# taz.de -- Roman „Winter“ von Autorin Ali Smith: Wir sind alle fragwürdig | |
> Schriftstellerin Ali Smith fragt, ob Literatur sich eignet, politische | |
> Umbrüche abzubilden. Dabei tut sie mit ihrem Roman „Winter“ mehr als das. | |
Bild: Auch sie fahren nach Weihnachten | |
Donald Trump ist auf dem Weg ins politische Aus und auch in Großbritannien | |
tut sich was: Dort gab Boris Johnsons Spin Doctor und Brexit-Hardliner | |
Dominic Cummings seinen Posten auf. Das „Ende der Macho-Ära“, frohlockte | |
der Guardian, inklusive eines neuen, gepflegten Umgangstons mit Presse und | |
Opposition. Die Zeichen stehen auf transatlantischem Neustart – zumindest | |
im politischen Feuilleton. | |
Eine, die dem proklamierten Wandel mit Vorsicht gegenüberstehen dürfte, ist | |
die Schriftstellerin Ali Smith. In deren nun übersetzen Roman „Winter“, dem | |
zweiten Teil ihres „Jahreszeitenquartetts“, erkundet „Schottlands | |
Nobelpreisträgerin auf Abruf“ (so der irische Autor Sebastian Barry) die | |
Möglichkeiten und Fallstricke sozialen Zusammenhalts: Sind unsere | |
Gesellschaften tatsächlich so polarisiert wie nie? Ist in einer Familie | |
noch genug Platz für unterschiedliche Weltanschauungen? | |
Smith’ Erkundung, deren Plot nicht an den Vorgängerroman „Herbst“ | |
anschließt, steigt im Rahmen einer mehrgenerationalen Weihnachtsgeschichte: | |
Sophia, griesgrämige Rentnerin, die „mit Melonen besser klarkam als mit | |
Kindern“, lebt allein in einem Landhaus in Cardiff. Ihr Sohn Arthur, „Art�… | |
soll eigentlich mit seiner Freundin Charlotte an Weihnachten zu Besuch | |
kommen. Weil die sich von ihm trennt, liest er die junge Lux auf der Straße | |
auf und bezahlt sie dafür, über die Festtage seine Freundin zu spielen. | |
Das Quartett komplett macht Sophias Schwester Iris, eine altlinke | |
Aktivistin, die eigentlich seit Jahrzehnten mit ihrer Schwester im Clinch | |
liegt. Begleitet werden die Protagonist*innen von einer geisterhaften | |
Erscheinung, dem körperlosen Kopf eines Kindes, der Sophia wie ein | |
schelmischer Traum umschwebt – Dickens’ Weihnachtsgeschichte, in der der | |
missmutige Scrooge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heimgesucht | |
wird, ist ein Referenzpunkt des Romans. | |
## Politischer als der Vorgänger | |
„Winter“ ist viel politischer als der Vorgängerroman „Herbst“: Iris ge… | |
zu den Frauen, die Anfang der achtziger Jahre den Atomwaffenstützpunkt | |
Greenham Common in England belagerten. Die echte Charlotte trennt sich von | |
Art, weil er, statt politisch zu sein, lieber gefakte Naturbeobachtungen | |
auf seinen Blog stellt. | |
Auch der Brand des Grenfell-Towers und die „sogenannte Abstimmung“ (Sophia) | |
zum Brexit grundieren das Buch. „Winter“ endet mit Trumps berüchtigter Rede | |
vor Pfadfindern im Juli 2017: In West-Virginia versprach er damals den Boy | |
Scouts, dass sie sich „beim Shoppen wieder ‚Frohe Weihnachten‘ wünschen�… | |
würden. | |
Smith’ Jahreszeitenzyklus ist ein erklärter Versuch, der politischen | |
Gegenwart Großbritanniens Post-Brexit den Spiegel vorzuhalten – Ende 2017 | |
erschien „Winter“ in Großbritannien, der letzte Band „Sommer“ kam in d… | |
Sommer heraus. Die dreijährige Verzögerung hierzulande bietet Gelegenheit | |
zu fragen, wie gut ihr literarisches Experiment altert – und ob die | |
Literatur sich dafür eignet, turbulente politische Umbrüche abzubilden. | |
Zum Glück weist „Winter“ weit über eine reine Dokumentation des | |
Zeitgeschehens hinaus. Zuvorderst verdanken wir das Smith’ Markenzeichen, | |
ihrer überbordenden Freude am Sprachspiel: So verwandelt sich nach einem | |
