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# taz.de -- Buchbranche in Berlin: „Es braucht ein bisschen Wahnsinn“
> Britta Jürgs verlegt Bücher jüdischer Autorinnen aus den zwanziger und
> dreißiger Jahren: Die seien uns oft näher als mancher Roman aus den
> Neunzigern.
Bild: Verlegerin Britta Jürgs hat vor allem Bücher von Frauen im Programm
taz: Frau Jürgs, Sie sind glückliche Gewinnerin des Berliner
Verlagspreises. Wie fühlt sich das an?
Britta Jürgs: Das fühlt sich toll an. Es ist ja schon ein
Wahnsinnserfolg, überhaupt auf der Shortlist aufzutauchen. Aber dass es
auch noch der Hauptpreis werden würde, das hat mich wirklich umgehauen. Es
ist eine unheimliche Auszeichnung, eine große Wertschätzung und ein Ansporn
weiterzumachen.
AvivA kommt aus dem Hebräischen und ist die weibliche Form von Frühling.
Sie verlegen vor allem Bücher jüdischer Autorinnen aus den zwanziger und
dreißiger Jahren. Warum interessieren Sie sich so für diese Literatur?
Das ist eine Zeit, in der ich mich schon immer gern literarisch bewegt
habe. Es war eine Zeit des Aufbruchs, besonders für die Frauen ist da
wahnsinnig viel passiert. Angefangen habe ich eigentlich mit Porträtbänden
über Künstlerinnen und Schriftstellerinnen aus verschiedenen Epochen. Dann
fand ich in einem Antiquariat den Roman „Die Bräutigame der Babette
Bomberling“ von Alice Berend aus dem Jahr 1915. Ich habe noch dort
angefangen zu lesen und musste gleich lachen. Es ist ein wunderbarer
Berlinroman, köstlich ironisch. Ich habe mich also auf die Suche nach
dieser Autorin gemacht, bis ich irgendwann ihre Enkelin fand und die Rechte
erwerben konnte. Das war der Anfang meines Schwerpunkts. Ich liebe Bücher
mit Witz und Zeitkolorit wie die von Ruth Landshoff-Yorck oder [1][Lili
Grün], aber am meisten faszinieren mich immer noch diese modernen
Frauenfiguren. Das hat sehr viel mit uns zu tun. Die Bücher der zwanziger
Jahre sind uns oft viel näher als solche, die vielleicht nur zwanzig,
dreißig Jahre alt sind.
Hat sich das Frauenbild nach den Rückschlägen in den vierziger und
fünfziger Jahren je erholt?
Ich sage es mal so: Ich finde, wir können uns noch viel von diesen
Autorinnen der zwanziger Jahre abgucken. Die waren zum Teil weiter als wir.
Neben Ihnen hat die Edition Orient für arabische Literaturen einen Preis
erhalten und der Querverlag mit seinem schwul-lesbischen Programm. Fühlen
Sie sich gut aufgehoben in dieser Gesellschaft?
Ich fühle mich in wunderbarer Gesellschaft. Es ist ein ganz besonderes
Zeichen für die Vielfalt und passt sehr gut zu Berlin, der Stadt, in der
ich lebe und in der so viele VerlegerInnen, AutorInnen, ÜbersetzerInnen und
HerausgeberInnen wirken. Das Einzige, was ich bedaure, ist, dass man das
gerade nicht richtig schön feiern kann – mit den KollegInnen und all jenen,
die dazu beigetragen haben, dass der Verlag jetzt da ist, wo er ist.
Der Preis ist mit 35.000 Euro dotiert. Hilft das denn?
Es ist eine ganze Menge Geld, mit der man auch viel anfangen kann. Einige
neue Projekte kann ich jetzt beruhigter angehen, ebenso wichtige
Nachdrucke. Bei der technischen Ausstattung gibt es auch das eine oder
andere, das ausbaufähig ist.
Das Geld wird also nicht ausschließlich ins Pandemiejahr 2020 fließen?
