# taz.de -- Autor Pedro Badrán im Gespräch: „Überall lockt die Korruption�… | |
> Der kolumbianische Schriftsteller Pedro Badrán über die Coronakrise, den | |
> stockenden Friedensprozess und die aktuelle Literatur Lateinamerikas | |
Bild: Explosion an Themen und Stilen – Autor Pedro Badrán | |
taz am wochenende: Senor Badrán, wie lebt es sich in Zeiten von Corona in | |
Bogotá? | |
Pedro Badrán: Nach einer Phase der strengen Quarantäne befinden wir uns | |
jetzt in einer Art der flexiblen Selbstisolation. Bogotás Bürgermeisterin | |
Claudia López verhängte am 20. März einen Lockdown. Aber Präsident Iván | |
Duque hat Schritt für Schritt Lockerungen verordnet, da die Wirtschaft | |
spektakulär abstürzte. Wir haben das schlimmste Quartal in der Geschichte | |
Kolumbiens hinter uns. Um der Wirtschaft auf die Beine zu helfen, hat Duque | |
am 19. Juni für einen Tag die Umsatzsteuer suspendiert, worauf die Massen | |
die Einkaufszentren stürmten. Die New York Times hat sich über die | |
Kolumbianer lustig gemacht. Die Ansteckungsrate ist immer noch hoch. | |
Wie sieht es aktuell aus? | |
Am 3. August standen wir bei 327.850 Infizierten und 11.000 Toten. Das ist | |
viel, aber nicht so schlimm wie in manchen anderen Staaten. | |
Wer profitiert politisch von der Pandemie? | |
Der rechtskonservative Präsident Duque hatte vor Corona Zustimmungswerte | |
von kaum 20 Prozent. Dank der täglichen Präsenz im Fernsehen als oberster | |
Krisenmanager liegt er nun bei über 50 Prozent. | |
Wie kommt das? | |
Vielleicht hat er mit seinen apokalyptischen Voraussagen zu Beginn der | |
Krise gepunktet. Tatsächlich geht es ja der Wirtschaft sehr schlecht. | |
Gustavo Petro, der ihm bei den Wahlen unterlegen ist, hat ihm die | |
Legitimität aberkannt, da Duques Wahlkampf teils durch Drogengelder | |
finanziert worden sei. Die Untersuchungen hierzu kommen aber nicht vom | |
Fleck. Der Generalstaatsanwalt ist ein persönlicher Freund Duques. Er | |
interessiert sich weniger für die Herkunft der Gelder Duques, sondern | |
verfolgt Whistleblower, die interne Telefonate öffentlich gemacht haben. | |
Schlittert Kolumbien gerade in eine neue autoritäre Phase? | |
Die Versuchung scheint immer präsent. Aber Corona hat nicht alle Skandale | |
verdrängen können. Dass Soldaten ein indigenes Mädchen im Cauca | |
vergewaltigt haben, löste weitere Ermittlungen aus. Sie zeigten, dass das | |
kein isolierter Fall ist, sondern in ein Verhaltensmuster der Armee passt. | |
Es sieht so aus, als betrachte man indigene Zivilpersonen insgesamt als | |
Gesetzlose. Der Fall zeigt auch, wie gering die Bemühungen sind, Soldaten | |
die Einhaltung der Menschenrechte beizubringen. | |
Wie hat sich die Coronakrise sonst ausgewirkt? | |
Wegen der Pandemie ist die Präsenz des Staats in vielen Regionen noch | |
spärlicher geworden. Kriminelle Gruppen wie Drogenbanden, Dissidenten der | |
Farc (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, Revolutionäre | |
Streitkräfte Kolumbiens, Anm. der Redaktion) und andere können ungestraft | |
AktivistInnen ermorden, die sich gegen Coca-Saaten oder andere illegale | |
Pflanzungen wenden. 94 Kongressabgeordnete der USA haben gerade bestätigt, | |
das Kolumbien eines der gefährlichste Länder für Verteidiger der | |
Menschenrechte ist. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr | |
2016 sind über 400 ermordet worden. Der Staat setzt sich kaum für deren | |
Schutz ein, verfolgt und bestraft die Täter zumeist nicht. | |
