# taz.de -- Pilar Quintana, Autorin aus Kolumbien: Eine Art Lady Macbeth in bla… | |
> Im fabelhaften Roman „Hündin“ der kolumbianischen Autorin Pilar Quintana | |
> geht es um animalische Realität und Kinderlosigkeit. | |
Bild: Pilar Quintana erregte in Chile einen Skandal mit „Rotkäppchen vergrei… | |
Der Titel von Pilar Quintanas Roman, „Hündin“, verweist nur vordergründig | |
auf eine Story mit einem Haustier. Eine etwa 40-jährige schwarze | |
Kolumbianerin verzweifelt am Leben. Als Kind musste sie zusehen, wie ihr | |
weißer Freund, einziger Sohn reicher Eltern, von einer Welle ins Meer | |
gerissen wurde und starb. Ihr Onkel, bei dem ihre Mutter sie „abgelegt“ | |
hatte – der Vater war verschwunden –, prügelte sie tagelang, bis der | |
Leichnam des Freundes entdeckt wurde. Sie fühlt sich weiter schuldig an | |
diesem Tod. | |
Als junge Frau findet diese Damaris trotzdem einen Mann. Doch sie ist | |
unfruchtbar; Ersparnisse werden für Wunderheiler ausgegeben. Nichts hilft. | |
Das Paar verelendet immer mehr, auch seelisch. Sie „vertrocknet“, wie es | |
abschätzig heißt. Da findet sie einen jungen Welpen und päppelt die Hündin | |
hoch. Trägt sie zwischen ihrem BH, gibt ihr den Namen „Chirli“, wie sie | |
ihre Tochter genannt hätte. Alle ihre Gefühle investiert sie in Chirli. | |
Doch die Hündin erweist sich als undankbar, und Damaris greift zum | |
äußersten Mittel … | |
Der Roman spielt in einem Fischerdorf an den steilen Klippen und im Urwald | |
der Pazifikküste von Kolumbien, in der Provinz Valle del Cauca mit der | |
Hauptstadt Cali, wo Pilar Quintana 1972 geboren ist. Quintana lebte neun | |
Jahre in dem Dorf. Sie kennt aus eigener Anschauung die gewaltige Natur des | |
Meeres und des Urwalds sowie die gewaltige Armut der großenteils | |
afrokolumbianischen Bevölkerung, auch deren Mentalität, in der | |
Kinderlosigkeit als Makel gilt. | |
## Kalt, kahl und hart ist ihre Sprache | |
Kalt, kahl und hart, reduziert auf das Notwendige ist ihre Sprache, in der | |
sie ihre Figuren aufstellt. Kurze, schroffe Sätze, wie bei ihrem Vorbild | |
Ágota Kristóf. Wärmer, bildhafter, dramatischer wird sie, wenn der Urwald | |
und das Meer auftauchen. | |
Pilar Quintana arbeitete als Drehbuchautorin fürs Fernsehen, bevor sie sich | |
der Fiktion widmete. Ihr Erzählband „Rotkäppchen vergreift sich am Wolf“ | |
erschien 2012 und sorgte in Chile für einen Skandal, weil sie die sexuellen | |
Begierden einer Frau direkt, detailliert und drastisch beschrieb. Ihr Roman | |
„Hündin“ wurde 2017 in Kolumbien publiziert und sofort ein großer Erfolg. | |
Der Titel wurde in 10 Länder verkauft, erhielt 2018 den Preis der | |
Biblioteca de Narrativa Colombiana, 2019 den English Pen Award und stand | |
jetzt, 2020, unter den drei Finalisten des National Book Award für | |
übersetzte Literatur in den USA. | |
Ihr internationaler Durchbruch führte auch dazu, dass ihr | |
„Rotkäppchen“-Band in diesem Jahr neu aufgelegt wurde und die Autorin in | |
den kolumbianischen Zeitungen ständig interviewt wird. Pilar Quintana | |
bekennt sich darin als Feministin, die das weibliche Begehren einfordert | |
und das Tabu „aufs Tapet bringt“, auch wenn es „monströs“ ausfällt. D… | |
die Mechanismen des „Machismo“ entlarvt. | |
## Die dunkle Seite der Begierde | |
Quintana lässt sich von keiner Moral vorschreiben, was sie zu schreiben | |
hat; vor allem von keiner männlichen. Und sie entwickelt dabei eine eigene, | |
eine Antimoral. Sie deckt die dunklen Seiten der Begierde auf, das | |
Verdrängte, Instinkthafte, Animalische im Menschen. Sie fragt, wie einst | |
Büchner: „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ Quintana wendet | |
sich gegen die Idealisierung der Frau wie einst Büchner gegen den deutschen | |
Idealismus. So weit ihr „Rotkäppchen“-Programm. | |
In ihrem neuen Roman geht sie noch weiter. Sie richtet sich auch gegen die | |
Idealisierung der Tiere. Tiere sind nicht die besseren Menschen, wie uns | |
bestimmte Tierschutzfanatiker weismachen wollen. | |
In der sonst so überzeugenden deutschen Übersetzung von Mayela Gerhardt | |
fehlt das Zweideutige des spanischen Originaltitels „La perra“, das der | |
US-amerikanische Buchtitel mit „Bitch“ trifft. „Chirli“ ist kein Hundil… | |
kein „Puppy“, wie es so nett im Englischen heißt. Das Püppchen entpuppt | |
sich als Schlampe, als läufige Hündin, die sich von jedem dahergelaufenen | |
Köter schwängern und die sorgende Ersatzmutter sitzen lässt. | |
## Das Hündische in Damaris | |
Hintergründig weist dieser Roman als Parabel auf ein Phänomen hin, das der | |
französische Philosoph Francis Wolff kurz gefasst folgendermaßen | |
beschreibt: Je mehr der Mensch das Tier humanisiert, desto bestialischer | |
wird er selbst. Damaris, die Hauptfigur, wird am Ende selbst zu einer Art | |
Hündin. Zu einer Lady Macbeth in black. | |
Der Roman hat einen allgemeingültigen Anteil. Denn auch oder gerade [1][in | |
der westlichen Gesellschaft neigen vereinsamte Menschen] dazu, Tiere als | |
Ersatz zu benutzen und zu „humanisieren“. Aber „Hündin“ ist insbesonde… | |
kolumbianisch. Quintana skizziert mit wenigen Strichen, aber atmosphärisch | |
dicht die Bedrohung des Humanen durch Gewalt und Verarmung, auch vermittelt | |
durch das Sinnbild des Urwalds, der Klippen am Meer, der Giftschlangen, der | |
Geier, der Ameisen und Riesenmotten, die in die Hütte der „Hündin“ | |
vordringen und ihr Schicksal verdunkeln. | |
„Wir denken uns gerne als vernünftige Wesen, von den Tieren unterschieden“, | |
sagt Quintana in einem Interview, „aber wir sind selbst in unserer | |
Rationalität noch tierhaft.“ | |
„Der Schlaf der Vernunft erzeugt Monster“, sagt der Maler Goya zweideutig. | |
Die Vernunft verbirgt Abgründe, aber sie kann sie auch entbergen. Quintana | |
hat ihren Roman als junge Mutter in den Pausen geschrieben, in denen ihr | |
Baby schlief. Nur wer wach bleibt und das Grauen wahrnimmt, kann es – | |
vielleicht – meiden. Pilar Quintana ist eine hellwache Autorin. | |
30 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ruthard Stäblein | |
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