kindheit
beschreibe. Was ja auch irgendwie lustig ist. Dass wir mitten in der
Hauptstadt machen konnten, was wir wollten, und dabei im Grunde sicher
waren.
Die Kinder heute werden total überwacht. Ist das wirklich nötig?
Vor Kurzem wurde im Monbijoupark ein 13-jähriger Junge erstochen, was
einfach unglaublich traurig ist und hoffentlich nie wieder passiert.
Zuletzt ist es hier sicher der Autoverkehr, der die Eltern davon abhält,
ihre Kinder zum Spielen auf die Straße zu schicken.
Aber Sie beschreiben in Ihrem Buch doch auch gefährliche Situationen! Zum
Beispiel den Verrückten im Monbijoupark.
Der stellte sich ja als harmlos heraus. Ich habe mich kürzlich mit einer
Bekannten unterhalten, die Menschen mit Beeinträchtigung betreut, und sie
kannte ihn.
Ehrlich?
Ja, der wohnt immer noch im betreuten Wohnen in der Oranienburger. Die
eigentliche Gefahr, also die „Baseballschläger-Jahre“, fanden in anderen
Bezirken statt. Ein Schulfreund von mir, dessen Eltern aus der Mongolei
kamen, wohnte in Marzahn. Der musste schon aufpassen, um heil durch die
Straßen zu kommen.
Manchmal kippt die Freiheit der Kinder aber auch in Mitte ein bisschen in
Vernachlässigung, finden Sie nicht?
Ich finde, dass meine Protagonisten einen Draht zu ihren Eltern haben und
die Eltern auch zu ihnen. Das kann ja auch gut sein, wenn jeder seinen
eigenen Sachen nachgeht und man sich nur beim Frühstück oder wo auch immer
begegnet. Kann ja niemand die ganze Zeit ein Familienfest feiern.
Aber entgleitet Andrej nicht manchmal den Eltern?
Die Eltern erkennen eher die offensichtlicheren Probleme. Im Buch liegt
Andrejs Bruder berauscht in seinem Zimmer, kann nicht aufstehen, ist nicht
ansprechbar. Ich denke, da springen Eltern eher darauf an als auf ein
stilles Kind, das oberflächlich einen ganz guten Eindruck macht. Vielleicht
fragen sie da lieber gar nicht so genau nach.
Ich finde, es ist eine tolle Pointe, dass Andrej und sein bester Freund
Simon irgendwann in die Wohnungen einbrechen und kaum etwas von dem ganzen
Krempel, den sie da finden, mitgehen lassen. Warum wirkt das einfach
überhaupt nicht unmoralisch, was die beiden da machen?
Sie haben das einfach immer gemacht, sind über die Dächer ganzer Blocks
geklettert und haben die langen Hinterhofketten zwischen den Straßen
erkundet. Dass diese Offenheit dann verschwindet, können Andrej und Simon
nicht sofort akzeptieren, sondern machen weiter wie vorher. Außerdem sind
sie neugierig auf diese neue Welt auf ihren Dächern. Ich meine: Wer kann
sich schon vorstellen, wie Brad Pitt in seiner Dachgeschosswohnung in der
Linienstraße wohnt.
Macht er das?
Heißt es. Ich habe keinen Schimmer.
Wird die Neugierde der beiden Jungen am Ende befriedigt?
Natürlich nicht. Zuletzt hat ja doch jeder nur Sofa und Fernseher im
Wohnzimmer stehen.
Berlin passt irgendwann nicht mehr zu Andrej und Simon, oder?
Sie bräuchten mehr Zeit, um sich zu entwickeln. Die Stadt tut das einfach
viel schneller als sie.
Es ist auch spannend, dass Sie das Ostberlin der 1990er Jahre nicht wie so
oft nur als Abenteuerspielplatz beschreiben, sondern auch als hartes
Pflaster. Wie kommt die Armut, die Berlin damals in weiten Teilen geprägt
hat, in Ihr Buch?
Wenn man DDR-Eltern hatte, waren die Verhältnisse sowieso vermischter. Wir
haben es wirklich nicht gelernt, die feinen Unterschiede zu registrieren.
Ich habe erst beim Aufschreiben des Buchs reflektiert, dass zum Beispiel
Annika, die Freundin von Andrej, die natürlich auch ein reales Vorbild hat,
aus völlig anderen Verhältnissen kam. Das war mir damals nicht bewusst.
Übrigens laufen wir gerade an dem Haus vorbei, in dem Simons reales Vorbild
gewohnt hat. Ich habe ihm das Manuskript geschickt, bevor es endgültig in
den Druck ging. Er meinte, ich hätte alles erstaunlich gut eingefangen.
Warum waren die Kinder nicht nur unbeschwert?
Es war blöd für die Kinder, dass es damals gar keine Politik für sie gab.
Es gab einen einzigen Jugendclub, in der Auguststraße, der hieß „No way
Alter“. Ich habe das immer falsch verstanden, eher im Sinne von „Zeitalter
der Ausweglosigkeit“. Ich meine: Auch wenn alles abenteuerlich war, war es
natürlich verwahrlost. Dieser Spielplatz hier, der stank überall nach
Pisse. Was die Stadt machte, hatte mit uns Kindern nichts zu tun. Man
fühlte sich nicht wahrgenommen oder angesprochen, mitzumachen, wir fühlten
uns nie als Teil von irgendwas – was sicher auch mit den Ost-Eltern zu tun
hat. Wenn ich mir heute die Fridays-for-Future-Bewegung ansehe, finde ich
es toll, wie zuständig sich diese Jugend fühlt. Das wurde mir nicht in die
Wiege gelegt.