Die Regierung von Iván Duque scheint eine sehr widersprüchliche Haltung | |
gegenüber dem Friedensabkommen zu haben? | |
Das ist sehr freundlich formuliert: Sie hat schlicht kein Interesse an | |
dessen Umsetzung. Sie tut so, als würde sie sich bemühen. Aber in der | |
[1][Realität boykottiert sie den Friedensprozess]. | |
Warum? | |
Es gibt politische Gruppen, die den Konflikt brauchen, um ihre Haltung der | |
harten Hand zu rechtfertigen. Beobachter sagen, (Ex-Präsident) Álvaro Uribe | |
wäre nichts ohne Konflikt und ohne die Farc. Seine Politik erschöpft sich | |
in der Bekämpfung illegaler Gruppen. | |
Aber ist der Frieden für die kolumbianischen Eliten nicht einträglicher als | |
ein fortgesetzter Krieg? | |
Von Eliten zu sprechen, ist zu allgemein. Es geht um Gruppen innerhalb der | |
herrschenden Klasse. Der Friede und die vereinbarten Reformen berühren die | |
Interessen der Großgrundbesitzer und Rinderzüchter. Insbesondere die | |
Restitution geraubter Ländereien. | |
Kolumbien hat in seiner 200-jährigen Geschichte als Republik fast ständig | |
im Bürgerkrieg gelebt. | |
Es gab Zeiten des Friedens. Und es gab Kriege niedriger Intensität in teils | |
abgelegenen Regionen. In Städten wie Bogotá, Medellín oder Barranquilla | |
geht das Leben auch dann weiter, wenn kriminelle Banden weit entfernt | |
Bauern von ihrem Land vertreiben. Oder wenn illegal nach Gold oder | |
Smaragden geschürft wird. Eine Sache sind die Städte, wo fast 80 Prozent | |
der Bevölkerung leben, und eine andere das Land. Der 1948 ermordete | |
liberale Politiker Jorge Eliécer Gaitán sprach von einem politischen und | |
einem geografischen Land. In den Städten war der Krieg kaum zu spüren, auf | |
dem Land sind die Bauern der Gewalt unmittelbar ausgesetzt. | |
Ist das der Fluch des Reichtums? Kolumbien ist ja reich an Ressourcen. | |
Es gibt viele Gründe. Der Konflikt um die Kontrolle der Ressourcen ist | |
sicher einer davon. Der Reichtum ist in Kolumbien in sehr wenigen Händen | |
konzentriert. Und der Konflikt ums Land hat die Gewalt ausgelöst. Der | |
Drogenhandel ist nichts anderes als eine Antwort auf die Unmöglichkeit des | |
sozialen Aufstiegs. Er scheint nur mit illegalen Mitteln möglich. | |
Es gibt Studien, wonach man in Kolumbien elf Generationen benötigt, um aus | |
der Armut in den unteren Mittelstand aufzusteigen. | |
Vielleicht sind es jetzt weniger. Kolumbien ist das Land in Lateinamerika, | |
dessen Wirtschaft zuletzt am stärksten gewachsen ist. Doch der Konflikt mit | |
der Farc hat das Bruttoinlandseinkommen nur um 0,5 Prozent beeinträchtigt. | |
In Ihrem Roman „Der Mann mit der magischen Kamera“ schildern Sie das Leben | |
in Cartagena abseits der touristischen Stätten. Knüpfen Sie dabei an | |
Kindheitserinnerungen an? | |
Cartagena ist eine Stadt mit einer starken spanischen | |
Kolonialvergangenheit. Sie war einer der wichtigsten Knotenpunkte des | |
Sklavenhandels und hat eine große afrokolumbianische Bevölkerung. Im 19. | |
und 20. Jahrhundert setzte dann ein Verfallsprozess ein. Aber im | |
kollektiven Gedächtnis blieb dieses Postkartenimage der intakten | |
Kolonialstadt. Cartagena hat jedoch Bezirke mit hoher sozialer | |
Ungleichheit. In meinem Buch versuche ich dieses Cartagena zu zeigen, ein | |
Cartagena, das sich verändert und von der Figur des Fotografen Tony Lafont | |
in meinem Roman festgehalten wird. | |
Unterscheiden sich die Kolumbianer aus dem Landesinneren, die Cachacos, wie | |
