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# taz.de -- Die Berlinale-DirektorInnen im Interview: „Berlin ist eine politi…
> Die Berlinale hat eine neue Leitung. Mariette Rissenbeek und Carlo
> Chatrian im Gespräch über „dunkle Filme“ und die NS-Vergangenheit von
> Alfred Bauer.
Bild: Die neue Berlinale-Leitung: Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian
taz: Frau Rissenbeek, Herr Chatrian, zur 70. Berlinale wird es auch unter
[1][Ihrer Leitung] den langjährigen Sternregen-Trailer geben, das Plakat
hingegen ist auffällig schlicht gehalten. Welche Änderungen streben Sie
beim Aussehen der Berlinale an?
Mariette Rissenbeek: Eigentlich mögen wir beides sehr gern. Der bisherige
Trailer ist jetzt mit noch mehr Sternen, weil es ja 70 Jahre sind, er wird
also opulenter. Das Plakat ist vielleicht ein bisschen nüchterner. Wir
mögen die Gegensätze.
Carlo Chatrian: Wenn Sie nach einer Verbindung von Trailer und Plakat
fragen, dann würde ich sagen, dass sie in der Art und Weise besteht, wie
die 70 geschrieben ist. Sie ist sehr leicht, wir haben keine fette Type
verwendet. Sie ist aber sehr präsent, ohne zu gewichtig zu sein. Es ist für
mich mehr eine Startrampe. Wir wollen einerseits Teil der Geschichte der
Berlinale sein, andererseits die Jubiläumsausgabe als etwas sichtbar
machen, das in die Zukunft weist und nicht bloß zurückschaut.
Die Berlinale gilt ihrer Geschichte nach als politisches Filmfestival.
Kürzlich haben Sie allerdings gesagt, Herr Chatrian, dass es im Kino mit
der Subversion vorbei ist. Welche Art von politischem Kino erscheint Ihnen
noch möglich?
Chatrian: Die Frage lässt sich auf verschiedene Weise beantworten. Zunächst
einmal ist die Berlinale ein politisches Filmfestival, weil Berlin eine
politische Stadt ist. Es gibt hier ein sehr starkes Bewusstsein dafür, dass
jede Entscheidung von Bedeutung ist. Einen Film hier zu zeigen, hat andere
Konsequenzen, als ihn auf dem Lido an der Riviera zu zeigen. Der
Hintergrund der Leute, die den Film sehen, ist ein völlig anderer. Wenn Sie
hingegen danach fragen, warum wir bestimmte Filme ausgewählt haben und
andere nicht, lautet meine Antwort ganz anders. Denn es geht mir bei der
Auswahl nicht darum, ob ein Film bestimmte politische Fragen behandelt. Für
mich ist Kino dann politisch, wenn ein Film sein Publikum dazu auffordert,
die eigene Sichtweise zu ändern.
Im Wettbewerb haben Sie viele „dunkle“ Filme angekündigt. Gab es nicht
genug gute Komödien?
Chatrian: Nun, wir haben auch Komödien. Viele der Filme sind bei Nacht oder
in der Dämmerung gedreht, weil sie mit der dunkleren Seite der Menschheit
zu tun haben, aber auch, weil die Nacht filmisch interessanter ist. Wobei
einige Filme wie Mohammad Rasoulofs Wettbewerbsfilm „There Is No Evil“ am
helllichten Tag in der Wüste spielen. Doch was ich mit dem Wort auch
meinte: dass einige der Regisseure meiner Meinung nach etwas von der Sorge
vermitteln, die ich um unsere Welt habe. Insofern ist das auch ein
politisches Statement, aber eben mein eigenes.
Im Programm der Berlinale gibt es etwas weniger Filme als sonst. Herr
Chatrian, Sie haben sogar angekündigt, dass Sie sich noch weniger Filme
vorstellen könnten. Was wäre Ihre ideale Vorstellung für das Programm?
Rissenbeek: Wir sind gar nicht so rangegangen, dass man gesagt hat: Das ist
jetzt die Anzahl der Filme, zu der wir hinwollen. Beim jetzigen
Auswahlprozess ist es so geworden, aber auch nicht gezielt beabsichtigt
gewesen. Man muss dabei immer bedenken, dass die Berlinale Sektionen wie
Generation hat, die es weder in Cannes noch in Venedig gibt, die ich aber
als sehr wesentlichen Bestandteil des Festivals empfinde. Aus unserer Sicht
ist es absolut wichtig, eine Sektion wie Generation zu haben, die junge
Zuschauer anspricht und viele Filme mit viel Publikum bietet.