Das Jahr hätte für den Verlag schlimmer sein können, es lief erstaunlich
gut weiter, auch dank der vielen engagierten Buchhandlungen, die weiterhin
die unabhängigen Verlage begleiten und sich sehr dafür engagieren, dass
nicht alles in einem großen schwarzen Loch verschwindet. Andererseits haben
wir AutorInnen, ÜbersetzerInnen, HerausgeberInnen, deren Veranstaltungen,
Ausstellungen und Workshops alle verschoben wurden. Und das
Frühjahrsprogramm ist komplett untergegangen. Da hatte ich ein Buch, das
durch die Pandemie völlig in der Versenkung verschwunden ist. Es ist ein
schwieriges Buch mit Porträts von Frauen aus Georgien während des Kriegs
2008. Dass das untergegangen ist, das tut weh. Weder der Preis kann das
wiedergutmachen noch meine Grundhaltung, langfristig das Interesse auch an
den Titeln aufrechtzuerhalten, die nicht neu sind. Ohne Messen und
Lesungen, ohne Kontakt zu den LeserInnen fragt man sich oft, wofür man das
alles macht. Ich habe große Bauchschmerzen, wie es weitergeht in der
Buchwelt. Die ersten Veranstaltungen im nächsten Jahr sind auch schon
wieder abgesagt.
Sie sind auch Vorsitzende der Kurt Wolff Stiftung für die kleinen und
unabhängigen Verlage. Wird die Pandemie Lücken reißen?
Für viele Branchen war es viel, viel schwieriger, weil sie das, was sie
tun, nicht mehr anbieten konnten. Trotzdem haben viele in der
[2][Buchbranche] sehr zu kämpfen. Noch ein Jahr mit reduzierter Präsenz:
Ich fürchte schon, dass da einige Insolvenzen auf uns zukommen werden.
Sind die LeserInnen 2020 solidarischer geworden, indem sie etwa nicht im
Internet bestellen, sondern im Buchladen – oder müssen sie allmählich
anfangen zu sparen und geben eher weniger für Kultur aus?
Ich hoffe natürlich darauf, dass nach wie vor noch der eine oder andere
Buchkauf drin ist. Wo kann man sich noch mit so wenig Geld so schön
inspirieren und entführen lassen und auch zu Hause auf dem Sofa die Welt
entdecken? Natürlich geht das nur, wenn die Existenz nicht gefährdet ist
und man nicht auf jeden Euro gucken muss.
Warum sind [3][unabhängige Kleinverlage] so wichtig?
Sie stehen für Besonderheiten und Profile, die sonst keiner hat, die ihre
LeserInnen finden. Man braucht viel Enthusiasmus, Herzblut und
Leidenschaft, diese Besonderheiten in die Welt und an die LeserInnen zu
bringen – auch wenn sich das nicht gleich auszahlt. Es gibt da ein Zitat
von Kurt Wolff, das vieles, was die KollegInnen ausmacht, sehr auf den
Punkt bringt und über das ich noch immer grinsen muss: Am Anfang war das
Wort und nicht die Zahl.
Sind Sie besser durch die Pandemie gekommen, weil Ihnen schlechte Bilanzen
weniger Angst einjagen als etwa einem Schuhhersteller?
Ganz genau. Wir sind krisenerprobt. Die vergangenen Jahre waren für uns
auch ohne das Virus schon sehr hart. Wir mussten die VG-Wort-Rückzahlungen
sowie die Insolvenz des Zwischenbuchhändlers KNV und die Portoerhöhungen
bei Büchersendungen auffangen. Da habe ich mich schon manchmal gefragt, ob
es sinnvoll ist weiterzumachen – auch wenn ich diese Frage immer wieder
bejaht habe. Es braucht allerdings schon ein bisschen Wahnsinn und ein
gutes Durchhaltevermögen.
Ihr Spitzentitel ist der Berlinroman „Patience geht vorüber“, ein 1931
erschienener, dann vergessener Roman der deutsch-amerikanischen
Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin Margaret Goldsmith. Wie
sind Sie auf diesen Roman gekommen?
Der Herausgeber Eckhard Gruber hat ihn mir vorgeschlagen. Schon nach der
Lektüre der ersten Seiten war ich begeistert. Ich kannte die Autorin
überhaupt nicht, auch wenn man sie hätte kennen können, denn immerhin hat
sie lang in Berlin gelebt, war eine Geliebte von Vita Sackville-West. Umso
witziger fand ich es, dass sie das Buch der Malerin Martel Schwichtenberg
gewidmet hat, die in einem der ersten Bücher bei AvivA porträtiert ist. Da
hat sich wirklich ein Kreis geschlossen.
9 Dec 2020
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## AUTOREN
Susanne Messmer
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