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# taz.de -- Lesen als Flucht vor Corona: Weiter im Text
> Unterwegs sein? Kann man jetzt nur noch im Text. Also kommen Sie mit, auf
> ein Bad im Wörter-See!
Bild: Wie wäre es mit einem erfrischenden Bad im Wörter-See?
Pssst. Hallo, Sie! Leser*in! Ja, Sie. Ich hab’ hier ein Textangebot, das
Sie nicht ablehnen können.
Texte sind wie Spuren, denen man folgen kann. Verkehrsmittel, die einen von
A nach B bringen, oder auch nicht. Begleiter beim Flanieren durch die
Auslagen von Ideen und Fantasien. Wegweiser in allerlei Wildnis. Nahrung.
Droge. Willkommenes Ärgernis. Nützlich oder überflüssig. Texte sind, was
Sie wollen. Und auch immer noch was anderes.
Gerade jetzt, [1][Leser*in], brauchen Sie Texte. Wo kommen Sie schon hin
ohne Texte in dieser Gemeinschaft der Isolierten? In dieser Zeit der
stillen Raserei? In diesem Weltverschwinden vor Ihren Augen? Unterwegs
sein, das können Sie jetzt fast nur noch mit uns. Damit Sie mal wissen, was
Sie an uns Texten haben.
Ich sag’s, wie es ist: Die meisten [2][Texte] fahren nur auf den Autobahnen
hin und her. Berlin, Paris, Wanne-Eickel... Von einem Textstau zur nächsten
Texta-Raststelle. Links und rechts Schallschutzmauern. Texte, die nie was
anderes sagen als das, was Sie je schon immer gewusst haben wollen.
Laaaangweilig.
## Wie das tropft und träufelt, spritzt und splascht
Ich bin da anders. Kommen Sie, wir nehmen eine Ausfahrt. Wir fahren über
die Dörfer des Wissens und der [3][Empfindungen]. Alleen der Pointen,
Tunnel der Ungewissheit, Brücken der Visionen. Wir sehen uns um. Und
unterwegs …Wie wäre es mit einem erfrischenden Bad im Wörter-See?
Wie das glitzert und glimmert, wogt und wellt, tropft und träufelt, spritzt
und splascht. Toll, was? Zugegeben: Wir Texte sind ein bisschen eitel.
Jeder Text hält sich selbst für super, das liegt in seiner Natur. Oder
haben Sie schon mal einen Text gelesen, der sich selber scheiße findet? Das
wäre rein handwerklich so anspruchsvoll, dass es schon wieder toll wäre.
Also jetzt weiter im Text. Texte kennen keinen Lockdown. Wir müssen uns
bewegen, bis zum Ende. Ein Wort folgt auf das andere, ein Satz folgt auf
den anderen, ein Abschnitt auf den anderen. Ein Text kann niemals stehen
bleiben. Stehen bleiben. Stehen bleiben. Es funktioniert einfach nicht.
Natürlich hätten wir auch gern ein Zuhause. Welcher Text träumt nicht von
einem schön gebundenen Buch mit Schutzumschlag, Hochglanz und abwaschbar,
mit einem festen Platz in einem Bücherregal? Bisschen retro, ich weiß. Aber
Bücherschränke sind auch der ideale Hintergrund für Skype-Gespräche und
Zoom-Konferenzen. Davon können kurze Textchen wie ich nur träumen. Aber ich
will nicht meckern. Dafür kommen wir ganz schön rum. Wer uns so alles
liest. Oder wenigstens damit anfängt. Wir Texte werden ja gern mal von
unseren Leser*innen verlassen. Aber es gibt auch ein paar richtig Gemeine
unter uns. Texte, die ihre Leser*innen verlassen. Einfach so stehen lassen.
Um die Ecke verschwinden, ganz woanders hin.
… die CDU nach Merkel wird sich offenkundig nur in eine Richtung bewegen.
Nach rechts. Der eine Teil will zum beinhart stalinistischen
Neoliberalismus der neunzehnhundertneunziger Jahre zurück. Der andere steht
schon mit einem Bein in einer populistischen Halbnazi-Koalition. Gemeinsam
sind sie unausweichlich. Da wäre ja ein hemmungsloser Opportunist wie
Markus Söder …
## Angst vor der Zombifizierung
Da sehen Sie es. Jetzt hat uns ein anderer Text gekreuzt. Es gibt so viele
davon, da bleibt das nicht aus, dass man sich gegenseitig über den Weg
läuft. Gerade hier draußen. Für Texte gilt übrigens das selbe wie sonst im
Verkehr: rechts vor links. Okay, wir Kleintexte sind manchmal zugegeben
schon ein bisschen albern. Es hat vielleicht mit der Angst vor der
Zombifizierung zu tun: Texte leben ja nur, wenn sie gelesen werden. Aber
sterben können sie auch nicht einfach. Und so irren einige von uns auf ewig
durch Netze und Fußnoten. Untot.
Wie dem auch sei. Jetzt verlassen wir aber wirklich alle ausgetretenen
Pfade. Wir sind im Urwald. Hier kann alles passieren. Hören Sie die Kakadus
schreien? Und diese schwere, süße Luft... Sie werden sich jetzt vielleicht
fragen: Gibt es hier Tiger? Natürlich gibt es hier Tiger. Was wäre ich denn
für ein Text, wenn es bei mir keine Tiger gäbe. Denken Sie an diese
verdammt starken Pranken, an die messerscharfen Krallen, an das Blut und
den brennenden Schmerz.
Nein, Entschuldigung, denken Sie jetzt auf keinen Fall an Tigerkrallen auf
nackter Haut. Hau ab, Tiger! Ich kann das. Ein Text kann einen Tiger
verschwinden lassen, wenn er ihn einfach nicht mehr erwähnt. Kein Tiger,
nirgends.
… dankbar greift der postdemokratische Diskurs die Kaperung des Wortes
„quer“ durch Rechte, Verschwörungsfantasten und durchgedrehte Esoteriker
auf. Querdenken ist nun generell verdächtig. Man muss nur die
Anführungszeichen weglassen, und schon hat man einen neuen Verdachtsfall.
Die Guten sind die Systemrelevanten und die Bösen sind die Querdenker.
Eigentlich ist alles quer, was nichts in unserer „Solidargemeinschaft“ zu
suchen hat. Weil …
Nicht einmal im Urwald hat ein Text seine Ruhe, der ausnahmsweise nicht vom
ganz normalen Wahnsinn handeln will. Es wird einfach zu viel getextet.
Ständig kommt einem etwas in die Que … Wo ist die Redaktion, wenn man sie
mal braucht? Auch Texte können sich mal verirren. Passen Sie auf, wo Sie
hintreten! Der Boden hier ist trügerisch. Hier weiß man nicht, wovor man
mehr Angst haben soll. Vor Tigern oder vor Texten.
Nur Mut! Wir haben es bald geschafft. Ein paar Worte noch, und dann sind
Sie wieder in Ihrer ganz normalen taz. Hell, rational, klug. Aber war doch
mal was anderes, oder? Nicht immer nur Sinn, Verstand und schlechte Laune.
Wir Textchen leisten uns eben auch mal einen kleinen Ausflug. Man gönnt uns
ja sonst nichts.
16 Dec 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Georg Seeßlen
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