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# taz.de -- Thriller „Los conductos“ auf Mubi: Reise durch die Finsternis
> Der Thriller „Los conductos“ von Regisseur Camilo Restrepo zeigt ein von
> Korruption beherrschtes Kolumbien. Er ist verstörend schön.
Bild: Die Hölle als Zeichen: Pinky (Luis Felipe Lozano) vor einem Siebdruck in…
Ein kleines Stück blaugestrichene Wand, der Rest tiefste Dunkelheit, aus
der schemenhaft ein Gesicht zu erkennen ist. Nicht mehr als Stirn und Nase
im Profil, bis es sich ganz ins Schwarz zurückzieht und verschwindet. Dann
ein Revolver, der sich aus dem Dunkel schiebt, geführt von einer Hand, hell
erleuchtet vor dem Blau der Mauer und einen Schatten auf den grauen Boden
werfend. Wie eine Ikone. Eine Drohung. Dann ein Schuss. Der Lichtkegel
einer zu Boden gefallenen Taschenlampe.
Mit diesen unvermittelten Bildern, abstrakt und irritierend, beginnt das
Spielfilmdebüt „Los conductos“ des kolumbianischen Regisseurs Camilo
Restrepo, und damit eine halluzinatorische Reise ins Herz der Finsternis
und heraus. Die Geschichte von Pinky.
Sie spielt an unwirtlichen Orten, in leerstehenden Fabriken und
Lagerhallen, auf Müllhalden und freier Wildbahn. Pinky bewegt sich darin
wie ein Aussätziger, ein wundes Tier, seit er vor einer Sekte geflohen ist,
der er jahrelang angehörte. Er lässt sich treiben, versucht wieder Fuß zu
fassen, baut sich ein Lager aus Karton. Sein Trauma betäubt er mit Drogen
und Techno aus seinen Kopfhörern.
Der Film beobachtet ihn dabei, schlaglichtartig, Erinnerungsfetzen tauchen
auf, an ermüdende Arbeiten, mit denen die Sekte finanziert wurde, an
Ausbeutung und Missbrauch. Und an den Führer, den alle nur „Padre“, Vater,
nannten, obwohl er kaum älter als die anderen war. Erst Schicht für Schicht
schält sich Pinkys Vergangenheit heraus und es ist dabei relevant, dass
nicht nur der Protagonist diesen Namen trägt, sondern auch der
Hauptdarsteller, auf dessen Leben dieser Film basiert, zumindest lose, und
das der Film weiterspinnt.
Restrepo hatte diesen Luis Felipe „Pinky“ Lozano vor Jahren kennengelernt,
als er gerade einem Kult entkommen und sehr verloren war, obdachlos und
drogenabhängig, mit einer ungeheuren Wut auf den Sektenguru, dem er den Tod
wünschte, ihn am liebsten selbst umbringen wollte. Restrepos höchst
eigenwilliges Filmprojekt setzt nun diesen Rachewunsch fiktional in die Tat
um, mit Pinky als Figur und Darsteller zugleich.
## Irreale Glücksversprechen
Er zeichnet damit auch das düstere Bild eines Landes, das seit Jahrzehnten
unter Armut, organisierter Kriminalität und Gewalt leidet und in dem
Kirchen und religiöse Bewegungen einen großen Zulauf haben. Vor allem die
Ärmsten, in den vom Staat aufgegeben Vierteln, wollen in den irrealen
Glücksversprechen eine Alternative zur hoffnungslosen Realität sehen und
werden dabei immer wieder enttäuscht.
„Los conductos“ ist zugleich eine wütende [1][Abrechnung mit einem
korrupten System] und eine Reflexion über die Grenzen des freien Willens in
einer Gesellschaft, in der das Individuum letztlich nichts wert ist.
Wahrscheinlich muss man Autodidakt sein wie der 1975 geborene Restrepo, um
einen derart enthusiastisch Konventionen sprengenden Film zu drehen,
zumindest ist es hilfreich, von keiner Filmschule versaut zu sein. Er
selbst nennt sein Schaffen selbstironisch „amateur filmmaking“. Doch auch
wenn seine Filmpraxis selbsterlernt ist, fußt seine Ästhetik auf einem
Kunststudium in Kolumbien und Europa.
Der inzwischen in Paris lebende Restrepo arbeitete zunächst als Maler und
Fotograf, geriet aber nach eigenen Angaben in eine Krise und zerstörte
einen Großteil seiner Arbeiten. Er schlug sich mit Hilfsjobs durch, vom
Ersparten kaufte er sich schließlich eine Super-8-Kamera und entdeckte
damit das geeignete Medium, mit dem er gestalten und sich ausdrücken
konnte. Sein Sinn für Farben und Formen, für Bildkompositionen und
Kontraste, das eigenwillige Spiel mit Abstraktion und Konkretem, sind hier,
wie schon in seinen Kurzfilmen, in jedem Moment zu spüren.