sie die Costeños, also die Küstenbewohner, bezeichnen, in der Mentalität | |
von den Menschen aus Cartagena? | |
Die Unterschiede sind markant. Die Leute an der Atlantikküste sind | |
lebenslustiger, die aus den Kordilleren eher zurückhaltend. Die Regionen | |
und Temperamente brauchen einander. Ohne Costa wäre das Landesinnere | |
unvollständig und umgekehrt. Das wird auch in der Literatur oft | |
beschrieben. | |
Würden Sie von zwei Seiten einer Medaille sprechen? | |
Kolumbien ist ein Land mit vielen Gesichtern. Der große argentinische | |
Schriftsteller Jorge Luis Borges hat gesagt, Kolumbianer zu sein ist ein | |
Akt des Glaubens. Denn die nationale Identität wurde durch Grenzen | |
bestimmt, die das spanische Imperium gezogen hat. Man entdeckt tatsächlich | |
mehr Gemeinsamkeiten zwischen einem Costeño und einem Bewohner der | |
Dominikanischen Republik als mit einem Cachaco. Ein Mensch aus den Llanos, | |
den östlichen Tiefebenen, hat andere Interessen als ein Paisa, ein Bewohner | |
von Antioquia. Kolumbien ist ein Land mit vielen Regionen, die durch die | |
Geografie getrennt sind. Dadurch entstanden sehr ausgeprägte regionale | |
Identitäten. | |
Wie kommen diese unterschiedlich geprägten Regionen Kolumbiens heute | |
miteinander aus? | |
Es gibt viele Mythen um dieses Thema mit durchaus humoristischem Zugang. | |
Die regionalen Differenzen wiegen oft weniger schwer als die politischen. | |
Jeder Kolumbianer ist erst einmal Feindesland. Das gilt für die Regionen | |
wie für die einzelnen Menschen untereinander. So herrscht eine große | |
Rivalität zwischen Bogotá und der Peripherie. Die Costa war oft gezwungen, | |
ihre Produkte ins Landesinnere zu verkaufen statt an die nahegelegenen | |
Inseln. So entstand eine Kultur des Schmuggels. Das Zentrum schuf | |
Tatsachen, etwa dadurch, dass die Industrie immer weit weg von den Küsten | |
angesiedelt war. | |
Die kolumbianische Nation – eine Fiktion? | |
Diese gibt es nur, wenn die Nationalmannschaft spielt. Der Staat ist viel | |
kleiner als das Territorium. Ein Staat im Verständnis des 19. Jahrhunderts | |
hat sich bis heute noch nicht formiert. Das Land ist sehr fragmentiert. | |
Der Schriftsteller Óscar Collazos sieht Cartagena in einem Essay als | |
Zentrum von Tourismus und Prostitution. | |
Es kommen viele BesucherInnen und wie in jeder Hafenstadt blüht die | |
Prostitution. Wahrscheinlich ist Cartagena sogar ein Zentrum der | |
Kinderprostitution. Man hat versucht, das zu bekämpfen. Es geht um Kinder | |
zwischen 12 und 14 Jahren, die man oft in Discotheken antrifft. Viele Dinge | |
sieht man nicht, wenn man nicht nach 22 Uhr auf der Straße unterwegs ist. | |
Auf der Plaza de los Coches, dem ehemaligen Sklavenmarkt, geht es nach | |
Mitternacht ab. | |
In Kolumbien ist nach Nobelpreisträger Gabriel García Márquez eine neue | |
Generation von Schriftstellern groß geworden, die mit dem magischen | |
Realismus nichts zu tun haben wollen. War ein literarischer Vatermord | |
notwendig, dass sie aus dem Schatten des großen „Gabo“ treten konnten? | |
Das liegt hinter uns. Für einen Schriftsteller aus der Karibik ist es | |
natürlich nicht so leicht, denn die Costa ist ein magischer Ort. Für die | |
Generation vor mir war es vielleicht auch schwieriger, sich zu | |
emanzipieren. García Márquez war ein Gigant, oder wenn du so willst, ein | |
Monster der Literatur. Er hat sein eigenes Universum geschaffen. Heute gibt | |