Chatrian: Dass wir dieses Jahr weniger Filme haben, ist auch das Ergebnis
einer Diskussion, die wir mit den Leitern aller Sektionen führten. Wir
wollten und wollen am Festival nichts reduzieren, da wir auch den Wunsch
nach Kino für ein großes Publikum befriedigen müssen. Wenn wir aber einen
Film aussuchen, dann verschreiben wir uns dem auch und engagieren uns für
ihn. Wir müssen dann bereit sein, ihn zu unterstützen. Das hat diesmal dazu
geführt, dass wir ein bisschen weniger Filme zeigen.
Wie klein darf die Berlinale werden, um sich als Publikumsfestival noch zu
rechnen?
Rissenbeek: Wenn man ein Publikumsfestival in einer Stadt mit fast vier
Millionen Einwohnern ist, dann würde man das Publikum missachten, wenn man
eine sehr kleine Berlinale machen möchte. Man merkt das ja an den langen
Schlangen im Festivalzentrum. Die Online-Kontingente, die wir haben, sind
im Nu ausverkauft. Man sieht, dass ein Bedarf da ist.
Auch wenn das Programm insgesamt kleiner ausgefallen ist, gibt es mit
„Encounters“ eine neue Sektion. Wie unterscheidet sich deren
Herangehensweise, nach neuen künstlerischen Sprachen des Kinos zu suchen,
vom Ansatz der Sektion Forum?
Chatrian: Durch meine Arbeit als Festivalchef in Locarno bin ich auf eine
Reihe von Filmen gestoßen, die frisch und interessant waren und für die es
einen zwar kleinen, aber immer noch relevanten Markt gibt. Mir war klar,
dass die nicht in den Wettbewerb um den Goldenen Bären passen würden, weil
die Erwartungen des Markts andere sind. Das Panorama sollte wiederum die
Sektion bleiben, in der wir Filme zeigen, die die Sprache des Films auf
eine Weise verwenden, die dem Publikum leicht zugänglich ist. Dazwischen
war es für mich wichtig, die Sektion Encounters zu haben. Als Cristina Nord
zur Leiterin des Forums ernannt wurde, haben wir auch darüber gesprochen.
Da das Forum keine Wettbewerbssektion ist, sondern eher eine Plattform, hat
sie darin kein Problem gesehen. Vor allem gab es so für sie die
Möglichkeit, das Profil des Forums zu schärfen.
Warum, meinen Sie, wurde [2][die NS-Vergangenheit des ersten
Berlinale-Leiters Alfred Bauer] erst 2020 zu einem großen Thema? Und
welchen Auftrag haben Sie in dieser Angelegenheit dem Institut für
Zeitgeschichte erteilt?
Rissenbeek: Ich kann nur darüber spekulieren, warum bislang das Thema
Alfred Bauer noch nicht im Mittelpunkt gestanden hat. Als wir im Juni an
Bord gekommen sind, haben wir uns ja auch nicht als Erstes mit der Frage
beschäftigt, wer Alfred Bauer war. Insofern wäre es ungerecht, wenn ich
sagen würde, das hätten andere vor uns tun sollen. Wir haben jetzt das
Institut für Zeitgeschichte damit beauftragt, eine Expertise zu erstellen,
genauer zu forschen. Wenn ein Ergebnis vorliegt, werden wir überlegen, was
die nächsten Schritte sind. Das wird auch davon abhängen, was das Ergebnis
ist, wie man zu bewerten hat, wie sehr Bauer verstrickt war und was er zu
verantworten hatte.
Der Alfred-Bauer-Preis wurde ausgesetzt, dafür gibt es dieses Jahr einen
zusätzlichen Silbernen Bären.
Rissenbeek: Wir fanden, das 70. Jubiläum ist eine tolle Gelegenheit, um
einen extra Jurypreis zu ermöglichen. Die Idee fanden wir hervorragend,
weil wir auch nicht möchten, dass wir weniger Preise vergeben.
Hatten Sie mit den [3][kritischen Reaktionen auf die Ernennung von Jeremy
Irons als Jurypräsident] gerechnet?
Chatrian: Natürlich nicht. Als wir überlegten, ihn zu ernennen, dachten wir
in erster Linie an seine Arbeit, die ihn zu einem sehr guten
Jurypräsidenten macht. Die Charaktere, die er gespielt hat, sind sehr
vielfältig, und die Filme sind [4][oft im guten Sinne provokativ]. Wir
waren uns seiner Statements bewusst, in den meisten Fällen hatte er diese
aber schon zurückgenommen. Wir haben mit ihm gesprochen, dabei war mir
besonders wichtig, dass er meinte, er freue sich darauf, mit den anderen
Juroren zu diskutieren. Für mich deutet dies auf eine offene Haltung und
nicht auf jemanden mit einem geschlossenen ideologischen Weltbild.
19 Feb 2020
## LINKS
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[3] /Berlinale-Jurypraesident-Jeremy-Irons/!5653995
[4] /Berlinale-Jurypraesident-Jeremy-Irons/!5652513
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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