## Auf der Berlinale ausgezeichnet
„Los conductos“ feierte [2][im vergangenen Jahr auf der Berlinale
Weltpremiere, in der gerade neugegründeten Wettbewerbssektion Encounters],
in der Produktionen gezeigt werden, die jenseits klassischer Wege
entstanden sind. Restrepos Film wurde prompt als bestes Regiedebüt
ausgezeichnet und seitdem auf zahlreichen internationalen Festivals
gezeigt.
Nun ist er exklusiv auf Mubi, dem kuratierten Streamingdienst für
Filmkunst, zu sehen. Und wirkt mit seinem ästhetischen Überschuss gerade
auf einer Onlineplattform so faszinierend. Weil nicht alles in einer
handlungsfokussierten Lesart aufgeht, ein Geheimnis bleibt, das über das
Geschehen hinausweist, sich nicht auflösen lässt.
Im Meer der algorithmisch berechneten Perfektion der Produktionen von
Amazon, Netflix & Co erscheint „Los conductos“ wie ein rau-kantiger
Fremdkörper.
Auch im physischen Sinne, denn den auf 16-mm-Kodakfilm gedrehten Bildern
ist der chemisch-mechanische Entstehungsprozess eingeschrieben, sie haben
mit ihrer analog-körnigen Anmutung und all den Kratzern und Fusseln und
kleinen Fehlern, die vor allem in den dunklen Momenten sichtbar werden,
etwas Organisches, fast Haptisches. Und finden auf narrativer Ebene ein
Echo, wenn die Sektenmitglieder im Siebdruckverfahren auf T-Shirts die
Logos internationaler Sportmodelabels nachahmen, immer und immer wieder,
ein gerahmter Ausschnitt nach dem andern, jedes fast unmerklich ein
bisschen anders.
## Ausbeuterische Maschinerie
Restrepo erzählt Pinkys langes Straucheln am Abgrund ebenso elliptisch wie
ökonomisch. Die ausbeuterische Maschinerie und das kriminelle Netzwerk
werden nur angedeutet, symbolisch aufgeladene Momente stehen oft scheinbar
für sich, manches überdeutlich, anderes leicht zu übersehen, und sorgen
bewusst für Irritationen und Orientierungslosigkeit.
So therapeutisch oder kathartisch dieser Prozess für seinen Hauptdarsteller
gewesen sein mag, wie es Restrepo in Interviews andeutet, unterwandert der
Film die Identifikation mit seinem Protagonisten, schafft durch die
artifizielle Inszenierung eine Distanz, die den Blick öffnet.
Er verbindet dabei Dokumentarisches, das Vorleben Pinkys ebenso wie reale
Schauplätze in und um Medellín, mit fiktionalen Elementen und Mythen wie
dem 1641 erschienenen Fabelmärchen „Der hinkende Teufel“ des spanischen
Renaissance-Dramatikers Luis Vélez de Guevara, in dem der Teufel einem
jungen Mann die Augen vor der Scheinheiligkeit der Welt öffnet. Die Hölle
taucht, wie ein Zeichen, in den grafischen Flammen der großflächigen
Siebdrucke auf, als sei ihnen selbst im Diesseits nicht zu entkommen.
## Ablehnung von Religion und Idolen
Auf diese Desillusionierung spielen ebenso die Verweise auf den
Schriftsteller und Dichter Gonzalo Arango, der in den späten 1950er Jahren
mit dem Nadaísmo eine kolumbianische Philosophie- und Literaturbewegung
begründete, die sich zwischen Sartres Existenzialismus und Nietzsches
Nihilismus bewegte, Religion und Huldigungen von Idolen ablehnte und damit
direkt auf die hoffnungslosen Verhältnisse in seinem Land reagierte.
Auch das Motiv der Waffe mit dem eingeritzten „Esta es mi vida“ – dies ist
mein Leben – stammt aus einem seiner Texte, einer düsteren Eloge auf
„Desquite“ (Vergeltung), einen durch Soldaten ermordeten Banditen, der in
den 1950ern von vielen Unterdrückten als Held gefeiert wurde.
Die letzten Zeilen daraus bilden das bittere Fazit dieses verstörend
schönen Films. „Ich frage mich: Wann wird Kolumbien aufhören, seine Söhne
zu töten, und ihre Leben wieder lebenswert machen? Wenn Kolumbien diese
Frage nicht beantworten kann, prophezeie ich Unglück: Rache wird
wiederkehren und die Erde wird erneut überfluten mit Blut, Schmerz und
Tränen.“
5 May 2021
## LINKS
[1] /Autor-Pedro-Badran-im-Gespraech/!5701694
[2] /Die-Berlinale-DirektorInnen-im-Interview/!5662707
## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
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