„Kopf-an-Kopf-Rennen“ der Kopf, erst „still wie ein Stein“, scheinbar | |
tatsächlich in einen Stein, oder vielleicht doch in eine Marmorskulptur der | |
Künstlerin Barbara Hepworth. | |
## Der Sprachwitz ist literarisches Programm | |
Ebenso wie die reichlichen Shakespeare- und kunsthistorischen Zitate ist | |
der Wortwitz bei Smith nie bloßer Zusatz, sondern literarisches Programm. | |
Umso schöner, dass die Übersetzerin Silvia Morawetz der Herausforderung | |
gewachsen ist und sich die deutsche Übertragung fast ebenso vergnüglich | |
liest wie das Original. | |
Am transatlantischen Disaster Trump/Brexit haben sich schon andere | |
Autor*innen abgearbeitet. Im Kontrast zu Sibylle Bergs | |
depressiv-fatalistischem „Grm“ und Olivia Laings beißend-melancholischem | |
„Crudo“ liest sich „Winter“ jedoch als Narrenstück. | |
Einem, in dem alle Figuren gleichermaßen zwischen Schein und Sein | |
umherirren: Art erscheint zwar kein Kinderkopf, aber zu später Stunde ein | |
ganzes Stück Landschaft frei überm Esstisch schwebend. Leichtfüßig | |
vorgeführt werden auch die Wirkungsmechanismen von Social Media: Arts Ex | |
rächt sich an ihm, indem sie auf seiner Twitter-Seite „@rt in nature“ die | |
Sichtung von auf den britischen Inseln nie gesehenen Vogelarten vortäuscht, | |
woraufhin eine Schar durchgeknallter Vogelbeobachter*innen im | |
Reisebus nach Cornwall reist. | |
Den Verkünder*innen dramatischer Nachrichten steht Smith skeptisch | |
gegenüber, besonders solchen, die mit der Behauptung von Zeitenwenden Geld | |
machen: „Panik. Angriff. Ausschluss. Schon sind die Nachrichten vorbei. Als | |
Nächstes erscheint auf dem Bildschirm Werbung für einen Softdrink.“ | |
## Endzeitstimmung als Konsumgut | |
Und während Sophia sich wie Trump wünscht, dass man sich endlich wieder | |
„Frohe Weihnachten“ wünscht, verkauft die Brexit-Befürworterin überteuer… | |
Lampen im Empire-Stil, um die Nostalgie ihrer Kund*innen zu befriedigen. | |
Endzeitstimmung als Konsumgut. Dass alles so schlimm ist wie nie, verneint | |
schließlich sogar Iris: „Ach, die Naivität und das Gift gab es schon immer. | |
Das Internet macht beides bloß sichtbarer.“ | |
Und überhaupt: Manche Dinge ändern sich nicht in Good ol’ Britain. Smith, | |
lesbischer Spross einer schottischen Arbeiter*innen-Familie, wird’s | |
wissen. Egal, ob Labour- oder Tory-regiert: In den letzten Jahrzehnten | |
haben immer stabil über 20 Prozent der britischen Parlamentarier*innen | |
eine Privatschule besucht, aktuell sind es 29 Prozent. | |
Gut und Böse ist in „Winter“ keine einfache Sache der Generationen (oder | |
des Geschlechts), und so stehen die vier Hauptfiguren ziemlich egalitär im | |
Zentrum des Textes. Weil das Gutmenschentum der linken Iris mitunter nervt | |
und die Einsamkeit Sophias trotz ihrer migrationsfeindlichen Reden | |
Mitgefühl erweckt, erscheinen am Ende sogar beide Schwestern ausreichend | |
charakterlich komplex und damit gleich sympathisch. | |
Dabei ist die Prämisse des Textes alles andere als politisch beliebig: | |
Indem er zerstrittene Figuren unter ein Dach und in die Auseinandersetzung | |
zwingt, schlägt er der Polarisierung ein Schnippchen. Konflikte sind in | |
Smith’ Welt kein Grund, jemanden zu canceln: „Wir sind alle zweifelhaft.“ | |
Und die ungleichen Schwestern Iris und Sophie bleiben schließlich sogar | |
„durch ihre Wut … miteinander... in Kontakt.“ Die Moral dieser | |
Weihnachtsgeschichte ist jedenfalls klar: Wer Differenz aushält, gewinnt. | |
2 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Eva Tepest | |
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