Würden Sie eigentlich sagen, dass Sie noch DDR-sozialisiert sind?
Diese Frage wird in letzter Zeit häufiger gestellt, sicherlich durch das
stärkere Denken in Identitäten. Für mich kommt sie eigentlich zu spät. Ich
habe mir abgewöhnt, darüber nachzudenken. Wenn ich mit Anfang 20 von Ost
und West sprechen wollte, hieß es bloß, das gibt es nicht mehr. Von
irgendwelchen Ost-Identitäten wollten die Kommilitoninnen und Kommilitonen
aus dem Westen nichts hören. Wenn ich heute den DDR-Stempel auf meiner
Geburtsurkunde sehe, erstaunt es mich.
Waren Ihre Eltern nach der Wende sehr beschäftigt?
Meine Eltern sind relativ glimpflich davongekommen. Meine Mutter hatte im
Verlag gearbeitet und entschied sich nach der Wende, Lehrerin zu werden an
einer Schule, die damals ziemlich chaotisch war – inzwischen ist in dem
Gebäude eine absolute Vorzeigeschule untergekommen. Und mein Vater hatte
das Glück, dass die Hanns-Eisler-Hochschule nicht geschlossen wurde.
Ist es als Kind nicht auch beflügelnd, wenn einem nicht so viel vorgegeben
wird?
Ich denke, jede Kindheit fordert und verunsichert – und es kann einen viel
schlimmer treffen als Andrej. Manche von uns sind ganz normal spießige Wege
gegangen. Andere haben gar keinen Fuß in die neue Gesellschaft bekommen.
Und dann gab es Wege wie meinen eigenen, der irgendwie schon aufgeht, aber
auch ein ziemliches Zickzack ist.
Wie sind Sie dazu gekommen, Islamwissenschaften zu studieren?
Ich wusste nach dem Abitur überhaupt nicht, was ich machen will. Ich habe
mich für völlig unterschiedliche Sachen interessiert, habe ich mich sogar
beim BKA beworben, aber Gott sei Dank den psychologischen Test nicht
bestanden. Die haben mir bescheinigt, dass ich kein Verständnis für
Hierarchien habe. Beim Arbeitsamt wurde mir empfohlen, Stuckateur zu
lernen, was vielleicht schlau gewesen wäre.
Und dann?
Im Grunde reime ich es mir heute so zusammen, dass ich ja zum
Schüleraustausch in den USA war. Und gerade als ich zurückkam, krachten die
Flugzeuge ins World Trade Center. Es hat mich einfach interessiert, was da
los ist. Dass plötzlich eine ganze Region hinter einem Feindbild
verschwindet.
Und nach dem Studium ging es ans Literaturinstitut nach Leipzig?
Ja, kurz nachdem ich meine Magisterarbeit über die Mongolen im Iran des 13.
Jahrhunderts fertig hatte.
Hui.
Ich hatte einem Bekannten Texte geschickt, und der meinte, dass ich mich
doch da bewerben könnte. Auf diese Idee war ich nie gekommen. Ich? Am
besten Institut in Deutschland für Schriftstellerei? Ich weiß auch nicht,
vielleicht ist das ja meine ostdeutsche Mentalität. Dass man immer denkt,
das wirklich Gute ist für die anderen.
War es denn so gut in Leipzig?
Ich kam ja aus einer Welt der Unmöglichkeiten. Meine Grundschule wurde
geschlossen, mein Gymnasium abgerissen. An der Uni ging es immer nur um
Stellenstreichungen, und wir mussten das Prorektorat besetzen, um
wenigstens zwei Professuren zu behalten. In Leipzig gab es plötzlich Geld.
Da wurde überlegt, welche Gastdozenten sie einladen. Das war was Neues.
Ach, da hinten taucht ja das Tacheles auf. Oder vielmehr das, was davon
übrig ist. Sie haben eben gesagt, dass Sie sich nicht mehr über die
Veränderungen in Berlin aufregen wollen. Schaffen Sie das auch hier?
Ich verstehe ja, dass Häuser repariert werden, wenn sie kaputt sind. Aber
wie das Tacheles jetzt von allen Seiten eingemauert ist, ist mir
unheimlich. Man könnte ganz Berlin anhand dieser Immobilie durcherzählen.
Was für ein komisches Ende. Und wie wenig ernst solche Orte genommen
wurden. Sie werden eingekauft, grundlegend umgestaltet, und trotzdem wird
noch versucht, ihr kulturelles Kapital auszuschlachten. Schrecklich!
Trotzdem, ich will mich dem Frust nicht hingeben.
Wird Berlin anders bleiben als andere Metropolen?
Als Standardmetropolen? Weiß ich nicht.
Immerhin haben wir jetzt eine breite Mietenbewegung und den Mietendeckel.
Ja, und andererseits entstehen Viertel wie die am Hauptbahnhof, und die
werden immer größer. Ob die guten Kieze bestehen bleiben, das weiß ich
nicht.
Also regen Sie sich doch auf?
Natürlich. Ich kann die Ignoranz mancher Leute einfach nicht verstehen,
mitten in Berlin dieses unglaublich wohlhabende, der Stadt so fremde Leben
führen zu wollen. Reihenhausvilla mit Porsche in der Tiefgarage mitten im
roten Wedding? Das ist mir menschlich wirklich sehr fern.
20 Dec 2020
## AUTOREN
Susanne Messmer
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