| # taz.de -- Buch über die Verbrechen in Kolumbien: Der Gewalt nicht entkommen | |
| > Staatsanwältin Bernal erzählt in ihrem Buch literarisch von der Gewalt in | |
| > Kolumbien. Der Titel: „Las lenguas cortadas“ – die abgeschnittenen | |
| > Zungen. | |
| Bild: Medellin 2009, ein Kind steht vor den Fotografien von Toten des Bürgerkr… | |
| FREIBURG taz | Zum Beispiel Rosadalia. Die Frau mit dem überschäumenden | |
| Lachen und den beiden Töchtern. Sie stirbt in einer Telefonzelle durch zwei | |
| Kugeln der Paramilitärs. Weil sie als Hexe verrufen ist, will man später | |
| vom Täter wissen. Nein, sagt der, sie sei eine Helferin der Guerilla | |
| gewesen. Oder Estela, die sich nicht traut auch nur eine Minute die | |
| Anhörung eines tausendfachen Mörders zu verlassen, weil sie hofft, dass | |
| auch der Fall ihres verschwundenen Sohnes zur Sprache kommt. | |
| Es sind kurze, eindringliche Sequenzen, mit denen die Juristin Gloria | |
| Bernal Schlaglichter auf die alltägliche Gewalt in Kolumbien wirft. Es sind | |
| Szenen und Menschen, die ihr als Staatsanwältin begegnet sind oder von | |
| denen sie später als [1][Mitarbeiterin beim Friedensprozess] hörte und die | |
| sie zu literarischen Texten unter dem Titel „Las lenguas cortadas“ (Die | |
| abgeschnittenen Zungen) verarbeitet hat. Das schmale Büchlein, das auf | |
| diese Weise entstanden ist, liegt dreisprachig vor und es stand am Montag | |
| im Mittelpunkt eines Abends an der juristischen Fakultät der Universität | |
| Freiburg. | |
| Mit solchen Themen Zuflucht in der Literatur zu suchen, ist für eine | |
| Juristin, trotz manches schreibenden Anwalts oder Rechtsprofessors auch in | |
| Deutschland, ein eher ungewöhnlicher Ansatz. Zumal Bernal die Schrecken | |
| nicht mit nüchterner faktenbasierter Sprache eines Ferdinand von Schirach | |
| zeichnet, sondern mit einer Leidenschaft, die ihre Bewunderung für ihren | |
| [2][Landsmann Gabriel García Márquez] verrät. | |
| ## Ermittlung gegen bewaffnete Gruppen | |
| Gloria Bernal kennt den Bürgerkrieg in ihrer Heimat aus verschiedenen | |
| Perspektiven. Als regionale Staatsanwältin ermittelte sie gegen die | |
| bewaffneten Gruppen. Wegen Morddrohungen verbrachte sie einige Jahre in | |
| Frankreich. Nach ihrer Rückkehr ging sie an die Universität. 2008 arbeitete | |
| sie dann an leitender Stelle bei der Gesellschaft für Internationale | |
| Zusammenarbeit, um den Friedensprozess auf den Weg zu bringen. Heute ist | |
| Bernal als Strafrechtlerin in einer großen kolumbianischen Anwaltskanzlei | |
| tätig. | |
| An diesem Abend der juristischen Fakultät von Freiburg liest sie ihre | |
| literarischen Texte, dazu liefert sie Erklärungen zu politischen und | |
| gesellschaftlichen Hintergründen. Es ist ein bemerkenswerter Versuch, | |
| Literatur und Recht einmal mehr in Berührung zu bringen, „ein Crossover“, | |
| wie die gastgebenden Strafrechtsprofessoren Bernd Schünemann und Roland | |
| Hefendehl es nennen. | |
| Das Schicksal der kolumbianischen Frauen steht für Bernal im Mittelpunkt. | |
| Sie heißen Rosa oder Lucrecia und können der strukturellen Gewalt nicht | |
| entkommen. Alle Parteien des Bürgerkriegs hätten Frauen zu Trophäen und | |
| Objekten gemacht, sagt sie. Überkommene patriarchale Strukturen in den | |
| Dörfern sind bis heute unberührt in einem Land, in dem die Zentralregierung | |
| traditionell schwach ist. Die Gleichstellung der Geschlechter wurde erst in | |
| die Verfassung von 1991 aufgenommen. Immerhin waren Frauenbewegungen wie | |
| eine tragende Säule des Friedensprozesses der letzten Jahre. | |
| ## Erzählen, wo Recht versagt | |
| Gloria Bernal beschreibt mit ihrer bildreichen Sprache, was die Kolumbianer | |
| nach Hunderttausenden Toten selbst fatalistisch „die alltägliche Realität“ | |
| nennen. Wie soll eine Gesellschaft die Gewalt überwinden, wenn der eine | |
| Teil des Landes die Augen davor verschließt, was im anderen Landesteil | |
| passiert?, fragt Bernal. Wie soll eine sogenannte Übergangsjustiz | |
| versöhnend wirken, wenn die eigentliche Justiz in Teilen selbst korrupt ist | |
| oder keinen Zugriff auf bestimmte Regionen hat, fragen Zuhörer. | |
| Und was kann Literatur erreichen? Vielleicht ja etwas Ähnliches, wie die | |
| Wahrheitskommissionen in Kolumbien anstreben. Nämlich wenn die grausamen | |
| Taten schon nicht bestraft werden können, sie doch zumindest zu benennen | |
| und den Opfern damit eine Geschichte zu geben. | |
| Vielleicht ist das Schreiben für Bernal also auch eine Verzweiflungstat in | |
| einem Staat, in dem sich Recht allzu oft nicht durchsetzen lässt. Wo Justiz | |
| und Staat versagen, bleibt nur die Sprache. Und die Hoffnung, dass es neue | |
| Wege gibt. | |
| Gloria Bernal arbeitet heute als Rechtsanwältin, sie hat die Zuversicht | |
| offenbar nicht verloren. Auch wenn die letzten Wahlen in Kolumbien, die | |
| eine Mehrheit gegen den Friedensprozess erbracht haben, nicht gerade Grund | |
| zur Hoffnung geben. | |
| 20 Oct 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benno Stieber | |
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