es andere Themen und eine große Distanz zu „Gabo“. Es sind eher die | |
Europäer, die Lateinamerika immer noch durch die Brille des magischen | |
Realismus sehen. Das ist auch verständlich, denn die Bücher von García | |
Márquez haben sich überall wie auf dem deutschen Markt in Millionenauflage | |
verkauft. Es liegt also weniger in der Verantwortung der | |
lateinamerikanischen SchriftstellerInnen, sondern der europäischen | |
LeserInnen, die sich heute vom magischen Realismus emanzipieren müssen. | |
[2][Viele Literaten haben das hinter sich]. Für die Leserschaft ist das | |
aber bequem, weil es eine gewisse koloniale Sichtweise bedient. | |
Gibt es so etwas wie einen gemeinsamen Nenner der neuen Generation? | |
In der Postmoderne gab es eine Explosion an Themen und Stilen. Ich sehe | |
keinen dominanten. Thematisch geht es häufig um Gewalt, Drogenhandel, | |
Auftragskiller, Prostitution, Tourismus. | |
Gibt es gut drei Jahre nach dem Friedensabkommen zwischen Regierung und | |
Farc so etwas wie eine „Literatura postconflicto“? | |
Die wird es geben. Themen, denen man sich widmen sollte, sind die Wunden, | |
die der Konflikt hinterlassen hat, die Suche nach Verschwundenen oder die | |
Prozesse wegen Staatsverbrechen. | |
Ihr Thema ist das eher nicht? | |
Ich könnte darüber schreiben. In meinem jüngsten Buch, „Margarita por | |
debajo de los cerdos“ (noch nicht auf Deutsch erschienen), geht es um einen | |
Detektiv, der an der Grenze zwischen Verbrechen, Gewalt und Anständigkeit | |
wandelt. Es ist schwierig, da sauber zu bleiben. Überall lockt die | |
Korruption. | |
Krimis sind in Mode. | |
Weil sie es erlauben, über die kolumbianische Wirklichkeit zu schreiben, | |
und von vielen gelesen werden. Schon in meinem Roman „Un cadáver en la mesa | |
es mala educación“ geht es um Polizisten, die zwischen Gesetz und | |
Drogenhandel hin- und hergerissen sind. Das ist sehr wirklichkeitsnah, bei | |
der Polizei gibt es Informanten für die Drogenmafia. Es scheint mir ein | |
gutes Thema zu sein. | |
Die zum Verschwinden gebrachten Menschen waren in Kolumbien nie so ein | |
großes Thema wie etwa in Argentinien, Chile oder Guatemala? | |
Das ist seltsam, denn es gibt sehr viele. Die Medien und die | |
Intellektuellen haben dem Phänomen vielleicht nicht die nötige | |
Aufmerksamkeit gewidmet. In diesem Land der Paragrafenreiter gilt ein | |
Verbrechen nicht als solches, sofern die Leiche nicht aufgetaucht ist. Es | |
verbleibt in einem juridischen Limbo und die Angehörigen verbleiben in | |
ewiger Ungewissheit. Es gibt sehr viele Verschwundene, die mehr | |
Aufmerksamkeit vonseiten des Staats verdienen würden. Auch das Thema der | |
„falsos positivos“ ist nicht aufgearbeitet. Es ist abstoßend, wie die Armee | |
unschuldige Jugendliche ermordet hat, sie in Uniformen steckte und als im | |
Kampf gefallene Guerilleros präsentiert hat. | |
Wird diese Praxis heute fortgesetzt? | |
Die Zeitschrift Semana hat über eine Anregung des Generalstabs berichtet, | |
diese Praxis wiederzubeleben. Daraufhin soll der Befehl zurückgezogen | |
worden sein. Aber es ist schwierig zu sagen, was staatliche Politik und was | |
Übergriff einzelner Soldaten ist. Vor allem wenn wir an die vielen | |
demobilisierten Farc-Veteranen denken, die seit dem Friedensabkommen in | |
Kolumbien ermordet worden sind. | |
9 Aug 2020 | |
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Ralf Leonhard | |
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